CV. Brief

An Fanny

[86] Ich wundere mich sehr, meine Theuerste, daß Du mich so lange ohne Nachrichten läßt. – Doch keine Vorwürfe! – Vielleicht kreuzzen sich unsere Briefe, oder Du hast Geschäften, welche Dich abhalten. – Freue Dich mit mir, beßte Fanny, jenes unglükliche Mädchen, von dem ich Dir im lezten Briefe sprach, ist gerettet! – Sie ruht nun im Schoose ihrer ausgesöhnten Familie! – Dir Allgütiger! sey dafür ewiger Dank gesagt, daß Du mir Gelegenheit gabest, einem meiner Nebenmenschen zu dienen. – O! dieses selige Gefühl hält mich izt für alle Leiden meines Lebens schadlos! – Venedig soll mir um dieses Glüks willen nie aus meinem Andenken schwinden, so wenig ich sonst hier Unterhaltung für Kopf und Herz fand. – Selbst im Schauspiel genoß ich keine Geistes-Nahrung, weil es so äußerst schlecht bestellt ist. – Ton- und Tanzkunst ausgenommen, sind die hiesigen Schauspiele keinen Heller werth. – Elende Harlekinaden, Marionettenspielereien, Possenreissereien, damit wird der Zuschauer bis zur Langeweile eingeschläfert. – Ich habe keine einzige Komödie gesehen, deren Verfasser mit gesundem Kopfe geschrieben hätte. – Goldoni's Burlesken werden hier so zotenmäßig vorgestellt, daß man es dabei nicht aushalten kann. Trauerspiele hat man fast gar keine, und die wenigen schlechten, die man hier giebt, werden durch frazhafte Episoden bis zum Ekkel heruntergesezt. – Man möchte toll werden, wenn man die steife, empfindungslose Opernsängerin wie eine Dratpuppe in einem Trauerspiel agieren sieht. – Sie arbeitet so viel mit ihren Händen, deklamiert so widersinnig, als ob Kopf und Herz mit dem kalten Fieber behaftet wären. – Eine hiesige Opernsängerin ist so[86] sehr Maschine, daß sie sich blos hinter der Gardine hören lassen muß, wenn sie nicht will, daß fast alle Sinnen des Zuschauers, außer dem Gehör, ihre Ankläger werden. – Was kümmert mich eine helle Kehle, wenn ihre Besizzerin nicht die Kunst versteht, die Töne durch Seelen-Affekt in mein Herz zu gießen? – Ein bloses musikalisches Instrument thut mehr Wirkung auf die Empfindung der Zuhörer, weil das Auge dabei keine Foderung machen darf. – Ich höre hier allen Opernsängerinnen mit geschlossenen Augen zu, um mir den Aerger über ihre hölzerne Geschmaklosigkeit zu ersparen. – Schade ist es für eine so feurige Nazion, daß ihr die noch nöthige Kultur fehlt; sie könnte große Fortschritte in der Schauspielkunst machen, wenn sie durch Lektur und gute Anleitung geführt würde. Ich habe diese Bemerkung in ihren Balletten gemacht, die mir noch am beßten gefielen. – Die Lebhaftigkeit giebt ihr einen so feurigen Schwung der Affekten, daß ich ihre leidenschaftlichen Pantomimen mit Vergnügen bewunderte. – Uebrigens sind die Sitten dieser Leute noch fast verdorbener, als bei uns. – Die Mutter einer Schauspielerin wuchert ganz öffentlich mit der Unschuld ihrer Tochter, und bewahrt ihr Kind den Meistbietenden auf. – Bei jedem Theatereingange findet man eine Menge von andern Freudenmädchen, und zur Seite des Schauspielhauses ganze Reihen von Bordellen. – Die Thüren sind zu ebener Erde, eine jede davon ist numerirt, und mit einem Marienbildchen, nebst einem kleinen Wachslichte geziert, welches alle Sonnabende von der Nimphe angezündet wird. Diese Kreaturen stehen am Eingang der Thüre, um die Vorübergehenden zur Verführung zu lokken; und da die Gassen sehr enge sind, so schlüpfen viele Mannspersonen (vermuthlich aus Furcht zerdrükt zu werden) in diese unreinen Winkel. - Wenn aber eine von diesen Nothhelferinnen des Lasters ohne Bekehrung schnell dahinstirbt, so wird sie in einem Sak ins Meer geworfen. – Jede[87] davon trägt einen Dolch zur Vertheidigung bei sich. Man hat mich versichert, daß es Männer gegeben habe, die nach Befriedigung ihrer viehischen Begierden ihre Raserei so weit aus Abscheu getrieben hätten, daß sie ihre Gehülfin auf der Stelle ermordeten. – Bisweilen sezt es wegen Bezahlung oder Dieberei Streitigkeiten ab, daß man schon mehrmalen dergleichen Weibsleute oder Mannsleute todt antraf. – Was nun die Einrichtungen ihrer Gesundheits- Umstände betrift, so soll man in Berlin weit bessere getroffen haben. – Die hiesige Polizei mischt sich nicht so scharf in diese einzelnen Umstände, und überläßt es dem verdorbenen Geschmak eines Jeden sich der Gefahr auszusezzen. – Gerade ruft mich mein Vetter zu Tische. Nimm also diesen eiligen Kuß von


Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 86-88.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen