XCV. Brief

An Fanny

[50] Meine Beßte! –


Vor einigen Tagen hat man mir auf die lezten Pulsschläge gewartet! – Daß Krankheit in mir lag, mußt Du aus[50] meinem lezten Briefe schon gemerkt haben. – Daß es aber so weit in dieser Krankheit mit mir kommen würde, hätte ich selbst nicht geglaubt. – Kaum war der Brief aus meinen Händen, so überfiel mich ein unüberwindlicher Menschenhaß! – Ich floh alles im ganzen Kloster, gieng nicht zum Tische, und saß ganze Täge allein auf meinem Zimmer. Von frühe bis Abends dachte ich in einer unbeweglichen Stellung blos der Schröklichkeit meines Schiksals nach! – Selbst die Nonnen durften es nicht wagen, meine stille Schwermuth zu stören. Ich verriegelte mit der größten Entschlossenheit meine Thüre, und blieb einstens einen Tag lang ohne Nahrung. – Sie schrieen und pochten umsonst. – Ich blieb troz ihrem Gelärme fest auf meinem Stuhl, wie angenagelt, und hörte aus Uebermacht des Grams nicht weiter auf ihr Geschrei. – Endlich entschlossen sie sich vermittelst einer Leiter in mein Zimmer zu steigen, weil sie mich für todt hielten. – Kaum aber erblikte ich am Fenster den Kopf einer Nonne, so brach auch auf einmal meine schlummernde Wut los!!! Sie hatten Mühe mich von Gewaltthätigkeit abzuhalten! – Ich pakte sie an, aber man bemächtigte sich meiner! – Meine gallsüchtige Raserei stieg von Minute zu Minute, bis zu einem Grad, daß mich die Nonnen wirklich an Ketten legen wollten! – Der eilends beschikte Arzt war während dieser Zeit auch gekommen, und verbot den Nonnen ihre fürchterliche Unternehmung. – Schon hatten diese Unbesonnenen meine Hände gefesselt, und eine blaurothe Farbe auf meinen schwachen Knochen bewies die Schwere dieser drükkenden Eisen. – Der Arzt zögerte izt nicht lange, mir zwo Adern auf einmal zu öffnen, und lies das sprudelnde Blut so lange herauslaufen, bis Kraftlosigkeit meine Raserei entwaffnete! – Ohnmächtig sank ich dann in seine Arme; und Dank sey es seiner Sorgfalt! bald erhielten meine Sinnen wieder ihre vorige Richtung. – Dieser Mann war bescheiden genug,[51] nicht in das Geheimnis meines Kummers zu dringen, ob er gleichwohl eine starke Gemüthskrankheit in mir entdekte. – Er schrieb sogleich durch einen Expressen an meinen Oheim. – Was? – das weis ich bis auf die jezzige Stunde noch nicht. Zween Täge darnach kam der Bote zurük, und stellte mir ein Briefchen von meinem guten Oheim zu, worinnen er mir schrieb, daß ich mich zu Herstellung meiner Gesundheit entschließen möchte, eine Lustreise zu unternehmen. Die Wahl einer Stadt, in Italien oder Frankreich, überlies mir dieser gefühlvolle Mann. – Doch wäre ihm das erste Land weit lieber, weil er mich dort Anverwandten empfehlen könnte, u.s.w. – Freudig dankte ich izt dem gütigsten der Menschen für diesen neuen Beweis seiner Liebe, und beschäftigte mich von nun an mit Reiseanstalten. Die Nonnen hatten Befehl, mir in der Eile für ein Dienstmädchen zu sorgen, und es dauerte nicht lange, so brachten sie mir zu dieser Absicht eine etwas ältliche Figur aufs Zimmer. – Das Gesicht dieses Mädchens gefiel mir ganz und gar nicht, aber die gute Empfehlung der Nonnen und meine Eile machten bald alle Schwierigkeiten vergessen. In etlichen Tagen reise ich nebst ihr von hieraus mit dem Postwagen nach Venedig. – Ein kühner Entschluß für meine Jugend, nicht wahr? – Aber doch nicht zu kühn gegen meine Grundsäzze, die mir auch außer den Mauern eines Klosters für alles bürgen. – Du weist übrigens, daß ich die italienische Sprache hinlänglich spreche, um durchzukommen; auch meine Börse hat der gute Oheim in den nöthigen Stand gesezt; und nun fehlt mir nichts als die völlige Herstellung meiner Gesundheit, um Dir bald eine umständliche Reisebeschreibung zuschikken zu können. – Lebe indessen wohl, meine ewig geliebte Freundin, und nimm hin diese Küße auf Abschlag, bis deine Amalie wieder nach Teutschland zurükkehrt! –[52]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 50-53.
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