L. Brief

[91] Gerade zehn Uhr, und eben hörte ich auf mit aller Begeisterung an Deiner Philosophie zu deklamiren, dieser Aufsaz ist gar zu herrlich geschrieben, ich kann ihn nicht genug lesen! – Alles ist jezt Geist, Feuer und Seele in mir! – Meine Nerven sind zu sehr gespannt, mein Blut zu stark in Wallung, als daß ich jezt schlafen könnte. – Ich muß diese Gefühle mit Dir theilen, laß mich, Liebchen, noch ein Bischen mit Dir plaudern. – –

Gestern Abend um diese Zeit lag ich an Deinem Busen, genoß alle Wonne, bis der dumme Zufall, wo wir glaubten von Schark belauscht zu seyn, uns beide schrökte. – Dank Dir, Trauter, für den Kummer, den Du um meinetwillen trugst, ich will Dir Deine Sorgfalt gewiß wieder vergelten. –

Ich habe heute so wenig mit Dir tändeln können, weil mein Mädchen Arbeitshalber immer um uns seyn mußte, böse kannst Du über solche Zufälle nicht seyn, denn dazu schlägt Dein Herz zu rein, auch weißt Du recht gut, daß einstens andere Zeiten kommen werden, wo aller Zwang aufhört. – – Wir sollten uns eigentlich keinen Zwang anthun, dann noch hat kein Laster unsern Umgang beflekt. – –

Aber es ist nun einmal schon so in der Welt, Redliche müßen sich verkriechen, damit Niederträchtige desto freier sündigen können. – Schark war heute Abend wieder in einer sehr lüsternen Laune, mein schlimmes Kammermädchen foppte ihn darüber mit der einfältigsten Miene, das Mädchen hat Wiz genug, ihm seine Wenigkeit fühlen zu laßen. –[91] Doch was kümmert mich Schark, laß Dich lieber dafür recht warm küßen von Deiner

Nina.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 91-92.
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