XII.

[100] Herr Stark, der Sohn, war mit seinen Anstalten zur Abreise bis auf's Einpacken fertig; er war nur noch unschlüssig, wie er Abschied nehmen solle. Heimlich sich aus dem väterlichen Hause wegzuschleichen, in welchem er kein anderes Andenken, als an geleistete gute Dienste, zurückzulassen sich bewusst war, fiel ihm nicht ein; auch legte ihm sein Herz die Verbindlichkeit auf, eh' er ginge, seinem Vater für die erhaltenen vielen Liebesbeweise so ehrerbietig als zärtlich zu danken. Er hatte sich eine Art von Anrede ausgedacht, die dem Alten gleich sehr die Festigkeit und Unabänderlichkeit seines Entschlusses, als die rechtschaffnen, kindlichen Gesinnungen eines Sohnes beweisen[101] sollte, den er so hartherzig aus seinem Hause stiesse. Die Ausdrücke, womit er besonders den letzten Zweck zu erreichen hoffte, waren die gewähltesten, die er hatte finden können; und beim Zusammensetzen derselben war ihm eine Menge Thränen entflossen, die insoferne wahre Freudenthränen waren, als sie ihm für unverkennbare Beweise des vortrefflichsten Herzens galten. Indessen ward, schon bei dieser Vorbereitung, dem jungen Manne immer bänger und ängstlicher, je lebhafter in seiner Einbildung die Züge des ehrwürdigen väterlichen Gesichts hervortraten; und als er sich endlich zusammennahm, um wirklich sein Wort an den Mann zu bringen, so gerieth dies so äusserst übel, dass der Alte keinen geringen Schreck davon hatte.

Die ersten Worte der Anrede: »Mein[102] lieber« – kamen so ziemlich heraus, und ein Mann von etwas schärferm Gehör, als Herr Stark, mögte sie haben verstehen können; dann aber gerieth der Redner plötzlich in so ein Stottern, Zittern und Erblassen, dass der Alte, der von den Ursachen dieser Erscheinung keinen Verdacht hatte, mit grosser Beängstigung auffuhr, dem Sohne kräftigst unter die Arme griff, und durch sein Rufen um Hülfe das ganze Haus auf die Beine brachte. Das eigne Zittern, das bei dieser Gelegenheit den Alten befiel, die Eile und Sorgfalt, womit er selbst einige dienliche Arzeneien, mit Allem was zum Einnehmen nöthig war, herbeischaffte, und die unablässigen liebreichen Fragen: wie dem Sohne jetzt sei? und wie der Zufall ihn angewandelt? machten es diesem, der nicht wenig dadurch gerührt ward, unmöglich,[103] von dem eigentlichen Grunde der Sache nur Ein Wort zu erwähnen. Lieber bestätigte er den Alten in der Voraussetzung, dass eine Lieblingsspeise, wovon des Mittags zu reichlich genossen worden, an dem ganzen, übrigens unbedeutenden, Zufalle Schuld sei, und liess sich eine lange, nachdrückliche Ermahnungsrede gefallen, deren Inhalt das Lob der Mässigkeit war.

Da er wohl sah, dass es mit dem mündlichen Vortrage durchaus nicht gehen würde, so entschloss er sich nun zu schreiben, und eh' er in den Wagen stiege, den Brief an Monsieur Schlicht, einen alten invaliden Handlungsdiener, zu geben; der, nach geschwächtem Gesicht und Gedächtniss, in dem Hause des Herrn Stark eine Art von Haushofmeister vorstellte, sich zu allerhand kleinen Geschäften[104] willigst gebrauchen liess, und, trotz seines wunderlichen Wesens, das Vertrauen der Eltern, aber noch mehr der Kinder, in hohem Grade besass. –

Ein andrer peinlicher Abschied, den Herr Stark unmöglich anders als persönlich nehmen konnte, weil ein schriftlicher nach dem bisherigen engen Verhältniss, allzukalt würde geschienen haben, war der von der Witwe.

Die gute Frau befand sich eben in einer sehr beunruhigenden Lage. Ein harter, ungestümer Gläubiger, der an das Lykische Haus eine zwar nur unbeträchtliche Forderung hatte, bestand durchaus auf Befriedigung; aber die Casse hatte schon zu ansehnliche Zahlungen geleistet, um auch noch diese leisten zu können. Die Witwe wusste, dass, wenn alle aussenstehenden sichern Schulden eingegangen[105] und dadurch die fremden Forderungen völlig getilgt wären, ihr nur wenig zu ihrem eigenen und ihrer Kinder Fortkommen übrig bliebe; sie wusste, dass auch dieses Wenige unausbleiblich verloren gehen, und zu dem Elende der Armuth noch die Schande eines öffentlichen Bruchs hinzukommen würde, wenn das Beispiel von nur Einem Gläubiger alle übrigen ermunterte, ohne Zeitverlust auf sie einzubrechen. Der natürlichste Weg, aus dieser Verlegenheit herauszukommen, war der, sich an ihren so dienstfertigen und zu Diensten dieser Art durch sein Ehrenwort sogar verpflichteten Freund zu wenden; auch konnt' es kein Hinderniss für sie seyn, dass die Entdeckung ihrer Noth in der That nur eine versteckte Bitte um thätigen Beistand war: denn niemand wusste so gut als Herr Stark,[106] dass bei den Vorschüssen, die er ihr etwa machen könne, nichts zu verlieren stehe. Sie setzte sich also nieder, ihn um seinen, freundschaftlichen Rath zu ersuchen; allein sie brachte kein Wort aufs Papier: ein noch nie gefühlter, unüberwindlicher Widerwille zwang sie, von ihrem Schreibtische wieder aufzustehen. So ging es ein, so ging es mehrere Male.

Endlich fiel natürlicher Weise die Aufmerksamkeit der Witwe von ihrer äussern auf ihre innere Lage; sie befragte sich selbst wegen der Ursache eines Widerwillens, den wenigstens ihr Freund durch sein Betragen nicht verschuldet haben konnte, da er immer die Güte und die Gefälligkeit selbst gewesen. Sollte sie die Schuld etwa bloss in ihrer Bescheidenheit, in dem Gefühle suchen, dass es empfangene Freundschaftsdienste sehr schlecht[107] erkennen heisse, wenn man so leichtsinnig bereit sei immer neue zu fordern? Ihr innres bess'res Bewusstseyn überzeugte sie, nicht zwar von der Falschheit, aber doch von der Unzulänglichkeit dieser Erklärung. Sie ward endlich zu einem Geständniss genöthigt, welches ihr, so einsam sie war, vor Scham das Blut in die Wangen jagte; zu dem leisen, unwillkommnen Geständniss: dass sie ihren Freund mit etwas zärtlichem, als bloss freundschaftlichen Augen betrachte, und dass sie nur darum, weil sie ihn liebe, ihm so ungern in ihrer Blösse erscheine. Ihre nach Entschuldigung umherspähende Selbstliebe fand indess den Grund dieser Leidenschaft – die sie zwar aufs äusserste bekämpfen zu müssen einsah – nicht allein verzeihlich, sondern selbst lobenswürdig: dankbare Empfindungen, und[108] mehr noch für die ihren kleinen Waisen erwiesene Liebe und Achtung, als für alle ihr selbst erzeigte grosse, nie zu vergeltende Gefälligkeiten, hatten ein Herz verstrickt, das sich noch immer jeder guten und edlen Empfindung ohne Rückhalt hingegeben hatte.

Diese nur eben geendigte Selbstprüfung gab der Miene der Witwe, als Herr Stark hereintrat, eine Schamhaftigkeit und Verlegenheit, ihrem Tone eine Sanftheit und Weichheit, wo durch sie einem Manne, der ihr ohnehin schon so sehr ergeben war, äusserst reizend erscheinen musste. Er forschte nach der Ursache ihres kränklichen Aussehens und ihrer Blässe; sie schlug voll Verwirrung die Augen nieder: – Er bat, wenn sie irgend einen geheimen Kummer nähre, sich ihm mitzutheilen, und seine Dienste, falls er ihr[109] nützlich seyn könne, nicht zu verschmähen; sie dankte ihm mit inniger Rührung, aber ohne den Muth zu haben, mit ihrem dringenden wichtigen Anliegen herauszugehen: – Er gestand ihr die Absicht worin er komme, und dass er nichr lange mehr so glücklich seyn werde, ihr seine Dienste persönlich anzutragen; sie war sichtbar erschrocken, forschte nach den Ursachen eines so unerwarteten Entschlusses, bat ihn, wenn es irgend möglich sei, davon abzustehen, und klagte, da ihr Bitten vergeblich war, mit nassen Augen ihr Schicksal an, das sie, nach so mancherlei harten Prüfungen, nun auch ihres besten, ihres einzigen Freundes beraube. – Ohne Zweifel hatte das unglückliche Verhältniss mit ihrem Gläubiger, aus welchem sie nun durch Herrn Stark herausgerissen zu werden nicht[110] mehr hoffte, oder doch, bei seinen jetzt eintretenden eignen Bedürfnissen, auch nur von fern darauf anzutragen nicht die Dreistigkeit hatte, den grössten Antheil an ihrer Wehmuth; Herr Stark indessen, der von jenem Verhältniss nicht im mindesten unterrichtet war, konnte unmöglich anders, als ihre Rührung ganz auf Rechnung ihrer innigen Dankbarkeit, ihrer zärtlichen Freundschaft setzen: und durch diesen Irrthum stieg seine eigene Rührung zu einem so hohen Grade, dass er, nach mehrern fruchtlosen Versuchen ein Lebewohl hervorzustammeln, und nach nur Einem, aber desto heissern, Kusse auf ihre Hand, sich eiligst von ihr losreissen musste.

Er segnete, indem er auf die Strasse hinaustrat, die schon eingebrochne Dunkelheit, die es ihm erlaubte, unbemerkt[111] hinter seinem Tuche zu weinen. Dann erlauschte er vor dem väterlichen Hause den Augenblick, wo er ungesehen in sein Schlafzimmer entschlüpfen konnte, warf sich, nur halb entkleidet, aufs Bette, und erleichterte sein gepresstes Herz durch Seufzer und Thränen. Er ward von mancherlei zärtlichen Wünschen, von mancherlei schmeichelhaften Hoffnungen bestürmt; aber endlich gelang es ihm, durch die Rückerinnerung an seine ausgestandenen Leiden, sie alle von sich zurückzuweisen, und dadurch eine Seelenstärke und Entschlossenheit an den Tag zu legen, wie er sie, nach der sonstigen Weichheit seines gar zu guten Charakters, in sich selbst kaum gesucht hatte. Er sprang auf, zog noch diesen Abend den Reisecoffer aus seiner Kammer, öffnete Kasten und Schränke, und belegte alle Stühle[112] mit Wäsche und Kleidungsstücken, um sie am folgenden Morgen beim Einpacken sogleich zur Hand zu haben.

Nein! sagte er, während dieser Arbeit, zu sich selbst: wer nicht die Kraft hat, sich fest und unwandelbar zu entschliessen, der bleibt, was er zu bleiben werth ist: ein Sklave. – Ich habe angefangen; ich muss hindurch. – Mag es doch mein Vater nun mit Andern versuchen! Mag er es doch erfahren, was für ein Unterschied zwischen einem Diener und einem Sohn ist! Mag er es doch erfahren, und mich zurücksehnen so viel er will! Ich werd' ihm nicht kommen. – Hab' ich denn sonst keine Pflichten zu erfüllen, als nur gegen ihn? keine gegen mich selbst? –

Quelle:
Johann Jakob Engel: Schriften. Band 12, Berlin 1806, S. 100-113.
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