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[132] Wir nahmen den Weg hinten um das Dorf herum durch einen Feldweg auf den nahen Funkenbühl und von da weiter die langen Halden empor zu den tannbestandenen Höhen des Melzberges. Wir trugen weder Mantel noch Mantelkragen, nicht einmal eine Jacke, sondern jeder hatte sich um die Weste ein fest aus selbstgesponnenem Garn gewirktes Wams wie einen biegsamen Harnisch umgetan, worin man nie fror, aber zu allen Streichen gelenk war, fast mehr als in der Sommerbluse. Um leichter zu steigen, zogen wir die Schlittschuhe ab und banden sie auf den Schlitten.

Der Schnee lag, je weiter wir kamen, um so höher auf dem Boden; aber er war fest gefroren. Ein hoher Nebel hing über der Gegend und verschleierte den Himmel wie ein feines, graues, von der Hügelkette in die weite Fläche hinausgesponnenes Gewebe. Eine dunkelbraune, kleine Wolke kroch quer darüber, gerade wie eine Spinne, die über ihre Fäden füßelt. Unser Dorf war von da oben im weißen Schneekleid ganz anders als im übrigen Jahr anzuschauen. Die Häuser schienen verschoben, in ihrer Größe und Höhe verändert. Der Schnee, der auf allen Dächern mit der gleichen Farbe und Schwere ruhte, hatte alle Unterschiede sozusagen ausgewischt. Nur das Kirchendach, steil und hoch wie es war, ragte auch jetzt noch über die andern Dächer hervor. Die Luft war ruhig und kalt. Die fernen Gehölze in der Ebene trugen keinen Schnee[133] mehr und sahen verwaschen aus, ohne eine bestimmte Farbe. Je weiter wir über unser Dorf hinausschauten, desto grauer wurde die Farbe des Schnees, bis sie an irgendeinem unsichtbaren Saume mit dem grauen Himmel unlöslich verschmolz.

Jedoch, auf dies alles gaben wir jetzt wenig acht.

Nach langem erreichten wir endlich die Höhenwaldung. Zwischen den dichtgestellten Bäumen war der Schnee nicht hoch und nicht hart. Wie aus einer Stube wehte uns die warme Luft entgegen. Die Stämme dampften und rieselten von Feuchtigkeit, und der Duft ihrer harzigen Nadeln stieg uns kräftig in die Nasen. Mitunter fiel eine Handvoll Schnee von einem Ast herunter. Eine solche Bescherung traf Joseph ins Genick, so daß er aufschrie. Wie unbarmherzig lachte ihn Jakob aus!

Stets dämmeriger wurde es im Gehölze, immer stiller, immer feuchter. Wir mußten hintereinander gehn, so schmal war der Durchpaß. Theodor schritt voraus. Er allein hatte Kniestrümpfe an. Wir anderen schnallten die Hosen unten an den Schuhen mit einer Schnur, wovon wir immer die Taschen voll hatten, wasserdicht zu.

Nur die Fußtapfen eines einzigen Menschen gingen uns voraus. Wer mochte hier allein gegangen sein?

»Wenn jetzt Räuber kämen oder Zigeuner oder anderes Diebsgesindel!« machte Joseph.

»He! – Habt ihr gesehen, wie der Heireli erschrocken ist?« lachte Jakob.[134]

Ja, ich war bei dem Worte Diebsgesindel zusammengefahren, es ist wahr. Aber nicht vor den Dieben da außen in den Wäldern, sondern vor dem Diebe in mir hatte ich Angst.

»Beruhigt euch!« foppte uns zwei der heillose Kronenwirt, »das war wenigstens kein Mann, so kleine Schritte!« Er bog sich zu den Fußspuren nieder und versuchte dann, seine Schritte in die engere Spanne jener unbekannten Füße zu zwängen, was äußerst drollig anzusehen war. »Ach was, ich merke, das sind Mädchenschritte!«

Ich hatte mich indessen gefaßt und sagte zu Jakob: »Vor Dieben fürchte ich mich wahrlich nicht. Ja, ich glaube, es gibt Diebe, die gar nicht so schlecht sind.« Mir war, das Wort Dieb müßte von seinem garstigen Klang verlieren, wenn die Kameraden mir beistimmten. »He, was meint ihr?«

Theodor raffte eine Scholle Schnee auf und warf sie hintenüber, ohne zu beachten, wen sie treffe.

»Laß das bleiben!« drohte Jakob.

Theodor lachte nur.

»Was meint ihr also?«

»Jeder Dieb ist ein schlechter Kerl! Pfui doch!« Theodor spuckte verächtlich aus, stand dann aber doch still und prüfte recht bubenhaft, wie tief er in den Schnee gespuckt habe.

»Die Holzmarie stiehlt zum Beispiel,« rief Joseph.

Dieses freche, wilde und arme Mädchen genoß wirklich[135] den übeln Ruf, nicht bloß Obst und Holz im Freien, sondern auch mancherlei Geräte aus fremden Stuben gestohlen zu haben. Wieviel daran wahr war, wußte ich freilich nicht.

»Ja, die!« begann Theodor lustig, »sie stiehlt gar nicht so groß! Federn und Griffel etwa, und mir hat sie einmal einen Gummi stibitzt, den ich aber schon ganz abgerieben hatte. Mag sie ihn doch behalten! Das ist alles nicht so schlimm! Aber es geht doch nur darum schon kein Mädchen mehr mit ihr, und niemand traut ihr über den Weg.«

»Möchtest du nun eine solche Schwester haben, Heireli?« fragte mich Joseph triumphierend.

Die Blutröte stieg mir ins Haar hinaus. Sie war eine Diebin, ich war ein Dieb, waren wir da nicht Geschwister?

»Friß sie nur nicht gleich, Kleiner,« sagte Jakob darauf zu Joseph, und sein blaues Auge blitzte wunderbar gescheit auf. »Es kann jemand stehlen und doch gar nicht verdienen, daß man nach ihm speit. Ich kann mir das leicht vorstellen.«

»Nicht wahr? Ja, ja,« rief ich erfreut über diese Hilfe. Es wurde mir wieder ganz leicht, so wenig brauchte mein Gewissen, um sich zu beruhigen.

»Wenn zum Beispiel einer am Verhungern ist,« setzte Jakob stirnrümpfend fort, »und gerade neben Theodors Haus vorbei will, wo sie Brot backen und auf dem Gesimse verkühlen. Die Bettlerin klopft[136] und bittet um ein wenig Brot. Da jagt man sie weg!«

»Das tun wir nicht,« widersprach Theodor eifrig.

»Man jagt sie weg,« fuhr Jakob boshaft fort, »Theodor schlüge ihr die Türe vor der Nase zu.«

»Nein, – oder? Vielleicht! Je nachdem!« antwortete Theodor und warf die volle Lippe auf. Es dünkte ihn plötzlich großartiger, kein Mitleid zu verraten.

»Da geht das Weib um die Ecke und sieht die Brote auf dem Gesimse. Wie sie dampfen! Der Geruch – ha! –«

»Du meinst euere ›Kronenbrötchen‹, Mehlbube,« höhnte der Walomer wütend.

»Der Geruch,« fuhr Jakob beharrlich fort, »steigt dem Weibe in die Nase, – Bauernbrot! – potztausend, das ist doch dreimal besser als das Gebäck der ›Mehlbuben‹ –« Hier fiel der Rex aus der Rolle. Nicht imstande, den Schimpf länger zu ertragen, versetzte er mit der Faust dem vorausgehenden Theodor einen schweren Stoß in die Seite.

»Zurückgeben ist Gott lieb!« sagte der Walomer und erwiderte den Stoß. Aber Rex wich geschickt aus, und Theodor fiel durch die eigene Heftigkeit gerade vor Jakobs Füßen aufs Knie. Einen Augenblick schwankte der Kronenwirt, ob er sich auf ihn werfen wolle. Aber er bezwang sich; diesmal wollte er anders siegen, mit Witz und Geist.

»Also die Bettlerin sieht das Brot, flink wie alle[137] Diebe nimmt sie gleich das schönste vom Laden und streicht damit um die Ecke. Nun hat sie drei Tage zu essen. Sonst wäre sie verhungert. Das ist eine ehrliche Diebin gewesen, sie mag wohl Holzmarie heißen.«

»Ja, da darf man sicher stehlen,« bestätigte ich kleinlaut. »Aber auch sonst noch.«

»Ich würde sie aber doch durchprügeln,« drohte der Walomer, die Fäuste ballend. »Und die, die ihr helfen, gleich auch dazu! Verstanden?«

»So, so, würdest du?« spottete Jakob.

»Ich habe jetzt nachgedacht, – ach, so streitet doch nicht immer!« flehte Joseph mit seiner kindlichen Stimme, »ich weiß noch einen solchen Fall. Der Schreiner, ihr wißt, der Vater von unserem lieben Valentin selig, hat seinem Gesellen fast keinen Lohn gegeben und immer noch am Samstag etwas davon für Tabak oder sonst was abgezwackt. Bei Tisch bekam er nie genug zu essen.«

»Das weiß man ja,« unterbrach Theodor, »was dann?«

»Nur Geduld,« bat Joseph, der sehr gut erzählte, wenn man ihm Zeit ließ, »der Geselle hat nun oft in der Küche nachts Brot abgeschnitten und ein wenig Speck dazu gelegt, hie und da auch etwa ein Fränklein aus der Schublade genommen –«

»Das durfte er,« sagte ich.

»Ja, das Gericht hat ihn freigesprochen,« fügte Joseph hinzu.[138]

»Nein, es hat den Fall einfach – ver – verkareß – verkat – ach was, wie sagt man nur –« Theodor kam nicht weiter.

»Kassiert!« verbesserte Jakob ruhig; ihm waren solche Wörter vom Gespräch an den Wirtstischen her vertraut.

»Ja, kassiert!« wiederholten wir.

»Was ist denn das?« fragte der Walomer finster. Jedes gelehrte Wort machte ihn böse.

»Es hat kurz und gut die Klage abgewiesen, – pack' dich, Schreiner! Der Valens selig hat auch oft gehungert, wenn er schon so rotbäckig aussah.«

Valens war unser liebster Kamerad gewesen und letztes Jahr, als er sich mit uns die Ohren und das Haar mit Kirschen überhängt hatte, im roten Sommerschmuck vom Baume gefallen und alsogleich vor unseren Augen verschieden, ohne sich nur zu mucksen. Wir konnten ihn nicht so leicht vergessen.

»Aber den Gesellen hätte ich doch durchgeprügelt,« betonte Theodor wieder, »er konnte mir klagen, daß er hungere –«

»Nein, du großer Prügler, es war erlaubt!« herrschte ihn der Kronenwirt an. –

Mildes Licht brach herein durch die obersten und hintersten Stämme des Forstes. Bald mußten wir also die Höhe erreicht haben. Die Helligkeit, die von der anderen Seite kam, schien sich vor dem dichten Walde fast zu fürchten und nur wenig vorzuwagen.[139]

»Aber wenn zum Beispiel der Joseph auf der Straße einen Zwei- – einen Fünffränkler fände,« setzte ich das vorige Gespräch fort, indem mich das Vorige durchaus nicht beruhigt hatte, »und du würdest – sei still! – du bist es ja nicht, – ich sage nur so zum Beispiel –«

»Nimm einen andern, – ich mag das nicht hören!« flehte Joseph.

»Also du, Theodor, wärest das gewesen und würdest das Geld nicht –«

»Ich will nichts damit zu tun haben, äh, – solche Diebereien!«

Immer verzagter wandte ich mich nun an Jakob. »Nimm an, nimm bloß an, du sähest ein Silberstück dem Ammann aus der Tasche auf die Straße fallen. Du hebst es auf, es gefällt dir je länger, je besser. Es wäre ein ganz anderer Fünffränkler als die übrigen, – ich meine runder, silberner, ach, – wie sag' ich's nur? – mit einem ganz fremden Bild darauf und anderen Buchstaben –«

»Eine alte Münze!« erklärte Rex.

»Ja, eine alte Münze, und du wolltest sie behalten, weil sie dir so gut gefällt, du gäbest sie nicht mehr – einstweilen – nicht mehr zurück!«

»So, ich gäbe sie nicht mehr zurück?« fragte Jakob drohend und sich mir nähernd.

»Hab' ich gesagt, du wolltest sie stehlen? Du willst sie nicht verkaufen oder ausgeben, nur weil[140] sie so schön und selten ist, wolltest du sie ein wenig behalten.«

»Einen Fünffränkler behalten? Probier' und sag' das noch einmal!« rief Rex entrüstet und hob den Arm.

»Das ist so gut wie gestohlen!« rief auch Theodor.

»Schwer gestohlen!« echote Joseph.

»Ihr versteht mich ja nicht, so hört doch!« eiferte ich in einer wahren Verzweiflung.

»Nichts da, ich würde schon einen Fünfräppler zurückgeben,« betonte Jakob.

»Und nun erst einen Fünffränkler!« rief Theodor. »Heireli, bist du toll? Du lehrst uns hübsche Sachen! So ein Dieb, was denkst du denn eigentlich?«

»Reden wir nichts mehr von diesen Diebsgeschichten, das geht uns ja nichts an!« sagte Jakob. »Seht, da sind wir gleich auf dem Grat! – Juhe!«

Ich verstummte. Aber mir wurde nun so trostlos schwer, als wöge der Taler in der Tasche einen Doppelzentner. Mit Mühe stieg ich die letzte Erhöhung bergan. Gottlob, nun waren wir auf der Höhe und durften verschnaufen.

Siehe, da wurde von der anderen Seite herauf ein Kopf mit übelsitzender Kapuze sichtbar, nun das Haar, das wild unter dem Tuche hervorhing, jetzt ein rotes, freches Mädchengesicht von derber Schönheit, das aber sogleich eine ängstliche Miene annahm, sobald es uns gewahrte. Das große, schlanke Mädchen trug einen mächtigen Haufen Reisig auf der[141] Schulter und hatte noch die Schürze voll kurzer, dicker Bengel.

Wir Buben schauten uns überrascht an, das war ja just die Holzmarie.

»Hast wieder einmal Holz gestohlen,« machte Theodor gutmütig, als sie zwischen ihm und Jakob vorbeiging. Sie preßte die Lippen aufeinander, ihre Stirn wurde dunkelrot, nur Scheu blieb auf ihrem Antlitz in diesem Moment bestehen, nichts von Frechheit oder Trotz. Hastig ging sie in den Wald hinunter, woher wir gekommen waren, und zog im Vorübergehen die Achseln ein, als fürchte sie, hinterrücks geschlagen zu werden.

»Vorwärts!« befahl Jakob, der das Mädchen keines Blickes gewürdigt hatte. »Was geht uns die an?« Kräftig riß er Joseph vor sich her.

Nun ereignete sich etwas Seltsames. Sobald nämlich Theodor sah, wie Jakob ihm den Rücken kehrte, würgte er einen ungeheuren Apfel, eine Goldreinette von wunderbarer goldbrauner Farbe, aus dem Hosensack, hustete verlegen und warf den Apfel in einem wohlgezielten Bogen über den Kopf des eilenden Mädchens voraus in den Schnee. Die Holzmarie blickte verblüfft zurück, sah Theodor freundlich winken, bückte sich und schaute, während sie die Hand mit dem Apfel wie dankend an den Mund legte, noch einmal lachend zu Theodor. Auch er lachte nun still. Dann eilte sie und verschwand in der waldigen Tiefe.

»Aber Thedi,« sagte ich fassungslos, »was zum –«[142]

»Pst!« Der Bursche legte mir seine rotgeschwollene Hand auf den Mund. »Willst du gleich schweigen oder! – Der Rex da vorne soll mich nicht auslachen!«

Die Aussicht auf die hintere Seite ging in ein ziemlich schmales Tal und an einen dem unsrigen ebenbürtigen, gleichlaufenden Hügel hinüber. Die Mulde dazwischen füllte zur Hälfte ein kleiner, fischförmiger See. Mitten in den Schneefeldern und zum Teil in der niedrigen Fichtenwaldung lag er grauschwarz und hart da, wirklich wie ein toter Riesenfisch.

»Er ist gefroren, seht!« schrie Theodor voll unbändiger Freude und setzte sich schnell auf den Schlitten.

Im Nu hatten wir die Schlittschuhe angezogen und fuhren geschickt zwischen den wenigen Bäumchen auf dem gefrorenen Schnee den Abhang hinunter. Es war ein wunderbares Jagen. Zuerst ging es sanft wie auf einem Kissen abwärts; dann wurde die Fahrt steil und so rasch, daß man wie auf einem wild gewordenen Rosse der Sache den Lauf lassen mußte. Büsche und Strünke sausten wie Schatten an uns vorüber. Die Luft peitschte uns förmlich ins Gesicht und füllte das Ohr mit Brausen. Von unserem Schlittengeklingel und Hurragebrüll stoben die Krähen aus den Bäumen, aber wir ließen sie weit hinter uns zurück: die Krähen, den Wind, ja sogar die Zeit. Selbst mein böses Gewissen schien zurückgeblieben zu sein. Nichts betrübte mich in dieser Minute, als der Gedanke, daß der See[143] immer näher rücke und dieser Schlittenpaß zu Ende gehe. Weit unter mir sah ich einen dunkeln Punkt. Das war Theodors fliegender Mützenzipfel, der eben eine scharfe Halde hinuntertauchte. Von Jakob, der den Gegner überrannt hatte, sah ich gar nichts. Hinter mir folgte Joseph, doch hörte ich ihn nicht vor den brausenden Ohren und dem Sausen meines leichten, vorn stolz geschnäbelten Davosers.

O wunderbares Vergnügen auf dem Schlitten! Schöner kann nur noch das Fliegen sein.

Jeder von uns erzählte am Seebord, indem er seinen Schlitten wie ein braves Pferdchen strich und oft nach Atem rang, wie fein das gewesen sei, wie es ihn am sogenannten Stachelbuck über die querliegenden Stämme geworfen habe, wie er aber famos das Gleichgewicht behalten und darauf die Straße mit den zwei breiten Gräben glatt überflogen habe. Besonders aber der Stachelbuck, ja, nicht jeder andere würde – –!

»Aber ich faßte meinen Hengst am Gebiß,« fabelte Theodor eifrig, »hockte mich fest und rief: heda, oder ich –!«

Jakob lachte nur. Er trug am wenigsten Schnee an den Hosen; er hatte also die Füße fast nie gebaucht; unzweifelhaft war er am besten gefahren. Doch damit prahlte er nicht, das verstand sich doch für ihn von selbst.

Wir banden die Schlitten wie Pferde an einen Weidenstamm und tasteten uns vorsichtig durch das Schilf[144] auf den gefrorenen Seespiegel hinaus. Wo das Schilf wegen der Tiefe aufhörte, hackte Jakob ein Loch ins Eis, um die Dicke der Decke zu messen. Doch Theodor schwenkte die Arme und warf das Bein zu einem prächtigen Anlauf zurück, als wollte er allein die weite Fläche nehmen.

»Halt!« befahl Jakob, »wir müssen doch wissen, ob uns das Eis trägt.«

»Zehn Zentimeter müssen es sein,« betonte Joseph.

»Sechs und die andern für Hasen!« hänselte ihn Jakob.

»Das sind Dummheiten,« erklärte Theodor, blies in die Backen und flog hinaus.

»So versauf, du Narr!« machte Jakob und bohrte noch ein Weilchen weiter. Plötzlich gab er es auf und meinte mit jenem vornehmen Tone, mit dem er am Morgen sich schuldig bekannt hatte: »Ach was, wir wollen's nicht besser haben als der Große!« Sprach's, schwenkte die Arme wie eine Schwalbe, wenn sie vom ebenen Boden auffliegen will, bog seine schlanke Figur halb vor und glitt nun mit einem leisen, feinen eisernen Geräusch in die funkelnde Eisscheibe hinaus. Doch nahm er eine andere Richtung als Theodor.

»Wir wollen hier fertig bohren,« sagte Joseph, der dem gefrorenen See noch immer nicht recht traute. Binnen kurzem sickerte Wasser durch das vertiefte Loch herauf. Das Eis ging tiefer als mein Mittelfinger.

»Also doch ganz sicher,« sagte ich getrost, setzte mit den Schienen ein und zog frischweg in die Mitte hinaus.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 132-145.
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