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[3] Ich möchte vom Nachtwächter unseres Dorfes erzählen. Er heißt Andreas Marxele, trägt schwarze Hosen, eine geblumte Weste aus Perkal und einen Rock mit zu engen und zu kurzen Ärmeln und mit einem so schmalen Schulterblatt, daß ich immer das Gefühl der Not und Bedrängnis hatte, wenn ich Andreas reden und dazu hantieren sah. Es war dann anzuschauen, als ob er sich aus einem Gefängnis zu befreien suche, aber mit allen sterblichen Anstrengungen weder lösen, noch erleichtern könne. Man dachte, dieser Mann würde Großes leisten, wenn er nur eine weitere Jacke trüge. Es würde dann die Arme ganz anders ausspannen und es mit dem Leben wie ein Held aufnehmen. Man müßte staunen. So aber hemmt ihn der enge Ärmel am Ellbogen, und sobald er den Nacken strecken und sich gegen die bösen Mächte des Schicksals aufbäumen will, zwängt ihn der schmale Rücken derart ein, daß er sich wieder klein und demütig zusammenduckt.

Wir Studenten nannten ihn daher nur den gefesselten Prometheus. Als uns der Professor an der Lateinschule von diesem wunderbaren Manne der Sage erzählte, der nach dem Glauben der Griechen den Menschen das Feuer vom hellen Olymp auf die schattige Erde herunterholte, damit sie warm und heiter bekämen wie die Götter oben und damit sie nicht mehr im Dunkel sich verlaufen und die Nasen aneinander schlagen müßten, – wie aber dann der besagte Held[3] für seine göttliche Frechheit von Zeus an den Felsen des Kaukasus genagelt wurde und ihm von einem Geier die wachsende Leber immer wieder weggefressen wird: da rief mein Kamerad aus dem Dorfe, der witzige Jakob Bronn: »Das ist wahrhaftig unser Nachtwächter Andreas Marxele!«

Alles lachte. Wir Lachweiler aber, die den Mann so gut kannten, stimmten, ohne uns weiter zu besinnen, wie von irgend etwas Treffendem in diesem Worte Jakobs unaussprechlich überzeugt, bei: »Ja, das ist der Lachweiler Nachtwächter, Andreas Marxele.«

Erst später erkannten wir, worin der Vergleich so gut war. Abgesehen davon, daß Herr Andreas Marxele in seinen Kleidern wie ein Gefesselter erschien, trug er auch in seinem übrigen Gehaben etwas Prometheushaftes zur Schau. Keiner politisierte im ganze Dorfe so tüchtig, keiner ging so weit aus den alten Geleisen der Überlieferung, keiner begrüßte jede Erweiterung der Volksrechte mit einer so starken, sozusagen wilden Freude, keiner schimpfte gegen den Zaren in Petersburg, den Sultan am Goldenen Horn und gegen die herrenmäßigen Reden des deutschen Kaisers so trotzig wie dieser kleine, magere Mann in den zu engen und zu kurzen Ärmeln. Er war der einzige, der im Gasthof zur Krone vor allen Gästen behaupten durfte, die französische Revolution sei alles in allem etwas Gutes gewesen.

»Aber bedenken Sie,« wandte der Schullehrer Philippus Korn ein und schob erregt die Brille zurück,[4] »bedenken Sie den Pöbel von Paris, der den König und die Königin mordete!« – Lehrer Philippus Ignatius Cassian Korn hatte sich eben auf die Weltgeschichte von Jäger abonniert.

»Und bedenken Sie, Herr Magister, diese welschen Könige, die ihr Volk in Luxus und Krieg verdarben.«

»Bedenken Sie dagegen,« wiederholte der Lehrer und schob die Brille wieder vor, »bedenken Sie die Guillotine!«

»Bedenken Sie, Herr Lehrer, die Bastille und die Lettres cachées!« – Der Nachtwächter sagte: lettres kaschesch.

»Und die erschlagenen Grafen, Priester und Damen, bedenken Sie!«

»Und die Millionen armer, geplagter Bauern, den dritten, in den Kot getretenen Stand, bedenken Sie, Herr Lehrer!«

»Ach,« wandte sich Ignatius zu seinem jungen Vetter im Lehrerseminar, der ihn besucht hatte und mit dem er gemeinsam drei Deziliter Landwein trank, »ach, mit solchen Menschen kann man nicht disputieren, – sie kennen keine Pragmatik in der Geschichte.«

»Sie haben keine Seminarbildung,« ergänzte der Kandidat behende.

»Nichts wissen sie von Klio, von Herodot und Thukydides!«

»Es fehlt ihnen das historische Augenmaß, sozusagen die Retrospektive in die Vergangenheit,« schloß der[5] Seminarist selbstgefällig. Diese Ausdrücke hatte er von Dr. Mamutius, seinem Professor der Geschichte. Bei passender Gelegenheit brachte er sie gerne wie eine eigene Erfindung über seine achtzehnjährigen Lippen.

Als Andreas von Pragmatik und Thukydides hörte, wurde ihm übel. Er leerte das Glas und ging. Fremdwörter schlugen ihn in die Flucht. Gegen solche Gelehrsamkeit konnte er nicht aufkommen. Dann fühlte er schmerzlicher als je, daß sein Rock zu eng und seine Ärmel zu kurz waren.

Sein Verstand hatte Licht und Schärfe. Aber die Schulung ging ihm ab. Der Pfarrer wollte den geweckten Burschen in die Realschule der Stadt schicken. Aber da kehrte der Vater den Geldbeutel heraus, leer bis zum untersten Zipfel wie er war, und sagte bloß: »Bub, da studier' einmal!«

Und statt der neun Musen hütete Andreas die neun Ziegen des Bauern Chlor. Damals fühlte dieser Prometheus zum erstenmal die Zwangsjacke, und besonders wenn ein Student mit dem Käppi und den Büchern unter dem Arm des Weges kam, wo Andreas weidete, dann drückte das enge Tuch den armen Sehnsüchtigen unleidlich. – Er schob dann die Faust vor den Mund und biß und weinte hinein.

Von nun an machte er den gewöhnlichen Lebensgang eines ordinären Lachweilers durch. Also mußte er zuerst dem Bauer Chlor, dem er verdingt war, das magere Vieh auf die Wiese treiben, abends die Geißen[6] melken und die Milch zur Käshütte tragen, ohne einen Tropfen auf seine Bluse oder auf das glänzende Blech des Kessels zu spritzen. Darauf fing er an zu weben. In einem schlecht getäfelten Kellerraum stand sein Webstuhl. Während er in eintönigem, langweiligem Fleiß das Schiffchen durch die straffen Fäden trieb, dachte er mit seiner guten Phantasie und seinem witzigen Kopf weit über den Hut eines gewöhnlichen Dorfbürgers und weit über die Bauerndächer der Heimat hinaus. Hätten seine Gedanken den Einschlag in den Zettel gebildet, welche Schilderungen wären da im Tuche erschienen! Man hätte von den Schneeschultern der Alpen bis in die letzten Furchen des Ozeans hinuntergesehen, an sanften und zornigen Flüssen, an grauen Einöden, an Millionenstädten wäre man vorbeigekommen, Paris und Moskau hätte man erblickt, Kaisern und Zigeunern wäre man begegnet, ja, eine ganze Galerie der Menschheit hätte man in den Faden bekommen und an Humor und Farbe hätte es da wahrlich nicht gefehlt.

Sonntags hockte Andreas über geliehenen Büchern, die er vom Titel bis zum letzten Wort auslas. In einem Jahre hatte er die Bibliothek von Lachweiler ausgeplündert und wie ein Junges, das nun nicht mehr bloß Milch, sondern auch Brocken erträgt, sperrte er den Mund auf und verschlang die Bibliothek des Bezirksfleckens. Als auch dieser Kram verzehrt war, öffnete er den Mund noch weiter und ließ sich jetzt Bücher aus der nächsten Stadt kommen. Und er las alles,[7] was und wie es kam. Alles nahm seine Aufmerksamkeit gefangen: der Sternenhimmel, die Afrikareisen, der japanische Krieg, die Sozialisten, der Vatikan, Segantini und Böcklin, die Tuberkeln, – er las Prophezeiungen aus alten Kalendern, Mays prahlerische Reisen, den Robinson, er hörte mit Andacht vom Barte des Barbarossa und von jenem von Mohammed, von den Präraffaeliten, von Darwin, Ibsen, Frau Holle, dem Zukunftsmusiker Strauß, und was das Wunderbarste war, er behielt von allem einen hübschen Haufen im Gedächtnis, den er dann gelegentlich mit echtem Krämertalent auspackte. Eine ungewöhnliche Beredsamkeit und zwei graue, kleine, flinke Augen, die wie Wiesel im Gesichte herumschossen, unterstützten seine Gespräche. Man hörte ihm Sonnabends gerne zu, wenn er am Wirtstisch seine Schätze auszupacken begann. Nur riß ihn oft im Schildern die eigene Begeisterung fort, daß er nicht mehr innehalten konnte, fabelte, sich immer glaubhafter in die unglaublichsten Dinge verlog und mit dem Pfarrer und Gemeindeammann nicht selten in Streit geriet.

Natürlich stand seine Weisheit nicht wie ein festes, auf soliden Steinquadern erbautes Haus, sondern mehr wie ein zusammengewürfelter Haufen von tausend heimischen und fremden Raritäten, über denen seine Phantasie wie ein buntes Wölklein schwebte und sie bald tiefer, bald heller färbte. Andreas hatte kein System, und ausstudierte Leute, die mit Methode vorgingen,[8] wie etwa der Pfarrer, brachten ihn bald aus der Fassung, wenn sich unser Bursche nicht am Ende noch mit einem schlechten Witze behelfen konnte.

Einmal kam der Kirchherr gerade dazu, als Andreas in einem Ringe von feiernden Sonntagsleuten das Sternbild der Jungfrau erklärte. Weil es heller Tag und somit kein Verrat durch die himmlische Figur zu fürchten war, mischte der Erzähler Gelesenes und Erdachtes frech durcheinander. Da sei nämlich ein eiskaltes Mädchen gewesen, das Hunderten von Knaben das Herz gebrochen, indem es die Armen mit seinem Zauber behexte und den Narren im entscheidenden Momente dann schmählich den Rücken kehrte. Darauf hätten die Mütter der Knaben gen Himmel geseufzt, und, siehe, zur Strafe sei das Jüngferchen mit goldenen Sternennägeln da oben festgeheftet worden. Von den kalten Räumen des Weltalls herab müsse es nun so viele fröhliche Hochzeiten auf Erden mitansehen, während es selber vor Einsamkeit und Liebesmangel fast erfriere und froh wäre, wenn wenigstens der spröde Mond im Vorüberfahren es ein bißchen anlächeln wollte. Aber das tue weder der Viertels- noch der volle Mond, sondern verächtlich fahre er weit daneben vorbei. Wenn sie recht zusehen wollten, die Dörfler, heute abend, meinte Andreas, und schaute listig gegen Westen, wo ein breiter Wolkensaum lagerte und einen bedeckten Nachthimmel ansagte, so würden sie ganz deutlich die Jungfrau erblicken, wie sie mit[9] traurigem und verweintem Gesicht von der Höhe niederschaue.

»Aber, Meister, habt Ihr sie denn selber schon erschaut?« fragte nun der Pfarrer, den roten Daumen nach seiner Gewohnheit zwischen den Hals und Kragen steckend, während er die Männer mit einem heimlichen Lächeln gleichsam aufforderte: »Gebt mir jetzt wohl acht, – wir haben den Fuchs!«

»Ich? – Hochwürden, – ich? – jawohl! – so macht sie!« Andreas spannte die Arme kläglich aus, »und das Haar hat sie dreifach gezopft! Jawohl!«

»Na, na, Meister, dann habt Ihr auch den großen Bären gesehen, – und das Boot, – die Andromeda, den Pegasus ...«

Das waren Fremdwörter! – Marxele fing es an schwindelig zu werden.

»Weiß nicht!« stotterte er und kaute am Stengel der Geraniumblüte, die er immer im Munde trug.

»Die sind doch noch deutlicher auf unserem nördlichen Globus zu sehen!«

»So!« – Marxele zupfte verlegen an seinen zu kurzen Ärmeln. Prometheus fühlte seine Ketten wieder.

»Unser Pfarrer!« sagte leise hinter ihm ein Zuhörer zum andern, »alles weiß er, alles!«

»Aber keine Spur von einem Bären,« fuhr der Geistliche fort und wurde im Erklären unwillkürlich aus Angewöhnung ernster, »nichts Boot, nichts Andromeda oder Pegasus! – Die alten Griechen haben sich den[10] Himmel auf dem Papier in kleine Stücke zerschnitten und jedem einen beliebigen Namen gegeben, bald von einem ihrer Helden, bald von einem ihrer gottlosen und verwerflichen ...«

»Aber gestehen Hochwürden nur,« widersprach der Nachtwächter, »die Jungfrau, das steht fest, sitzt da oben!« – Er spuckte die Geraniumblüte im Eifer aus.

»Das müßt Ihr mir erst zeigen, bevor ich es glaube.«

»Gerne, Hochwürden, gerne!«

»Gern oder ungern – Und wenn wir sie nicht finden –« der Pfarrer drohte mit dem Zeigefinger.

»Nun, dann ist sie gottlob erlöst, die arme Seele; sie hat lange genug gelitten – aber ein Strumpfband oder ein langes Haar von ihr wird sich wohl –«

Alles lachte, der Geistliche am lautesten. Diesmal hatte sich Andreas mit Glanz herausgehauen. Nur sein Gesicht blieb trocken. Nie lachte er zu den eigenen Witzen. Eher machte er eine abweisende, strenge Miene dazu.

Aber zufrieden bückte er sich unter den Tisch, nahm das Geraniumblümchen auf und schob es wieder in den linken Mundwinkel.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 3-11.
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