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[18] »Herr Nachtwächter Andreas Marxele hat das Wort.« –

Der Gerufene zog die Geraniumblüte aus dem Munde, kreuzte die Arme über die Brust und begann: »Herr Präsident, Herren Genossen! – Der Herr Gemeindeammann hat erklärt, er könne die Verwaltung des Dorfes nicht mehr übernehmen. Und ich begreife den verdienten Mann. Er ist achtzigjährig – –«

»Zweiundachtzig!« warf eine Stimme ein.

»Sogar zweiundachtzig! – Einem solchen Alter gebührt schon lange ein ehrenvoller Feierabend!« –

»Otium cum dignitate!« – fügte der Pfarrer bei, der gerne Lateinisch sprach und ebenso gerne den Gemeindeammann weggewählt hätte wie Andreas.

»Opium cum dignitate«, – sagt der Pfarrer, – kann sein! Aber zur Sache! – Wie man zu jung, so kann man auch zu alt für eine öffentliche Stellung sein. Ehre dem Manne, der das einsieht und aus freien Stücken resigniert! –

»Ein Mann ein Wort! – Der Ammann hat bestimmt erklärt, eine Wiederwahl nicht mehr anzunehmen. Sollen wir ihn nun dennoch wählen? – Hieße das nicht soviel, als sagten wir: ›Herr Ammann, gesagt haben Sie das wohl, aber wir glauben es nicht, im Gegenteil, wir wissen, daß Sie recht gerne wieder Ammann werden mögen. – Sie haben nur Spaß mit uns getrieben! Also wir wählen Sie wieder und Sie[19] werden vergessen, was Sie vorhin sagten und mit einigem Zögern und Sträuben die Wahl doch wieder annehmen!‹

Nein, eines solchen Narrenstückes ist unser greiser Ammann nicht fähig. Wenn er sagt: ich kann nicht mehr, so kann er eben nicht mehr.

Wir sind freie Bürger! – (ohne diesen Satz hielt Andreas keine Rede!) – Bei uns gibt es so viele Könige als Köpfe. Es wäre doch eine Schande, hätten wir kein Holz mehr für einen neuen Ammann, tannenes oder buchenes, – das buchene freilich ist besser!

Da hat zum Beispiel der Kronenwirt einen Vetter, der studiert hat und bei ihm auf dem Gasthof wohnt. Er kennt die Leute und ihre Verhältnisse, ist er doch barfuß mit uns über die Gassen gelaufen und hat mit uns Äpfel aus dem Garten des Kaplans gestohlen, als der geistliche Herr im Bade war. – Er wohnt mitten im Dorfe, und jeder kann ihn also leicht finden und auch noch einen guten Schoppen bei Gelegenheit trinken. Er ist reich, also braucht er keine Sporteln; er schreibt eine schöne Schrift, also kann man in Zukunft alle Amtsbriefe lesen; er hat einen guten, strammen Charakter, also wird er den Sünder zwar am Schopf nehmen, aber nicht so fest schütteln, daß er alle Haare verliert. Kurz und gut, ich schlage den Herrn Fürsprech August Bronn zur Krone vor.«

Andreas setzte sich in den Kirchenstuhl und schob das Geranium wieder zwischen die Lippen.[20]

Diese Rede wurde am 2. Mai 1889 gehalten und schlug so durch, wie jene Rede des großen Mirabeau genau hundert Jahre früher, am 2. September 1789. Das Datum allein ist verschieden, das Genie gleich. Bronn, der sechsundzwanzigjährige Bronn, der eben seine juristischen Studien vollendet hatte und beim Onkel auf eine Anstellung in der Stadt wartete, Bronn wurde gewählt mit sechshundert gegen zwanzig Stimmen und einer Enthaltung, die vermutlich vom Pfarrer herrührte. Denn Bronn las Tolstoi und riet den jungen Studenten schon Goethe zu lesen.

In Zukunft gab es keine Abdankungskomödie mehr. Mit dem Mut der Verzweiflung hielt selbst der alte Glöckner noch das Turmseil, der halbblinde Weibel das Bürgerverzeichnis und der gichtische Küster seine Kirchenschlüssel fest. An jeder Kirchgemeinde hatte er sie aus der Tasche genommen, mit Pathos geschüttelt und gerufen: »Ich danke dem, der sie mir abnimmt.« – Doch immer war er bestätigt worden, weil niemand das Gotteshaus am Bettag so nett ziere, keiner so fleißig die Bänke abstaube und die Kerzen so rasch anzünden würde. Nun aber verließ er sich nicht mehr auf diese Vorzüge, der weggewählte Ammann war für alle ein warnendes Beispiel.

An jenem Siegestage glaubte Andreas, daß seine Ärmel sich geweitet und das Schulterblatt sich verbreitert hätte. Er war glücklicher als Prometheus. Das Licht der Volksfreiheit hatte er vom Altar des Vaterlandes[21] geholt und unter seine Mitbürger geworfen. Zum erstenmal hatte er die Knechtschaft der Überlieferung gebrochen. Und Zeus strafte ihn nicht!

Oder?

Ja, als der Zauber seiner witzigen Beredsamkeit in den Ohren verrauscht war, standen die alten Männer zusammen und sagten, dem Ammann sei unrecht geschehen. Einundfünfzig Jahre habe er in guter und böser Stunde die Zügel geführt. Drei französische Könige, der Kirchenstaat und mehrere Fürstentümer seien inzwischen untergegangen, die türkische Flotte sei zerstört, der Zar gebeugt und Paris erobert worden, – und Lachweiler stehe noch in unversehrter, solider Dorfmajestät. Das sei des Ammann Markus Verdienst. Zum wenigsten hätte man ihm die Ehre antun und ihn nochmals wählen sollen. Ein junger Ammann sei ein Unglück. Die Bronn vorab hätten immer ein stürmisches Blut gehabt. Man solle nur den übermütigen jungen Studenten anschauen, – wie der unter seinesgleichen den König spiele. Unfehlbar werde es sich rächen, daß man aus den ehrwürdigen Fußtapfen der alten Bräuche getreten sei. –

Der reiche Ammann hatte viele Vettern im Dorfe, manche, die ihm wegen geliehenen Geldes oder wegen Anstellung auf seinen Gütern verpflichtet waren. So wurde der Anhang der Unzufriedenen immer größer. Man besuchte die Krone seltener, und jede Verordnung des neuen, etwas schneidigen Ammanns wurde unter[22] Tisch und Schemel heruntergetadelt. Als es gar hieß, er wolle eine Hundesteuer einführen, da wuchs der Groll ins Gefährliche, und wer weiß, wie schwer der bequeme Dorffrieden gestört worden wäre, wenn Dr. Bronn sich nicht vom klugen Kronenwirt hätte bestimmen lassen, schon vor der Herbstgemeinde sein Amt niederzulegen, um einen höhern Posten im Bezirksamt zu übernehmen. Alles atmete auf und lobte den Jüngling, der infolge seines Talents und seiner Stellung vom Bezirksstädtchen aus Lachweiler weit stärker beeinflußte als er es je in Lachweiler selbst vermocht hätte.

Als nun der alte Ammann wieder in alle Ehren seines Amtes eingesetzt wurde und dafür der Dorfschaft vier Fäßchen Bier aus der Krone spendierte, nebst einem Würstchen und einer Semmel für die Stimmfähigen, da fühlte Andreas plötzlich wieder die engen Ärmel und das schmale Schulterblatt; er aß aber das Würstchen doch und trank vier Gläser Bier. Am Ende der Schmauserei winkte ihm der Ammann und fragte ihn, ob er wohl einige Nachmittage frei machen könnte. Es wären einige Bücher einzubinden. Andreas hatte sich nämlich diese schöne und saubere Kunst schon in den Knabenjahren angeeignet, um so eher zu Lektüre zu kommen. Der Nachtwächter ging also zum Ammannhause hinunter, nicht ohne Herzklopfen. Aber Herr Markus spielte mit keiner Silbe auf das Frühere an, sondern war umgänglich und freundlich mit ihm und zeigte Neugier, wie man eine dicke Broschüre so genau[23] Blatt auf Blatt in einen Deckel bringen könne. Je gnädiger der Ammann sich erwies, desto geschmeidiger und gefügiger wurde Andreas. Sein politisches Gewissen empörte sich gegen diese Umwandlung, aber umsonst, und als der Ammann seinem Buchbinder am Ende der Dingtage gar ein blitzblankes Goldstück in die Hand drückte, da hätte Andreas im ersten Augenblick die zitternde Greisenhand gerne geküßt. Er beugte sich und verneigte sich, denn Gold hatte er noch nicht oft in den Händen gehabt. Wer Gold austeilte, kam ihm groß und überlegen vor. Aber zu Hause schleuderte er das runde Stück grimmig unter den Tisch und verfluchte seine Schwäche, die sich so leicht habe bestechen lassen. Erst vierzehn Tage später, als er keinen Heller mehr im Beutel trug und ernstlich hungerte, bückte er sich unter den Tisch und suchte nach dem Golde. Wenn man sich aber tief bückt, so spannen uns die Kleider an Nacken und Rücken. Nun denke man sich erst, wie enge es dem guten Nachtwächter damals in seiner Zwangsjacke zumute sein mußte!

Von da an vertiefte sich Andreas, von der Dorfpolitik angeekelt, in die Politik der Großtaaten. Er ging gleichsam wie ein enttäuschter Minister des Innern in das Departement des Äußern über. Da war nun kein Land zu groß, daß er es nicht mit seinem staatsmännischen Blick überschaut, kein Fürst zu hoch, daß er nicht seine Handlungen unter das Brillenglas genommen und kritisiert hätte. Er redete von einer Sauordnung[24] in Österreich, von einem Zierbengelschneid im deutschen Militär und spottet bei jeder Ausgabe für schweizerische Festungen. Unsere militärischen Anstrengungen, witzelte er, seien mit einem Kinde zu vergleichen, das immer auf der Zehenspitze stehe, wenn es mit einem Manne rede. – Daß er bei jedem Streik der Arbeiter gegen die Herren auf das feiste Kapital schimpfte, wunderte niemanden, – das taten ja auch die meisten Dorfgenossen. Aber daß er im Burenkrieg für die Engländer eintrat, war erstaunlich. Man wagte jedoch nicht, mit ihm zu rechten. Denn er allein wußte mehr zu seinen Gunsten, als alle Gegner zusammen zu ihrem Vorteil anzuführen.

»Meister Andreas,« fragte ich, damals ein Student von unklarem Sinne und großer, aber schnell verflackernder Begeisterung, »warum haltet Ihr es mit den Engländern?«

»Ich bin für die Gleichheit aller Menschen, also auch für die Gleichheit der Völker,« erwiderte er. »Verstehst du das, Junge?«

»Ich verstehe, aber ...«

»Aber nun sind die Buren so ein Völklein gewesen, bei dem die größte Ungleichheit nistete. Die wenigen Bürger regierten eigenmächtig über die vielen Ansässigen. Die Fremden waren fast rechtlos, die Neger unterjocht. Weg muß das Vorrecht! – und die Buren sollen Gott danken, daß die Engländer und die nicht die Russen oder die Franzosen gekommen sind,[25] um ihnen den altfränkischen Zopf abzuschneiden. Die hätten mit dem Zopfe wohl auch noch ein Stück vom Kopfe mitgerissen. Die Engländer auch, natürlich! – aber dennoch sind sie die freiesten Kolonisten.«

Damals bat ich den Nachtwächter, mich einmal auf die Nachtrunde mitzunehmen. Ich trug das Anliegen schon lange auf dem Herzen.

Andreas brummte.

»Darf ich, Vetter?« – Ich hatte die Gewohnheit, jedem Vetter zu sagen, von dem ich etwas Gutes erwartete.

»So geh um fünf Uhr zu Bette und weck' mich um halb zehn!«

»Soll geschehen,« jubelte ich.

Begreiflich ging ich nicht schlafen und stand schon gegen neun Uhr vor dem niedrigen Stübchen des Nachtwächters, das zu ebener Erde lag.

»Teufelskerl, kann Er nicht warten?« grölte Andreas und rekelte die Arme und dehnte sich im Bette, daß die Laden krachten.

»Na, da du einmal da bist, so mach wenigstens Licht!«

Gehorsam zündete ich die Lampe an.

»Jetzt nimm das Schnupftuch und schütte mir den Kaffee an! – dort! – ach was – im Ofenrohr, im Ofenrohr!«

Ich wickelte lieber mein Nastuch als das rote, verschnupfte des Nachtwächters um die Hand und zog den[26] heißen Krug, in dem das Wasser mit feinen Kinderstimmen Süm! Süm! machte, aus dem Bratofen. Während sich Andreas die Hosen anzog und mit Mühe die geblumte Weste zuknöpfte, goß ich die siedende Brühe in den Kaffeesack, der über der Kanne hing. Gleich flogen jene Wölklein von Kaffeeduft durch das Stübchen, die so belebend und ermutigend auf die Seele wirken und das Heim erst recht zum Heim machen, indem sie ihm einen kräftigen Geruch von Gemütlichkeit und Herzensstärke verleihen. Zwei Tassen, die eine ohne Henkel, die andere mit zerbissenem Rande, standen bereit. Ich füllte beide und zerstieß den Zucker darin, damit der Nachtwächter nicht glaube, daß ich seine Not mit dem engen Frack bemerke. So mochte wohl der alte Prometheus gestöhnt haben, als Kratos und Bia mit des widerwilligen Hephaistos Hilfe ihm die Ketten und eisernen Ringe umlegten, wie jetzt Andreas Marxele ächzte, bis er sich in die engen Armschöße und unter das Joch der schmalen Schultern gezwängt hatte. Als die Pein aber so groß wurde, daß ich ihm glaubte beistehen zu müssen, sagte ich mitleidig:

»Euer Rock ist wohl zu eng, Meister!«

»Gerade wie ich ihn brauche!« versetzte Marxele keuchend.

Stillschweigend tranken wir, am Tischchen stehend, unsere Tassen aus. Dann setzten wir die Mützen auf und traten in die geheimnisvolle Nacht hinaus.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 18-27.
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