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[78] Am Abend klopfte ich an der hohen Türe zum Rektorat.

»Herrrrr – rein!«

Der Basileus, wie wir den Rektor nannten, ein großer, stark gebauter, hagerer Mann, legte die Feder auf das Pult und trat mit drei mächtigen Schritten in die Mitte des Zimmers, wo wir Studenten der Etikette gemäß uns zu postieren hatten.

Sein Gesicht war soeben glatt rasiert worden, – sein Rock saß wie angegossen und zeigte kein Stäubchen, die Brille funkelte wie neugeschliffen, – und das Auge, dieses unbestimmbar zwischen Grau und Blau und Braun schillernde Auge, war ebenso kalt und neugeschliffen wie das Glas davor. So meinte ich wenigstens in jenem Augenblick und ich fühlte, als ich den Mächtigen so sah, daß ich mir den Gang zu ihm hätte ersparen können. Von diesem Menschen[78] waren in diesem Moment keine Ferien zu erhalten.

»Walter Heinrich, glaube ich,« sagte der Rektor und versuchte dabei ein wenig zu lächeln, das heißt, er schloß die Augen halb und öffnete den Mund, daß alle seine plombierten Zähne sichtbar wurden.

»Ja, Herr Rektor, – Schüler der vierten Klasse!« bekannte ich ordnungsgemäß.

»Stimmt! – und?« –

Ich begann meine Mütze wie eine Scheibe zu drehen. Meine Finger schwitzten. Wenn ich einmal rund herum bin, werde ich wissen, ob ich heim darf oder nicht, – dachte ich blitzschnell bei mir.

»Dürfte ich wohl für den Freitag Urlaub bekommen!« platzte ich laut heraus.

Beim Worte Urlaub kräuselte sogleich eine Menge feiner Falten die eben noch glatte, hohe Stirne des Rektors bis unter das graue Haar hinauf. Eine leichenhafte Kälte legte sich über sein ganzes Gesicht.

Denn dieses Wort Urlaub war in seinen Ohren, was im Gehör eines nervösen Musikers eine grundfalsche Note. Nichts war dem Rektor so heilig als die Ordnung an der Staatsschule. Er sah es für seine eigene Komposition an, daß alle Kurse ihre Stunden regelmäßig einhielten, daß die Herren Professoren auf die Minute ihren Vortrag begannen, daß die Pause genau zehn Minuten dauerte und er die Herbst- und Lenzferien seit zwanzig Jahren immer, man denke! –[79] am gleichen Tage und in derselben Tagesstunde um ein Viertel vor zwölf Uhr mittags den Schülern in der Aula verkündigt hatte. Ja, daß von den heiligen Statuten nie um des kleinen Fingernagels Breite abgewichen worden war, daß die Maschinerie so tadellos funktionierte, das hielt er für die große Komposition seines Lebens. Wenn nun ein Student Urlaub forderte, so war das, als ob in dieser wunderbaren Symphonie der Ordnung ein Spieler aus der Komposition herausfalle und sich eine andere Note, einen unpassenden, frechen Ton erlaube, der nicht auf dem tadellosen Original stand.

Ich hatte inzwischen die Mütze vom Schirm zur hintern Naht gedreht. Nun ging es wieder dem Schilde zu.

»Am Freitag ist doch Schule,« sagte der Rektor streng, – »Sie haben,« – der Basileus zog sein Notizbuch hervor und blätterte darin, »Sie haben,« las er, »am Vormittag Latein, Französisch und Chemie. – Nachmittag Zeichnen und Deutsch. – Von diesen Stunden kann ich nicht dispensieren.«

Ich schwieg betrübt.

»Warum wollen Sie Vakanz?« hob der Rektor wieder an, indem er dem Worte Vakanz eine bösartige Färbung gab. »Ist etwa jemand krank zu Hause?« – wieder versuchte er, freundlich zu scheinen. Es fiel ihm wohl ein, daß er eigentlich zuerst danach hätte fragen müssen.[80]

»Nein,« sagte ich, »aber gestorben ist Andreas Marxele daheim.«

»Gestorben? – die Erde sei ihm leicht! – was wollen Sie nun noch?«

»Zur Beerdigung!«

»Ach so,« der Rektor schlug sich leicht vor die Stirne, »zur Beerdigung! Ja richtig, das tut man ja!«

Hoffnung erwachte in mir. »Darf ich gehen? – Ich könnte allenfalls mit dem Ein-Uhr-Zug wieder zurückkehren.«

»Nun ja, das Latein, – immerhin! – Aber bedenken Sie das Französische. Wer kommt ohne das heute durch die Welt! – Was hatten Sie denn da für eine Note?« – er blätterte im Taschenbuch weiter zurück, wo er alle Noten aller Klassen, aller Jahre säuberlich eingezeichnet hatte.

»Mittelmäßig!« gestand ich, um das peinliche Suchen mir und dem Quäler zu ersparen.

»Ah, mittelmäßig, sehen Sie! Sehen Sie!« – triumphierte der Rektor. »Und dann erst noch die wichtige Chemie, die Grundlage allen Wissens. – Irre ich nicht, so stellt Herr Professor Dr. Müller den Wasserstoff dar. Wissen Sie auch, was das heißt, Wasserstoff darstellen – H – y – dro – gen – ium?«

»Ich würde die Lektion nachholen, Herr Rektor.«

»Sie haben ja keine Eltern und Geschwister! – ist es denn Ihr Onkel oder Pate, – Ihr – Ihr – nun denn, ist dieser Herr Marzellus Anders –«[81]

»Andreas Marxele, Herr Rektor!«

»Ah so, ist es Ihr Schwager – ach, – wollte sagen –«

»Es ist der Nachtwächter von Lachweiler,« erklärte ich nicht ohne Scham. Aber sogleich schämte ich mich noch viel mehr über diese elende Scham selber.

»Der Nacht – wächter? – ich staune!«

»Ein Freund und Genoß –« ich hatte den Mützenschirm erreicht.

»Mein lieber Walter,« schnitt mir der Basileus das Wort ab und legte die Linke, an der ein Ring und zwei blaue Tintenflecken glänzten, auf meine rechte Achsel, »reden wir nicht weiter davon! – Sie bleiben am Freitag hier.«

Dann legte er auch die andere Hand, an der kein Ring, aber drei Tintenflecken klebten, auf meine linke Achsel, und fuhr im Tone eines strengen, doch wohlmeinenden Arztes weiter: »Sie schwärmen! – Die Professoren beklagen sich über Sie; erst heute noch Dr. Setzer wegen des Lateinischen. – Im Deutschen sind Sie tüchtig, – aber in der Mathematik merken Sie nicht auf und zeichnen sonderbare Figuren in die Rechenhefte. – Mir unverständlich, ganz unverständlich! – Kürzlich haben Sie ein Gedicht in Ihre Algebra gemacht, eine Ode an die Natur?« –

Es überkam mich heiß. Mich dünkte, der Rektor nehme mir Stück um Stück der Bekleidung weg, bis[82] ich schließlich in meiner ganzen Blöße dastände. Da zog er mir bereits den Rock aus.

»Gute Verse, – glatte Strophen! – aber unreif, Jüngling, unreif!«

Noch einmal drehte ich die Mütze im Kreise.

»Dann haben Sie die lächerliche und mir ganz unverständliche Passion, Mädchennamen in die Bank zu kritzeln, – Laura – Beat – rice – Leonore – wer steckt eigentlich dahinter, wie?« – Erbarmungslos rückte der peinliche Befrager die Brille zurecht, um mich besser zu betrachten.

Jetzt wurde mir die Weste ausgezogen.

»Wer, mein Freund, ist diese Laura?«

»Herr Rektor, – ich – ich weiß – nicht –«

»Das sag' ich ja, – Sie sind ein Schwärmer, – und die wissen alle nicht, was sie tun. Da rat' ich Ihnen: waschen Sie jeden Morgen Brust und Rücken mit Brunnenwasser, – gehen Sie um neun Uhr zu Bette, – trinken Sie kein Bier, – rauchen Sie keine Zigarren und noch weniger Zigaretten, – sündigen Sie keine Gedichte mehr und lassen Sie mir die Bänke in Ruhe!«

Damit führte er mich gegen die Türe und öffnete sie.

»Dann können Sie mit Ihrem Talent ein tüchtiger Mann, eine Ehre für unsere Anstalt und eine Kraft für unser Vaterland werden. Adieu!«

»Adieu, Herr Rektor!« sagte ich kleinlaut.[83]

»Der Pedell wird Ihnen die Rechnung,« – hier wandte sich der allwissende Basileus nochmals in voller Amtsstrenge nach mir zurück, »die Rechnung für die Schreinerarbeit an Bank Nummer acht, Kurszimmer siebzehn morgen zustellen. – Sie haben da gestern dreimal – Agnes! – hineingeschnitzelt!« –

Jetzt fielen auch die Hosen und ich stand nur noch im Hemd, im dünnen Armensünderhemd da.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 78-84.
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