Fünfzehntes Kapitel
Der Charakter unseres Helden, nebst dem Schluß dieser Geschichte.

[175] Jetzt wollen wir den Charakter dieses großen Mannes zu schildern und durch Zusammenstellung aller Züge, die in unsern Blättern hin und wieder zerstreut sind, ein vollkommenes Gemälde seiner Größe zu entwerfen suchen.

Jonathan Wild hatte jede zu einem Helden erforderliche Eigenschaft. Da seine mächtigste, seine herrlichste Leidenschaft Ehrgeiz war, so hatte auch die Natur mit bewundernswürdiger Schicklichkeit alle seine Kräfte und Anlagen auf dieses große Ziel gelenkt. Er war so reich an Plänen, wie an Mitteln, sie auszuführen; auch fehlte es ihm nicht an Entschlossenheit; denn niemals hielt ihn eine der armseligen Schwachheiten zurück, die so oft die Pläne gemeiner Seelen zerstören und die man insgemein unter dem Worte Ehrlichkeit begreift. Er war gänzlich frei von den kriechenden Lastern der Bescheidenheit und Gutmütigkeit, die seiner Meinung nach ein völliges Verzichten auf alle Größe voraussetzten und den Menschen auf immer unfähig machten, eine wichtige Rolle in der Welt zu spielen. Sein sinnliches Gelüste war seinem Ehrgeiz untergeordnet; aber von dem, was der Pöbel Liebe nennt, hatte er durchaus keinen Begriff. Unermeßlich war sein Geiz; indessen dachte er doch mehr darauf, alles an sich zu reißen, als zu behalten, was er hatte. Seine Habsucht war in der Tat so unersättlich, daß er sich immer nur mit dem Ganzen zufrieden gab; denn einen so beträchtlichen Anteil ihm seine Spießgesellen auch von jeder Beute überließen, so wußte er doch tausend Mittel anzuwenden, sie um jede Kleinigkeit zu bringen, die sie für sich behalten hatten. Er meinte, Gesetze seien bloß zum Behufe der Herren von der Industrie und verfehlten ihren Zweck allemal, wenn sie gegen diese Ehrenmänner gebraucht würden. Worauf er sich am meisten zugute tat und was er auch an andern vorzüglich zu ehren und zu belohnen pflegte, war Heuchelei. Seiner Meinung nach konnte man es in der Industrie ohne Heuchelei zu nichts rechtem bringen; man habe wenig von einem Manne zu erwarten, der seine Fehler eingestehe, aber desto mehr von einem, der sich mit großen Tugenden brüste. Darum pflegte er auch einen jeden zu meiden, der sich hatte auf einer guten Tat betreffen lassen; aber ein Mann von bekanntem gutem Charakter zog ihn immer an, weil er glaubte, er verdanke denselben mehr seinen Worten, als seinen Handlungen. Daher war[175] er selbst auch außerordentlich freigebig mit Beteuerungen seiner Redlichkeit und führte die Worte Tugend und Herzensgüte beständig im Munde. Auch trug er kein Bedenken, selbst in Gegenwart derer, die ihn durch und durch kannten, bei seiner Ehre zu schwören. Er entwarf sich verschiedene Maximen, die er auch auf seinem Wege zur Größe treu und redlich befolgte: zum Beispiel:

1. Tue niemals mehr Böses, als dein Plan erfordert; das Böse ist ein zu kostbares Ding, um es um nichts und wieder nichts wegzuwerfen.

2. Mache keinen Unterschied zwischen Menschen und Menschen; opfere sie alle mit gleicher Bereitwilligkeit deinem Vorteil.

3. Entdecke dich nie mehr, als unumgänglich notwendig ist.

4. Traue keinem, der dich betrogen hat oder der weiß, daß du ihn betrogen hast.

5. Verzeihe deinem Feinde nie; aber sei vorsichtig und langsam zur Rache.

6. Vermeide den Armen und Elenden, aber schließe dich so fest wie möglich an Mächtige und Reiche.

7. Lege dein Gesicht in gravitätische Falten und äußere bei jeder Gelegenheit ein weises Betragen.

8. Unter deinen Spießgesellen suche eine beständige Eifersucht rege zu halten.

9. Belohne keinen nach Verdienst; gib ihm aber jederzeit einen Wink, daß die Belohnung noch größer sei als sein Verdienst.

10. Vergiß nicht: daß alle Menschen Narren oder Schurken oder ein Gemisch von beiden sind;

11. daß man die Tugend ebensogut nachmachen kann, wie man kostbare Steine nachmacht, weil zu viele Kenntnis und Erfahrung dazu gehört, falsche Juwelen von echten zu unterscheiden;

12. daß mancher ehrliche Kerl zugrunde geht, weil er nicht ganz Spitzbube ist;

13. daß die Menschen ihre Tugenden ausschreien wie Kaufleute ihre Waren, bloß um dadurch zu gewinnen;

14. daß das Herz die eigentliche Wohnung des Hasses, das Gesicht aber der Sitz der Liebe und Freundschaft ist.

Er hatte noch mehr Maximen dieser Art entworfen, die man nach seinem Tode in seiner Studierstube fand, welche er aber weder hatte herausgeben, noch immer im Munde führen wollen, wie es einige Leute mit ihren Tugendmaximen machen. Aber durch die beständige Aufmerksamkeit auf diese Regeln hatte er eine solche Fertigkeit in ihrer Anwendung bekommen, daß er sie in jedem schwierigen Falle bei der Hand hatte und durch ihre Hilfe zu einem[176] Grade von Größe gelangte, den nur wenige haben erreichen, aber keiner hat überspringen können. Denn muß man gleich sagen, daß es einige wenige Helden gegeben hat, die der Menschheit vielleicht mehr Unheil zugefügt, als unser Wild, so müssen wir doch eingestehen, daß sie ihm in Rücksicht der wahren Größe nicht das Wasser reichen, wenn wir auf die Schwierigkeiten sehen, mit denen er kämpfen mußte, auf die unglücklichen Umstände, worein ihn das Glück versetzt hatte und durch welche er sich sozusagen erst eine Bahn zum Ruhm und zur Größe brechen mußte.

Auch hatte er keinen von den Flecken im Charakter, die vernünftige Schriftsteller an ihren Helden immer getadelt und gerügt haben, so viele Mühe sich auch der Schwachkopf gibt, sie herauszustreichen. Hierher gehören die Züge von Gutmütigkeit in Alexanders und Cäsars Charakter, die ebensowenig zu ihren eigentümlichen Gesinnungen passen, wie der lächelnde Mund einer Venus zum Gesichte eines Satyrs. In Wild war jeder Zug wahrhaft groß und ohne fremde Beimischung, und seine Unvollkommenheiten erstreckten sich nicht weiter, als hinlänglich war, ein menschliches Geschöpf in ihm zu erkennen, das nie den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht. Sein ganzes Betragen gegen seinen Freund Hartfree ist ein handgreiflicher Beweis, daß die eiserne Größe seines Herzens durch kein weiteres Metall verfälscht war. Wahrhaftig, solange das Wesen der Größe in Macht, Stolz, Unverschämtheit und Bosheit besteht, solange ein großer Mann und ein großer Spitzbube gleichbedeutende Wörter sind, wird niemand so vermessen sein, unserm Jonathan Wild den Rang der Größe streitig zu machen.

Da wir nun unsern Helden wohlbehalten auf den Gipfel des Ruhmes gebracht haben, werden vielleicht einige unserer Leser zu wissen verlangen, was aus Hartfree und seiner Familie geworden. Zu wissen denn, daß seine Leiden nun zu Ende waren, daß der gute Friedensrichter seinen Pardon ohne viele Mühe auswirkte und sich nicht eher zufrieden gab, als bis er ihm alle mögliche Genugtuung für sein erduldetes Unrecht verschafft hatte. Er wußte es dahin zu bringen, daß der Kommandeur des englischen Kriegsschiffes bei seiner Ankunft in England die Juwelen wieder herausgab, und sparte weder Fleiß noch Mühe, unsern Hartfree wieder in guten Kredit zu setzen. Als seine Gläubiger befriedigt waren, behielt Hartfree noch eine gute Summe übrig; denn der Diamant, den das Oberhaupt der Wilden seiner Frau geschenkt, war von einem großen Werte und ersetzte den Verlust der Juwelen, die Miß Stradle verschleudert hatte, mehr als hinlänglich. Er fing nun seinen Handel[177] wieder an. Das Mitleid mit seinen überstandenen Unglücksfällen verschaffte ihm unter allen wackern Leuten eine Menge Kunden, und er hat durch Fleiß und Sparsamkeit bereits ein hübsches Vermögen zurückgelegt. Er und seine Frau werden nun nachgerade alt, haben auch keine Kinder mehr bekommen; Freindly heiratete die älteste Tochter und ward sein Kompagnon. Die jüngste hat noch keine Heiratsvorschläge annehmen wollen, ungeachtet ein junger Edelmann sich um ihre Hand beworben und ihr Vater ihr zweitausend Pfund mitgeben wollen, sondern hat bei dieser Gelegenheit unserm Hartfree feierlich erklärt, sie wolle ihr Leben seinem Dienste weihen und dereinst sein hohes Alter pflegen und warten.

Hartfree, sein Weib, seine beiden Töchter und sein Schwiegersohn nebst deren Kindern leben alle in einem Hause, und das mit solcher wechselseitiger Freundschaft und Zuneigung, daß man sie in der ganzen Nachbarschaft die Familie der Liebe nennt.

Was die andern Personen betrifft, die wir in dieser Geschichte in dem Lichte der Größe dargestellt, so hatten sie alle das Glück, den Tod der Größe zu sterben, das ist: gehängt zu werden, ausgenommen ihrer zwei; nämlich Miß Theodosia Snap, die nach Amerika geschickt wurde, wo sie heiratete, sich besserte und ein gutes Weib wurde; und des Grafen, der, nachdem er sich von seiner Wunde, die der Eremit ihm beigebracht, wieder erholt hatte, nach Frankreich ging, wo er aber bald auf einem Straßenraub ertappt und gerädert wurde.

In der Tat, wer einigermaßen über das Schicksal großer Männer nachdenkt, muß bekennen, daß sie der Beifall, den die Welt ihnen doch nicht einmal mit willigem Herzen erteilt, teuer zu stehen kommt. Ja, bringen wir alle die Mühe, die Unruhen und Gefahren in Anschlag, die sie auf ihrem Wege zur Größe antreffen, so können wir nicht umhin, mit jenem Gottesgelehrten auszurufen: daß es nicht halb so viel Schweiß und Mühe kostet, in den Himmel zu kommen, als zum Teufel zu fahren. Die Wahrheit zu sagen, so hat die Welt nur einen Grund, solch einen Charakter zu ehren, wie wir hier aufgestellt: daß es nämlich in der Macht eines jeden steht, ein ehrlicher Mann zu bleiben, während unter Tausenden kaum einer Talent genug zu einem vollständigen Spitzbuben besitzt. Denn gewiß, wer auch immer, von Eitelkeit und Gewinnsucht geblendet, unserm Helden nachzuringen strebt, wird am Ende doch bedenken müssen, daß er weit zurückbleibt hinter Jonathan Wild dem Großen.[178]

Quelle:
-, S. 175-179.
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