Fünftes Kapitel
Enthält einige wunderbare Abenteuer, die unser Held mit großer Größe besteht.

[63] Wir wollen jetzt unsern Helden der Ruhe überlassen und zum Hause des Herrn Snap zurückkehren, wo sich Miß Theodosia, nachdem Wild davon gegangen, wieder an ihre Strümpfe gemacht hatte, indem Miß Lätitia zum Herrn Bagshot hinaufstieg; aber dieser Ehrenmann hatte sein Wort gebrochen, war in Gottes Namen die Treppe hinabgestiegen, hatte sich hinter einer Tür verborgen und war von da zu gleicher Zeit mit unserm Wild ins Freie geschlüpft. Wir müssen noch bemerken, daß Miß Lätitias Erstaunen um so größer war, als sie ungeachtet ihres Versprechens doch[63] die Vorsicht gebraucht hatte, die Türe abzuschließen; aber in der Eile war ihr das nicht recht gelungen. Wie unglücklich war doch die Lage dieser jungen Dame, die auf diese Weise nicht nur den Geliebten ihres Herzens verlor, sondern sich noch obendrein auch der Wut eines beleidigten Vaters ausgesetzt sah, der außerordentlich auf sein Ehrenwort hielt, welches er dem Sheriff von London und Middlesex für die sichere Bewachung des dickbesagten Bagshot gegeben und wofür sich obendrein noch zwei Ehrenmänner mit Haut und Haar verbürgt hatten.

Aber fort von diesem melancholischen Gegenstande! Sehen wir dafür lieber nach unserm Helden, welcher, nachdem er Miß Stradle freilich ohne Erfolg aufgesucht hatte, mit einer wunderbaren Geistesgröße und mit der ruhigsten Miene von der Welt in aller Frühe seinen Freund Hartfree besuchte, und das zu einer Zeit, wo der Troß gewöhnlicher Freunde ihn unstreitig würde verlassen haben.

Er trat mit einem fröhlichen Gesicht in die Stube, dem er aber sogleich eine Falte der Bestürzung und des Erstaunens zu geben wußte, als er seinen Freund im Schlafrock, mit verbundenem Kopf und außerordentlich blaß im Armstuhle sitzen sah. Als Hartfree ihm von seinem Unfall Nachricht gegeben, äußerte er zuvörderst sein aufrichtiges Beileid und brach darauf in fürchterliche Paroxysmen der Wut gegen die Räuber aus. Hartfree, der sich den tiefen Eindruck zu Herzen nahm, den sein Unglück auf seinen Freund zu machen schien, bemühte sich, es in einem so schwachen Lichte darzustellen, als nur immer möglich war, indem er zu gleicher Zeit die Verbindlichkeiten zu erheben und herauszustreichen wußte, die er seiner Meinung nach gegen unsern Wild hatte; hierin stand ihm auch seine Frau treulich bei, und sie frühstückten mit mehr guter Laune, als man nach so einem Vorfall hätte erwarten sollen. Hartfree bezeugte seine Zufriedenheit, daß er den Wechsel des Grafen in ein anderes Taschenbuch gesteckt hätte, denn so ein Verlust, meinte er, würde ihn gänzlich ruiniert haben; »denn, die Wahrheit zu sagen, lieber Freund, so hab ich vor kurzem einige Verluste erlitten, die meine Umstände sehr in Unordnung gebracht haben; und hab ich gleich noch Schulden bei Leuten von Stand ausstehen, so weiß ich doch für jetzt nicht einen Schilling zu bekommen.« Wild wünschte ihm Glück, daß er wenigstens den Wechsel gerettet, und dann fuhr er mit großer Heftigkeit über die Grausamkeit solcher Standespersonen her, die einem Handelsmann sein Geld vorenthielten.

Währenddessen sie sich so unterhielten und Wild noch mit sich[64] selbst uneins war, ob er von seinem Freunde borgen oder ihn bestehlen, oder ob ihm nicht vielmehr beides gelingen sollte, brachte der Lehrbursche eine Banknote von fünfhundert Pfund herein und sagte zu Hartfree, eine Dame, die im Laden einige Juwelen besehen hätte, lasse ihn bitten, ihr diese Note zu wechseln. Hartfree sah die Nummer an und erkannte sogleich, daß dies eben die Note wäre, die man ihm gestohlen. Er machte nun unsern Wild mit dieser Entdeckung bekannt, der ihm mit einer merkwürdigen Gegenwart des Geistes und ohne im mindesten sein Gesicht zu verändern, riet, ja bedächtig zu Werke zu gehen; zu gleicher Zeit erbot er sich unter dem Vorwande, Herr Hartfree sei zu unruhig, um die verdächtige Person mit gehöriger Kunst zu befragen, sie in einem Zimmer ganz allein zu vernehmen. Er sagte, er wolle sich für den Herrn des Ladens ausgeben, wolle ihr einige Juwelen vorzeigen, und es solle ihm nicht schwer werden, die nötige Kundschaft von ihr einzuziehen und ihm so wieder zu seinem verlorenen Gelde zu verhelfen. Diesen Vorschlag nahm Hartfree mit allem Dank an. Wild verfügte sich in eine Stube im zweiten Stocke, wohin auch der Bursche das Frauenzimmer brachte, wie sie es verabredet hatten.

Kaum war die Dame ins Zimmer getreten, so ward der Bursche unten abgerufen, und nachdem Wild die Türe verschlossen hatte, ging er mit einem grimmigen Blick auf sie zu und deklamierte über die Schändlichkeit des Verbrechens, dessen sie sich schuldig gemacht; aber so schön seine Moral auch sein mochte, so zweifeln wir doch aus gegründeten Ursachen, daß sie viel Wirkung auf den Leser machen werde, und lassen sie daher in Gottes Namen aus; nur daß wir das Ende seiner Rede nicht mit Stillschweigen übergehen dürfen, wo er nämlich fragte: ob sie wohl einige Rechnung auf seine Gnade machen könne? Miß Stradle – denn diese junge Dame war Miß Stradle in eigner Person –, die eine gute Erziehung genossen hatte und mehr als einmal in Old Bailey zugegen gewesen war, leugnete die Schuld keck und dreist und sagte, sie habe die Note von einer Freundin bekommen. Wild aber erhob seine Stimme und sagte, er würde sie augenblicklich einziehen lassen, und dann könne sie sicher darauf rechnen, daß sie werde überwiesen werden – »doch«, fügte er hinzu, indem er einen andern Ton annahm, »ich liebe dich aufs zärtlichste, meine teure Stradle; und willst du meinem Rate folgen, so verspreche ich dir bei meiner Ehre, dir nicht nur zu verzeihen, sondern dich auch niemals wieder dieser Sache wegen zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Was ist es denn, das ich tun soll, Herr Wild?« erwiderte die junge Dame mit freundlicher Miene. »Wisse denn«, gegenredete[65] Wild, »daß ich das Geld, welches du mir aus der Tasche gemaust (und das tatest du – oder wenn du es leugnen willst, werde ich Mittel finden, dir den Mund zu öffnen), daß ich das Geld im Spiele von einem Buben gewonnen habe, der es, wie mir vorkommt, meinem Freunde gestohlen; darum mußt du ein Zeugnis und einen Eid gegen einen gewissen Thomas Fierce ablegen und sagen, du habest die Note von ihm bekommen; das weitere überlasse mir. Gewiß – du wirst deine Verbindlichkeit gegen mich erkennen; denn laß ich dir nicht auf diese Weise Gnade für Recht widerfahren?« Die Dame gab von ganzem Herzen ihre Einwilligung und machte Miene, Herrn Wild zu umarmen, der aber ein wenig zurücktrat und ausrief: »Halt, Maria! Du bist mir noch Rechenschaft wegen zwei anderen Noten, jede zu zweihundert Pfund, schuldig: Wo sind sie?« Die Dame beteuerte mit vielen Schwüren, sie wüßte von keiner anderen Note, und als sich Wild damit nicht abspeisen ließ, schrie sie: »Durchsuchen Sie meine Taschen!« – »Das soll geschehen«, erwiderte Wild; »man wird dich visitieren, und zwar bis aufs Hemde.« Dann machte er sich an die Arbeit und durchstöberte alle ihre Taschen – aber umsonst; bis sie endlich in einen Strom von Tränen ausbrach und erklärte, sie wolle ihm reinen Wein einschenken. Dies geschah denn auch; sie bekannte nämlich, sie hätte die eine Note einem Irländer namens Hans Swagger gegeben: dieser war ein großer Liebling der Damen, war erst Schreiber bei einem Advokaten gewesen, dann aber von einem Dragonerregiment weggepeitscht worden; jetzt machte er in Newgate den Sachwalter und trieb sich in allen Bordells herum; was die andre Note anbetreffe, so habe sie sie bereits diesen Morgen für Seide und Brabanter Spitzen ausgegeben.

Wild sah sich genötigt, mit dieser Nachricht, die in der Tat wahrscheinlich genug war, zufrieden zu sein; auch ließ er jeden Gedanken fahren, das wiederzubekommen, was ihm unwiederbringlich verloren schien, und gab der Dame statt dessen fernere Instruktionen, wie sie sich verhalten sollte; dann befahl er ihr, seine Rückkunft zu erwarten, ging zu seinem Freunde und sagte ihm, er hätte die ganze Spitzbüberei entdeckt; das Mädchen hätte bekannt, von wem sie das Geld erhalten, auch versprochen, ihr Geständnis bei einem Friedensrichter niederzulegen; es täte ihm nur leid, daß er ihn nicht dahin begleiten könnte, weil er nach dem andern Ende der Stadt gehen müßte, um dort dreißig Pfund zu heben, die er diesen Abend bezahlen müßte. Hartfree sagte, dieser Umstand solle ihn nicht um seine Gesellschaft bringen, denn er könne ihm so eine Kleinigkeit sehr leicht vorstrecken. Dies nahm Wild auch[66] an, und so gingen sie beide in Gesellschaft der Dame zu einem Friedensrichter.

Als nun der Verhaftsbefehl ausgefertigt und der Constable von dem Mädchen (die ihrerseits von Wild gestempelt war) die gehörige Nachricht von Fierces Aufenthalt eingezogen hatte, ward dieser in Verhaft genommen und mit Miß Stradle konfrontiert, die auch keck gegen ihn schwur, ob sie ihn gleich in seinem Leben nicht gesehen hatte; er ward nun nach Newgate gebracht, woselbst er unsern Wild sogleich von seinem Unglück Nachricht geben ließ, der ihn auch denselben Abend noch besuchte.

Wild stellte sich außerordentlich betrübt über den Unfall seines Freundes und verwunderte sich höchlich über die Art und Weise, wie die ganze Geschichte an den Tag gekommen. Indessen, meinte er, müsse Fierce sich doch in dem Punkte irren, daß er keine Bekanntschaft mit Miß Stradle gehabt; doch, fügte er hinzu, wolle er sie aufsuchen und sich alle ersinnliche Mühe geben, ihr Zeugnis zu entkräften, das überhaupt nicht gültig genug sei, sein Leben in Gefahr zu bringen; überdem wolle er ihm noch Zeugen für ein Alibi und fünf oder sechs andere für seinen Charakter verschaffen, so daß er auf jeden Fall ganz ruhig sein könne. Fierce, den diese Versicherungen unseres Freundes außerordentlich trösteten, stattete ihm seinen herzlichsten Dank ab, und nachdem sie sich recht freundschaftlich die Hände gedrückt und geschüttelt hatten, gingen sie auseinander.

Unser Wild überlegte nun, daß das bloße Zeugnis der Miß Stradle nicht hinlänglich sein würde, Fierce zu verdammen, den er aber durchaus an den Galgen bringen wollte, weil er sich unter allen am meisten geweigert hatte, die Beute nach Wilds Muster zu teilen. Er suchte daher Herrn Jakob Sly auf, der zugleich mit Fierce das Abenteuer bestanden hatte, und, als er ihn gefunden, gab er ihm von Fierces Gefangennehmung Nachricht; zu gleicher Zeit äußerte er seine Besorgnis, Fierce möchte Sly ebenfalls anklagen, und riet ihm daher, jenem das Prävenire zu spielen und sich dem Friedensrichter als Zeuge gegen Fierce anzutragen. Sly billigte dieses außerordentlich, ging stehenden Fußes zu der Magistratsperson, ließ sich festnehmen und versprach, als Zeuge gegen seinen Spießgesellen aufzutreten.

Binnen wenigen Tagen wurde Fierce nun in Old Bailey inquiriert und wunderte sich nicht wenig, seinen alten guten Freund neben Miß Stradle gegen sich als Zeugen erscheinen zu sehen. Seine einzige Hoffnung war noch Wilds Beistand, der blieb aber aus. Weil nun das gültigste Zeugnis gegen ihn beigebracht wurde,[67] er sich auch auf keine Weise verteidigen konnte, so erkannten ihn die Geschworenen für schuldig. Der Gerichtshof verdammte ihn, und Herr Ketsch richtete ihn hin.

Mit solch unendlicher Geschicklichkeit wußte dieser wahrhaft große Mann auf die Leidenschaften der Menschen zu wirken, sie miteinander in Streit zu bringen und Furcht, Neid und Eifersucht zu seinen Plänen anzuspannen; welche Leidenschaften er durch Hilfe jener großen Künste leicht zu erregen wußte, die der Pöbel Verräterei, Verstellung, Versprechungen, Lügen, Falschheit usw. nennt, die der große Mann aber in dem Namen Politik zusammenfaßt; eine Kunst, in der es unser Held ebenso gewiß am weitesten gebracht hatte, wie es nicht zu leugnen steht, daß sie der höchste Grad der menschlichen Vortrefflichkeit ist.

Quelle:
-, S. 63-68.
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