Zweites Kapitel.

[91] Der Held dieser großen Geschichte erscheint unter sehr schlimmen Vorbedeutungszeichen. Eine kleine Erzählung von so niedriger Gattung, daß einige meinen werden, sie hätte wohl wegbleiben können. Ein paar Worte über einen Landjunker und mehrere über einen Wildmeister und über einen Schulmeister.


Da wir uns, sowie wir uns niedersetzten, diese Geschichte aufzuschreiben, alsobald vornahmen, keinem Menschen zu schmeicheln, sondern unsere Feder durchgängig nach Anweisung der Wahrheit zu führen, so sind wir genötigt, unsern Helden auf eine viel nachteiligere Weise auf die Bühne zu bringen, als wir wohl gewünscht hätten, und selbst bei diesem ersten Auftritte ganz ehrlich und redlich zu gestehen, daß alle Hausgenossen des Herrn Alwerth der einstimmigen Meinung waren, er sei gewiß zum Galgen geboren.

In der That, es thut mir leid, es zu sagen! es waren nur zu viele Gründe für diese Ahnung vorhanden. Der Bursche hatte von seinen frühesten Jahren an einen Hang zu manchen Lastern geäußert, und besonders zu einem, welches ebenso geraden Weges als alle übrigen zu diesem Ende führt, das, wie wir eben bemerkt haben, ihm in prophetischem Geiste vorher verkündigt ward. Er war bereits dreier Verbrechen wider das siebente Gebot überwiesen worden, nämlich der Beraubung eines Obstgartens, des Diebstahls einer Ente vom Hofe eines benachbarten Pächters, und der Mauserei eines Balls aus der Tasche des kleinen Blifil.

Die Laster dieses Jünglings bekamen dabei noch eine häßlichere Gestalt durch das nachteilige Licht, in welchem sie erschienen, wenn sie den Tugenden des jungen Herrn Blifils, seines Spielkameraden, entgegengestellt wurden: ein Jüngling von einer so verschiedenen Gemütsart von Jones, daß nicht nur die Leute des Hauses, sondern die ganze Nachbarschaft ihn lobpreiseten. Er war in der That ein Knabe von hervorstechendem Charakter, eingezogen, klug und fromm über sein Alter. Eigenschaften, welche ihm die Liebe eines jeden gewannen, der ihn nur kannte; währenddessen den Tom Jones niemand leiden mochte, und mancher seine Verwunderung äußerte, wie Herr Alwerth zugeben könnte, daß ein solcher Junge[91] mit seinem Neffen erzogen würde, weil die Lippen des letzteren so leicht durch sein Beispiel verdorben werden könnten.

Ein Zufall, welcher sich ungefähr um diese Zeit zutrug, wird die Charaktere dieser beiden Jünglinge dem einsichtsvollen Leser weit richtiger darstellen, als es durch die längste Dissertation möglich ist.

Tom Jones, der nun einmal, so schlecht er auch ist, unserer Geschichte zum Helden dienen muß, hatte nur einen Freund unter allen Bedienten des Hauses, denn Jungfer Wilkins hatte sich seiner schon längst entsagt und war mit ihrer gnädigen Frau völlig wieder ausgesöhnt. Dieser Freund war der Wildmeister oder Förster, ein Kerl von sehr lockern Sitten, und von dem man meinte, er habe eben nicht viel richtigere Begriffe von dem Unterschiede zwischen meum und tuum, als das junge Herrchen selbst, und dieserwegen gab diese Freundschaft Gelegenheit zu manchen beißenden Anmerkungen, wovon die meisten entweder schon Sprichwörter waren, oder es doch wenigstens nachher geworden sind, und in der That kann man den Witz von allen in dem kurzen lateinischen Spruche begreifen: Noscitur a socio, welchen soviel ich weiß, unsere Vorfahren auf folgende Art ausdrückten: Gleich sucht sich, gleich find't sich! – Die Wahrheit zu sagen, mochte wohl etwas von der abscheulichen Ruchlosigkeit des Jones, wovon wir eben drei Beispiele angeführt haben, der Aufmunterung zuzuschreiben sein, die er von diesem Kerl erhalten hatte, welcher in zwei oder drei Fällen das gewesen war, was man einen Hehler oder Teilnehmer nach der That heißt, denn die ganze Ente und ein großer Teil von den Aepfeln ward im Gebrauche des Wildmeisters und der seinigen verwendet, obgleich Jones, der arme Bursche, weil er allein entdeckt ward, nicht nur den ganzen Schmerz, sondern auch den ganzen Tadel allein davontragen mußte, und beides fiel ihm abermals, bei folgender Gelegenheit, zum Lose. Hart an Herrn Alwerths Ländereien lag der Wohnsitz eines jener Landjunker, die man Wildheger nennt. Wegen der großen Strenge, womit diese Gattung von adeligen Herrn den Tod eines Hasen oder Feldhuhns rächen, sollte man glauben, sie wären von der abergläubischen Sekte der Bannianen in Indien, von welchen manche, wie uns erzählt wird, ihr ganzes Leben zur Verteidigung und Beschützung gewisser Tiere widmen, wenn nicht unsere engländischen Bannianen, derweil sie solche gegen andere Feinde verteidigen, höchst unbarmherziger Weise ganze Pferdeladungen davon niederschössen; dergestalt also muß man sie wohl von jenem heidnischen Aberglauben los und ledig sprechen.

Ich habe wirklich eine bessere Meinung als alle andern von dieser Gattung von Landedelleuten, weil ich dafür halte, daß sie[92] der Ordnung der Natur und den guten Endzwecken, zu welchen sie da sind, auf eine sehr thätige Weise entsprechen. So wie nun Horaz uns sagt, daß es eine Art menschlicher Geschöpfe gibt,


»Fruges consumere nati«


»geboren, die Früchte des Landes zu verzehren,« so zweifle ich im geringsten nicht, daß es eine andere gibt,


»Feras consumere nati«


»geboren, das Vieh des Feldes zu verzehren,« oder wie man's gemeiniglich nennt, das Wild. Und ich sollte denken, niemand wird es leugnen wollen, daß diese Junker den Zweck ihrer Schöpfung redlich erfüllen.

Der kleine Jones ging eines Tages mit dem Wildmeister auf die Jagd, als zufälligerweise nahe an der Grenze jenes Landsitzes, über welchen die Glücksgöttin, den weisen Zweck der Natur zu erfüllen, einen von jenen Wildverzehrern zum Herrn gesetzt hatte, eine Kitte Feldhühner aufstieg. Die Vögel flogen über die Grenze, und wurden von den beiden Weidmännern in einem Tangelbusche, ungefähr dreihundert Schritte aus dem Revier des Herrn Alwerth, gemarkt.

Herr Alwerth hatte dem Wildmeister strenge Befehle gegeben, bei Verlust seines Dienstes die Wildfuhr seiner Nachbarn zu vermeiden; selbst sogar derjenigen, welche in diesem Punkt nicht so heikel waren als der Herr des ebengedachten Gutes. In Ansehung der übrigen waren nun freilich die Befehle nicht immer sehr gewissenhaft befolgt worden; da aber die Gesinnungen des Junkers, bei welchem die Feldhühner sich in Schutz begeben hatten, ganz ruchbar waren, so hatte es der Wildmeister noch nicht gewagt, ihm ins Gehege zu gehen. Auch hätte er's jetzt noch nicht gethan, hätte ihn nicht der jüngere Geselle, welcher außerordentlich hitzig war, das Flügelwild zu verfolgen, ihn dazu überredet; bei Jones' Andringen aber gab er, da er schon selbst schießlustig genug war, diesen Bitten nach, setzte über das Mal und schoß eins von den Hühnern.

Dieser Grenznachbar war eben zu Pferde in einer geringen Entfernung von ihnen, und als er den Schuß fallen hörte, ritt er augenblicks nach der Stelle zu und entdeckte den armen Jones, denn der Wildmeister war in ein Dickicht des Tangelbusches gesprungen, woselbst er sich glücklich verborgen hielt.

Nachdem der Junker den Burschen durchsucht und das Feldhuhn bei ihm gefunden hatte, gelobte er ihm bittere Rache und schwur: er wolle es Herrn Allwerth anzeigen. Er hielt redlich Wort, denn er ritt von der Stelle nach seinem Hause und beklagte sich[93] über den Einfall in sein Gehege mit ebenso kräftigen Worten und bittern Redensarten, als ob man Einbruch in sein Haus gethan und das köstlichste Gerät daraus gestohlen hätte. Er fügte hinzu, daß noch ein anderer Bursche dabei gewesen, ob er ihn gleich nicht hätte entdecken können, weil zwei Gewehre fast in einem Augenblick wären abgeschossen worden, »und«, sagt' er, »ich habe wohl nur dies eine Stück gefunden, aber Gott weiß, welchen großen Schaden sie mir angerichtet haben.«

Bei seiner Heimkunft ward Tom augenblicklich vor Herrn Alwerth zu erscheinen beordert. Er gestand die That ein, und führte nichts zur Entschuldigung an, als was wirklich wahr war, nämlich, daß das Volk in der eigenen Markung des Herrn Alwerth aufgestiegen wäre. Hierauf ward Tom befragt, wen er bei sich gehabt hätte? Und Herr Alwerth erklärte ihm, daß er das ein für allemal wissen wolle; dabei er ihm den Umstand mit den beiden Flinten vorhielt, welchen der Junker und seine beiden Bedienten in der Klage urgiert hatten; allein Tom beharrte standhaft dabei, er sei allein gewesen, doch stockte er die Wahrheit zu sagen anfangs ein wenig, welches dann Herrn Alwerths Glauben bestärkt haben würde, wofern das, was der benachbarte Junker und seine beiden Bedienten denunziert hatten, einer weiteren Bekräftigung bedurft hätte.

Der Wildmeister ward, als sonst bereits anrüchig, herbeigeholt und ihm die Frage vorgelegt; er aber, der sich auf das Versprechen, was ihm Tom gethan hatte, verließ, verneinte ganz kecker Weise, daß er in der Gesellschaft des jungen Herrn gegangen wäre, oder ihn nur den ganzen Nachmittag mit Augen gesehen hätte.

Hierauf wandte sich Herr Alwerth an Tom mit mehr als gewöhnlichem Verdruß im Gesicht, und riet ihm zu bekennen, wer mit ihm gewesen wäre, mit nochmaliger Wiederholung, er bestehe darauf, es zu wissen! Der junge Mensch blieb indes fest auf seiner Entschließung, und ward von Herrn Alwerth in großem Zorn entlassen, der ihm sagte: bis zum nächsten Morgen habe er noch Bedenkzeit, dann solle er von einer andern Person und auf eine andere Art verhört werden.

Der arme Knabe hatte eine sehr melancholische Nacht! Um so mehr, da er seinen gewöhnlichen Kameraden vermißte; denn der junge Herr Blifil war mit seiner Mutter auf einen Besuch gegangen. Furcht vor der Strafe, die ihm bevorstand, war bei dieser Gelegenheit sein geringster Kummer. Seine größeste Angst war, es möchte ihn seine Standhaftigkeit verlassen und er dahin gebracht werden, den Wildmeister zu verraten, wodurch dieser, wie er wußte, völlig unglücklich werden müßte.

Der Wildmeister brachte seine Zeit ebenfalls nicht viel ruhiger[94] hin. Er hatte mit dem Jüngling einerlei Besorgnis, für dessen Ehre er gleichfalls mehr Zärtlichkeit empfand, als für dessen Haut.

Als Tom des folgenden Morgens Sr. Ehrwürden, Herrn Schwöger (der Mann, dem Herr Alwerth den Unterricht der beiden Jünglinge anvertrauet hatte) aufwartete, wurden ihm von diesem Herrn dieselbigen Punkte wieder vorgelegt, worüber er des Abends vorher war befragt worden, auf die er eben dieselbige Antwort gab; die Folge davon war ein so derber Schilling, daß die Schmerzen davon vielleicht nahe an die Tortur grenzten, womit man in einigen Ländern den Verbrechern das Geständnis abnötigt.

Tom ertrug diese Züchtigung mit großer Standhaftigkeit, und obgleich ihn sein Lehrer zwischen jedem Hiebe fragte: Will man gerne bekennen? so wollte er sich doch lieber die Haut abschinden lassen, als seinen Freund verraten oder sein gegebenes Wort brechen.

Der Wildmeister war nun von seiner Angst befreit, und Herr Alwerth selbst begann mit Tom und seinen Schmerzen Mitleid zu fühlen; denn überdem, daß Herr Schwöger, der sich heftig darüber erboste, daß er den Knaben nicht dahin bringen konnte, zu sagen, was ihm beliebte, die Strenge sehr viel weiter trieb, als die Meinung des guten Pflegevaters war: so fing dieser letzte auch an zu mutmaßen, der Junker Nachbar könne sich geirrt haben, welches sein außerordentlicher Eifer und Aerger wahrscheinlich zu machen schien, und was das Zeugniß der Bedienten zur Bekräftigung ihres Herrn anlangte, so hielt er das nicht eben für sehr wichtig. Da nun Grausamkeit und Ungerechtigkeit zwei Ideen waren, deren Verschuldung sich bewußt zu sein, er nicht eine einzige Minute aus halten konnte, so ließ er Tom zu sich rufen und sagte zu ihm nach mancher sanften und freundlichen Vermahnung: »Ich bin überzeugt, mein liebstes Kind, daß ich dir mit meinem Verdachte zu wehe gethan habe; es thut mir leid, daß du darüber so strenge gezüchtigt bist.« Und schenkte ihm zuletzt zum Schmerzensgelde ein kleines Pferd, wobei er nochmals sein Bedauern über das Vorgegangene bezeugte.

Hierdurch ward sein Gewissen zu weit schärfern Bissen gereizt, als durch alle Strenge hätte geschehen können. Er konnte die Hiebe des ehrwürdigen Schwögers leichter ertragen, als die Großmut des Herrn Alwerth. Die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er fiel auf die Kniee und rief aus: »Ach liebster Herr Vater, Sie sind zu gütig gegen mich! Gewiß, das sind Sie! In der That, ich bin's nicht wert.« Und in eben dem Augenblicke hätte er fast aus voller Herzensergießung das ganze Geheimnis verraten. Allein der gute Genius des Wildmeisters flüsterte ihm zu, was es für Folgen[95] über den armen Kerl bringen würde, und diese Rücksicht versiegelte ihm die Lippen.

Schwöger that alles, was er konnte, um Herrn Alwerth auszureden, dem Knaben Güte und Mitleiden zu bezeigen und sagte dabei: »er sei auf einer Unwahrheit bestanden,« und ließ sich soviel merken, eine zweite Geißelung möchte wohl die Wahrheit herausholen können.

Herr Alwerth aber weigerte sich rund aus, zu diesem Versuche seine Einwilligung zu geben. Er sagte, der Knabe habe bereits genug für die Verhehlung der Wahrheit gelitten, wenn er auch schuldig wäre; indem man sähe, er könne dabei keinen andern Bewegungsgrund haben, als eine mißverstandene Ehrliebe.

»Ehrliebe!« rief Herr Schwöger mit einiger Hitze, »klare Hartnäckigkeit! Barer Starrsinn! Kann Ehrliebe jemand lehren, Lügen zu sagen? Kann die geringste Ehre ohne Religion bestehen?«

Dies Gespräch fiel am Tische, zu Ende der Mittagsmahlzeit vor und waren dabei Herr Alwerth, Herr Schwöger und noch ein dritter Herr, der sich nun mit in die Untersuchung mischte und den wir, ehe wir einen Schritt weiter gehen, ganz in der Eile unserm Leser zur nähern Bekanntschaft präsentieren wollen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 91-96.
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