Von Heinrichs Hand

[217] So weit schrieb mein unglücklicher Freund; als eine gefährliche Krankheit ihm auf lange Zeit jede Geistesanstrengung unmöglich machte.

Zwar fanden wir noch manche abgerissene Aufsätze von seiner Hand; welche uns überzeugten: daß er ein sechstes Buch den vorhergehenden fünfen habe hinzufügen wollen. Aber theils waren sie so unleserlich geschrieben, daß es unmöglich schien, einen vollständigen Sinn heraus zu bringen; theils verrieth das Wenige was wir entziffern konnten, eine so ungerechte Strenge gegen sich selbst: daß wir uns an seiner[217] Asche versündigen würden, wenn wir es mittheilen wollten.

Aber wenn er seine Verirrungen schilderte; so fordern uns Dankbarkeit und Gerechtigkeit auf: seine Rückkehr zur Tugend, und seinen Edelmuth nicht zu verschweigen.

Wo die Wahrheit so schön, und so rührend ist, da kann man des Schmuckes entbehren. – Dieser Gedanke giebt mir Muth den Faden seiner Geschichte wieder aufzunehmen.


Mariens Geheimniß war verrathen – und mein unglücklicher Freund trug die Hölle in seinen Busen. – Er hatte in Stunden der innigsten Vertraulichkeit meiner Neigung zu ihr erwähnt, und wenn Marie jetzt bey meinem Namen erröthete;[218] so gesellten sich alle Qualen der Eifersucht zu den Martern der Selbstverachtung, und der trostlosen Verzweiflung. –

Er ward krank, glaubte sein Ende nahe, und konnte – was auch sein Herz dabey leiden mogte – die Begierde nicht unterdrücken, mich noch einmal zu umarmen.

Ich sah Marie wieder – aber ich hatte mit ihm an einer Brust gelegen, – ich hatte so Manches für ihn, und mit ihm gelitten – ich konnte jetzt nur Sinn für seinen Verlust haben.

Doch er sollte für dieses Mal uns noch erhalten werden. Der Arzt rieth zu einer Veränderung des Aufenthalts, wir wählten Berlin, und Marie begleitete uns. Ach wer konnte ahnen was seiner dort wartete! –

Schon glaubten wir ihn völlig wieder hergestellt. Mariens unnachahmliche Sorgfalt, und ihr seelenerschütterndes Leiden bey seiner Gefahr, schien alle Spuren der Eifersucht[219] aus seinem Herzen vertilgt zu haben. Zwey Mal wollte ich mich von ihm trennen, aber er beschwor mich, ihn nicht mehr zu verlassen.

So durch die reinste und zärtlichste Freundschaft vereinigt; sahen wir einer heitern Zukunft entgegen. Marie lebte nur in ihrem Gustav – hatte Alles vergessen, was ihr vormahls noch wünschenswürdig schien, und meine Empfindung gegen sie waren mit einer so tiefen Achtung verbunden: daß wir alle unsre Ruhe für immer gesichert glaubten.

Aber mein unglücklicher Freund konnte seinem Schicksale nicht entgehen. Ein Fremder, der ihm empfohlen und mit seinem Gemüthszustande unbekannt war, verleitete ihn, nachdem sie von mehrern Merkwürdigkeiten der Stadt zurückkamen, die Charite zu besuchen.[220]

Hier fand er Röschen, das bejammernswürdige Mädchen, deren Unschuld er vormahls geraubt hatte, in dem qualvollsten und schauderhaftesten Zustande.

Sie war völlig unkenntlich, aber ein Schrey des Entsetzens verrieth sie. – Man brachte meinen unglücklichen Freund, ohne Bewußtseyn, in Mariens Zimmer, und mehrere Tage vergingen, ehe wir hoffen konnten, daß er es jemahls wieder erhalten würde.

Endlich erkannte er mich, und – – – doch es ist mir unmöglich die Leiden dieser schönen, gefallenen Menschenseele zu schildern. – Ach wir litten selbst zu viel – wir verloren die Fähigkeit zu beobachten.

Aber mit einem Male schien eine neue Lebenskraft ihn zu erfüllen. Er erhob sich ohne alle Hülfe von seinem Lager – sein Auge glänzte, seine Lippen bewegten sich,[221] ein großer Entschluß schien plötzlich in seiner Seele zu reifen.

Er befahl seinen Wagen bereit zu halten, und kündigte uns an: daß er bis zum Ende des Sommers auf eins seiner benachbarten Güter gehen würde.

Mariens wiederholte Bitten ihn zu begleiten, waren vergeblich. Er behauptete: nur durch eine gänzliche Abgeschiedenheit von Allem was er liebe, geheilt werden zu können. Der Arzt trat auf seine Seite, und so blieben wir das Herz voll schmerzhafter Ahnung zurück.

Schon war die bestimmte Zeit vorüber, und noch hatten wir ihn nicht gesehen. – Marie war entschlossen, auf die Gefahr seines Unwillens, ihm zu folgen, als der Arzt ihr entdeckte: daß Gustav daran arbeite, sich für immer von ihr trennen zu lassen. Er halte sich ihrer nicht würdig,[222] und die Sache würde vielleicht schon entschieden seyn, wenn er sie nicht übernommen, und Gustav auf diese wohlthätige Weise getäuscht hatte. Er hoffte, daß eine kurze Trennung hinreichen würde ihn vor allen ähnlichen Gedanken zu bewahren.

Jetzt flog Marie zu meinem unglücklichen Freunde; aber sie kam zu spät. – Ein Nervenfieber hatte ihn aufs Krankenlager geworfen, und wir sahen bald, daß alle Hoffnung dahin sey.

Mit einem Blick der höchsten Liebe legte er Mariens Hand in die meinige, und verschied in unsern Armen. –

Sechs Söhne und vier Töchter blühen um uns auf; aber ihr Lächeln hat die Erinnerung seiner Leiden nicht in unserm Herzen vertilgen können.

Die theuren, geliebten Kinder! sie haben sein Grab mit Rosen bepflanzt, und kennen[223] ihn unter den Namen des unglücklichen Freundes.

Mein ältester Sohn, ein Jüngling von siebzehn Jahren hat seine Geschichte gelesen, und oft, wenn seine jüngern Brüder den Hügel umschwärmen, sehe ich ihn gedankenvoll an Gustavs Grabe verweilen.

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 217-224.
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