Fünfzehnter Stremel.

[308] Sinne, öffnet eure Tore!

Grabbe


Die Äquinoktien!

Herbsttagundnachtgleiche!

Die bösen Tage sind angebrochen: Land und See stehen in großer Angst. Ringsum lauern die grauen Stürme, die die Natur brechen und die Sonnenkraft totmachen sollen: wie Schwerter an Zwirnsfäden hängen sie an den Wolken: jeden Tag und jede Stunde können sie fallen.

Wie im Bann liegt der Deich an stillen Tagen, wie im Krampf bebt er bei unruhigem Wetter. In vielen Häusern liegt die Bibel jeden Abend aufgeschlagen auf dem Tisch. Mehr als sonst noch achten die Frauen auf Wind und Wetter, und die Finkenwärder Nachrichten mit der Cuxhavener Meldung über die hinter der Alten Liebe liegenden Ewer und Kutter reißt eine der andern aus den Händen. Jeder Ankömmling aber wird befragt: Weeß nix von Jan af oder hest Hinnik ne sehn, oder hett Paul ne bi jo fischt? Wie beben sie, wenn abends eine schwere Wolkenwand seewärts auf der Elbe steht, oder wenn die Winde im Schornstein sausen!

In dieser Zeit werden keine Hochzeiten gefeiert. Es ist eine stille, bange Zeit.

Glücklich preist sich die Frau, deren Mann seinen Ewer anbinden und auflegen kann: das können und wollen aber nur wenige, denn die Zeiten sind schon[309] nicht mehr danach, daß man mit dem Sommerfang auskäme: es muß auch winters gefischt und verdient werden.

Ein furchtbarer Ernst umkrallt die Segel, die den Stürmen entgegenfahren.


* * *


Klaus Mewes fischt auf der Doggerbank, hundertfünzig Seemeilen hinter Helgoland auf der Höhe von Hornsriff. Mit der abnehmenden Sonnenwärme haben die Fische die seichten Küsten verlassen und sind nach der Mitte der Nordsee, in die Tiefe geschwommen, wo das Wasser wärmer und der Grund stiller ist. Wer noch einen guten Streek tun will, der muß Helgoland und Neuwerk weit hinter sich lassen und sich schutzlos der weiten See anvertrauen. Die Schollen müssen aus den Stürmen herausgeholt werden.

Es sind nur die größten Kutter und die stärksten Ewer, die diesen Winterfang betreiben können: die andern liegen scharenweise zu Cuxhaven und warten auf den Hering.

Klaus Mewes fischt auf der Doggerbank.

Sein Ewer ist gut, seine Segel sind stark, seine Leute sind erprobt, und für sich selbst kann er auch einstehen: so kurrt er getrost zwischen den Engländern und Holländern und läßt seine deutsche Flagge im Winde wehen. Es verschlägt ihm nichts, wenn die See einmal so grob wird, daß er reffen[310] muß, oder wenn der Wind es so gut meint, daß er das Netz einhieven und treiben lassen muß: gefischt wird doch wieder, und wer die Wache hat, der singt in jeden Wind hinein, denn die Fröhlichkeit von Klaus Mewes erfüllt das ganze Schiff. Nichts fehlt ihnen als der kleine Klaus Störtebeker, von dem sie noch jeden Tag sprechen.

Im Süden segeln zwei schwere Finkenwärder Austernkutter, als wenn sie binnen wollen: aber Klaus Mewes meint, sie tun es, weil sie die Reise haben, guckt Heben und Wetterglas an und fischt weiter. Gegen Abend kreuzt nur noch ein holländischer Logger bei ihm, aber er ist noch ohne Mißtrauen und geht geruhig zu Koje.

In der Nacht ruft Kap Horn, der die Wache hat, zum Reffen. Sie verkleinern die Segel durch teilweises Zusammenrollen und Festbinden, denn es ist stur geworden, dann geht Klaus Mewes aber noch wieder zu Bett, um noch einen Stremel zu schlafen, und Hein Mück tut dasselbe, denn das Wetterglas ist schon öfters gefallen, und auf Kap Horn, den Altbefahrenen, können sie sich verlassen wie auf den Deich bei springender Tide.

Nach einer Stunde ruft der Knecht abermals. Es ist zu stur geworden, und er muß befürchten, daß der jagende Ewer die Kurrleine abreiße. Klaus Mewes guckt in den Wind und ist damit einverstanden, daß sie einziehen. In schwerer Arbeit bergen sie die Kurre und die gefangenen Fische,[311] dann schickt er die Leute zu Koje und übernimmt selbst die Wache. Im Sturm gehört das Ruder ihm, dem Schiffer!


* * *


Bis gegen Morgen hielt er den Ewer allein, immer scharf am Winde, so daß die Segel eben zwischen Klappern und Vollfallen standen, und hatte keine Havarei, so viel Wasser er auch überbekam, und so stark der Ewer auch stampfte und schlingerte. Der Wind war Nordwest zum Westen und wehte etwa in Stärke 8 nach dem alten, englischen Admiral Beaufort.

Da mit einem Male legte er sich gänzlich, – ganz still wurde die Luft. Mit schlaffen, schlagenden Segeln, furchtbar knarrenden Gaffeln und donnernden Schoten dümpelte der Ewer in der hohen Dünung.

Klaus Mewes rief seine Leute, denn er traute dieser Stille nicht. Sie machten sich klar zum Sturm, der kommen mußte, denn das Wetterglas fiel rasend. Kurrbaum und Kurre wurden unter Deck verstaut, das Boot wurde ausgepackt und mit doppelten Ketten umwunden, damit es nicht über Bord gehe, das Bugspriet wurde eingezogen und Plichten und Luken wurden geschalkt. Auch sich selbst machten die Seefischer sturmbereit, dann steckten sie das zweite Reff in die Segel, – und dann kam der Sturm wieder, diesmal aber von der andern Seite und furchtbarer an Gewalt. Es trommelte und pfiff im[312] Südwesten, als wenn ein Heer in der Schlacht zum Stürmen lärmte, der weiße Geifer floß aus dem Maul des Untieres, das brüllend auf sie zukam und sich wütend auf sie warf, daß die Masten sich bogen und Hein Mück laut aufschrie. Einen Augenblick schien es, als wenn der Ewer dem ersten gräßlichen Anprall nicht standhielte, als wenn er umkippte aber es schien nur so, denn Klaus Mewes war auf der Hut und riß ihn auf. Wie brauste es in den Lüften, wie erhob sich die See, wie tanzte der Ewer! Wenn er mit dem Kopf tauchte, stand er mit dem Achtersteven so hoch, daß es aussah, als überschlüge er sich, und erhob er den Bug hoch aus der See, so zeigte er das tränenüberströmte Gesicht eines Riesen: das Wasser rann ihm aus den Klüsenaugen und über die Backen. Wenn nur die Masten nicht über Bord gingen, wenn nur die Luken nicht zerschlagen wurden!

Südweststurm –

Noch vor Mittag mußten sie das dritte und letzte Reff einstecken, denn der Ewer konnte die Segel nicht mehr tragen. Sie standen nun allemann an Deck, mit Tauen festgebunden: Klaus Mewes unverzagt am Ruder, das er nicht los ließ. Als die Seen immer naseweiser wurden, scherte Kap Horn einige starke Taue kreuz und quer über Deck, von Wanten zu Wanten und von der Winsch nach der Besan, damit sie überall einen Halt fänden, wenn sie stolpern sollten.[313]

Die Flagge war in Fetzen zerrissen. Klaus Mewes sah es wohl, aber er tröstete sich, daß es in Hamburg ja noch mehr Flaggen zu kaufen gäbe, und ließ sich nicht unruhig machen, so wenig wie Seemann, der unbekümmert im Nachthaus ruhte. Er hatte schon andre Stürme erlebt und überstanden.

Der Wind wurde aber immer wilder und ochsiger, die schlimmen Regenflagen jagten einander, und die See kochte immer furchtbarer. Der Ewer wollte es auch mit dem gerefften Großsegel nicht mehr tun: sie mußten es wegnehmen und dafür das Sturmsegel setzen. Als die Sturzseen über den Ewer brachen und alles zu Wasser machten, wurde Hein in die Koje geschickt, damit er nicht über Bord spüle, und Klaus Mewes blieb mit Kap Horn allein an Deck. Noch war keine Angst in sein Herz gekommen, so toll es es auch im Wirbel ging, noch stand er fest, so glatt auch das Deck war, und so schwer auch die Wogen über den Setzbord schlugen! Noch immer lachte er des Sturmes und wünschte seinen Jungen herbei, damit er ihm zeigen könne, was Klüsen heiße. Auch als die Fock knallend aus den Lieken flog, verzog er nicht das Gesicht, denn er hatte noch eine Fock. Ohne sich zu besinnen, sprang er die Treppe hinunter, riß das Segel aus der Dielenkoje und holte es mit zwei Reffen auf. So ging es wieder einige Stunden gut, bis es Abend wurde und die Nacht jählings hereinbrach, eine sternenlose, sargdunkle Nacht. Da ritt der Sturm[314] mit elf bis zwölf Windstärken sein schweißbedecktes, mit weitgeöffneten Nüstern und fliegender Mähne einherbrausendes Roß, die Nordsee, und selbst die Sturmsegel, die winzigen Lappen, wollten nicht mehr halten. Wenn sie nicht alles Tuch in die Winde fliegen sehen wollten, mußten die Segel gänzlich weggenommen werden.

Da wendeten sie das letzte Mittel an, das ihnen noch blieb, sie machten die Sturmanker zurecht. Backbords schäkelten sie einen unklaren Anker auf dreißig Faden Kette und steckten sie an siebzig Faden Kurrleine, steuerbords taten sie zwei von den eisernen Kurrenkugeln auf fünfzig Faden Kette. Dieses Notgewicht sollte den Ewer mit dem Kopf am Winde halten und verhüten, daß er schlüge und von den Seen kopfheister geworfen würde. Es ging auch alles klar: der Ewer lag gut am Winde. Dicht war er auch noch, wie die Peilung der Pumpen ergab.

So jagte der Sturm sie die ganze Nacht; er wirbelte den Ewer vor sich her wie der Jäger das Wild, das er lahmgeschossen hat. Die ganze Nacht trieben sie auf der wilden, hungrigen See, durchnäßt und ermattet, aber in eiserner Wachsamkeit. Sie waren allein auf der Doggerbank, nirgends war ein Schiff zu sichten, und sie sahen kein anderes Licht als die Strahlen des Elmsfeuers, das in Büscheln auf den Toppen der Masten und an den Blöcken der Gaffeln geisterhaft glomm, bis eine Hagelflage es verlöschte.[315]

Gegen Morgen, als sie etwas gegessen hatten und der Junge wieder mit an Deck stand, weil es schien, als flaute der Sturm ab, bekam der Ewer eine schwere Sturzsee über, die wie ein Felsen gegen den Steven schlug und verheerend über das Deck brandete und schäumte. Die Fischer fühlten sich emporgehoben und verloren den Grund unter den Füßen, sie mußten schwimmen und spülten hin und her, daß sie glaubten, der Ewer sei schon in die Tiefe gedrückt. Es war nichts mehr zu machen!

Klaus Mewes hatte sich gerade wieder aufgerichtet, – da schrie er gellend auf, denn eine schwere, kreißende, ungeheure See hing wie ein Berg, wie ein Eisberg steil über ihm und senkte sich ehern. »Holt jo fast, holt jo fast!« rief er schrill, aber der Lärm des Wassers und des Windes drängte ihm die Worte in den Mund zurück und erstickte sie. Dann schleuderte die See ihn wie Gerümpel zur Seite und warf ihn gegen das Nachthaus, daß ihm Hören und Sehen vergehen wollte.

Als der Ewer die Sturzsee überstanden hatte und sich wieder mit den kleinen Dwarsläufern abriß, hing Kap Horn mit zerrissenem Ölzeug und blutendem Gesicht in Lee an den Wanten, von Hein Mück war aber nichts mehr zu sehen, und mit ihm war auch das Boot vom Deck verschwunden: zerrissen lagen die Ketten auf den Luken. Sie suchten die See mit den Augen ab und warfen den Rettungsring über Bord, aber obgleich es schon einigermaßen[316] hell geworden war, konnten sie doch weder Hein Mück noch das Boot entdecken. Nur wilde, graue See war ringsum: der Junge war weg ...

»Dat duert bloß een Ogenblick, denn ist ut«, sagte Kap Horn tröstend, der nach achtern gekommen war und sich bei seinem Schiffer hingestellt hatte.

Klaus Mewes gab keine Antwort, er blickte immer noch über die See und suchte seinen Speisemeister. Was sollte er sagen, wenn die Mutter angeweint kam und ihn fragte, wo er ihren Jungen gelassen hätte?


* * *


»Goh man dol, Kap Horn, hier up Deck ist nix mihr«, rief Klaus, aber Kap Horn schüttelte den Kopf und blieb bei ihm. Wenn es zum Sterben gehen sollte, – und es sah ja so aus, wollte er nicht in der verschlossenen Kajüte ersticken, sondern frei in der See ertrinken: bis es aber so weit war, wollte er bei seinem Schiffer ausharren.

Klaus Mewes gab noch nichts verloren, wenn er auch nicht mehr lachte, sondern ein ernstes Gesicht machte. Wie ein Wiking trotzte er der See, wie ein Löwe verteidigte er seinen Posten am Ruder, wie ein Hagen hielt er aus. Er verband seinem Knecht die blutende Stirn und streichelte Seemann das nasse Fell, er sah von Zeit zu Zeit die Pumpen nach und tat alles, was sich noch tun ließ bei solcher Gelegenheit. Er dachte an Hein Mück und dessen[317] arme Mutter, an Störtebeker und an Gesa, aber an Bleiben dachte er nicht.

Ein englischer Trawler kam in Sicht, ein Huller, das erste Schiff seit zwei Tagen. Aber der lag beigedreht und hatte genug mit sich selbst zu tun. Dennoch hätte er vielleicht geholfen, wenn Klaus Mewes die Notflagge gezeigt hätte, aber Klaus Mewes dachte nicht daran. Sich von einem Ingelschmann ins Schlepptau nehmen lassen! Gott schall mi bewohren, dachte er und ließ John Bull stiemen, der dann auch wieder aus den Augen kam.

Sie trieben ja gut, ins Skagerrak hinein! Nördlich genug, um von Jütland freizuscheren, hatten sie nur mit der norwegischen Küste zu tun, – und die war noch weit weg.

»Ik gläuf, wi kommt dorch«, sagte der Knecht. Etwas verwundert sah der Schiffer ihn an. »Wat schullen wi ne dörkommen!« antwortete er, »wi wöt doch ne blieben!«

Und er ging in die Kajüte, um etwas zu essen und zu trinken. Danach mußte Kap Horn hinunter, damit er nicht flau würde.

Am späten Nachmittag aber wurde der Wind, der zeitweilig etwas schwächer gewesen war, zum Orkan. Das Fahrzeug arbeitete gewaltig und steckte mehr unter als über dem Wasser. Von allen Seiten sauste die wilde Dünung über Deck. Und siehe: eine Grundsee, die der Sturm in der Tiefe aufgerüttelt hatte und die mit Sand geschwängert[318] und mit Muscheln und Steinen beladen war, schoß herauf, richtete sich urgewaltig auf und lief dem Ewer nach, der nicht von der Stelle konnte. Bleischwer stürzte sie sich auf das Achterdeck und drückte es nieder, daß der Steven steil aus dem Wasser sprang und die Ketten rissen, dann packte sie den Ewer mit ihren Tigerkrallen an den Seite und warf ihn dermaßen auf das Wasser, daß er nicht wieder aufstehen konnte.

Kap Horn kam nicht wieder an die Oberfläche, er fühlte, daß er den einen Arm nicht bewegen konnte, und sank langsam in die Tiefe. Da gab er den Kampf und das Leben auf, der alte Janmaat, und legte sich in seines Gottes Hände: er hätte noch mit seinem Schiffer fischen und segeln können, hätte bei Hochzeiten am Deich auf seiner Harmonika spielen und den kleinen Klaus Störtebeker mit zu einem rechten Fischermann machen können, aber wenn es sein mußte, ging es wohl auch ohne ihn. Er hörte nicht mehr das Sausen des Wassers: eine große, tiefe Stille legte sich um ihn ... ganz in der Weite klangen Glocken ...

Klaus Mewes war es gelungen, die schweren Seestiefel loszuwerden, die ihn in die Tiefe ziehen wollten wie seinen Knecht. So tauchte er wieder auf und versuchte zu schwimmen. »Kap Horn, neem büst du?« schrie er in den Sturm hinein und rang schwer mit der Dünung, die ihn furchtbar hin und her warf. Beständig liefen ihm die Seen über[319] den Kopf, so daß er viel bittres Wasser schlucken mußte.

Er sah, wie der Ewer versank, wie die Masten sich noch einmal aufrichteten und dann untertauchten, daß kein Topp und kein Flögel mehr zu sehen waren. Blasen schossen steil aus dem Wasser, dann aber strich der Sturm mit unwirscher Hand über die Stelle hin und machte sie wieder so kraus, wie die ganze See war.

Klaus Mewes war allein: sein Knecht und sein Junge, sein Hund und sein Ewer waren ertrunken, er trieb in der wilden Dünung von Skagen: nirgends war ein Schiff, nirgends ein Halt. Er dachte, eine Luke oder ein Brett des untergegangenen Ewers zu finden und sich daran festzuhalten, aber er konnte nichts sehen.

»Geef di, geef di, Klaus Mees!« brüllte die See, aber er gab sich nicht, mit aller Kraft hielt er sich oben, denn er wollte noch nicht sterben, und er konnte noch nicht sterben. Was sollte aus seinem Jungen werden, den keiner verstand als er? Wie die Sturzseen über den Ewer hergefallen waren, so würden sie am Deich über ihn herfallen und alles zerstören wollen, was er in ihm erbaut hatte: die schöne Furchtlosigkeit, die Liebe zur Seefischerei, das Vertrauen auf die eigene Kraft, die Freude am Sturm: alles würden sie ermorden wollen! Ob Störtebeker schon stark genug war, alles zu ertragen? Oder ob er wie ein armer Hase den vielen Hunden erlag,[320] ob er den Sommer auf See vergaß und sich zu einem Schneider oder Schuster machen ließ! »Gesa, Gesa, lot mi den Jungen!« rief er in den Sturm hinein. Er sah seine Frau vor sich, jung und blühend, und dennoch keine Fischerfrau, ewig bange und ewig unruhig: Sie hatte nicht viel von ihm gehabt, weil sie nicht mitkonnte. Der einsame, ringende Schwimmer sah auch seine Schuld, er wußte, daß er oft hart mit ihr gewesen war, als er mondelang nach der Weser fuhr und ihr den Jungen abwendig gemacht, als er ihre Angst verlacht hatte, – aber Reue fühlte er nicht. Sie würde weinen, aber die Ruhe würde in ihr Herz kommen, und sie würde ihren Mann erkennen lernen. Brot hatte sie: einen Zeugladen, wie ihn die andern Witfrauen aufmachen mußten, um sich zu ernähren, brauchte sie nicht.

Klaus Mewes fühlte, daß seine Arme ermatteten, und daß er es nicht mehr lange machen konnte. Noch einmal ließ er sich von einer Wogenriesin emporheben und blickte von ihrem Gipfel wie vom Steven seines Ewers über die See, die er so sehr geliebt hatte, dann gab er es auf. Es paßte nicht zu seinem Wesen, sich im letzten Augenblick klein zu machen und mit den Seen um die paar Minuten zu handeln. Er konnte doch sterben!

Er schrie nicht auf, noch wimmerte er, er warf sein Leben auch nicht dem Schicksal trotzig vor die Füße wie ein Junge. Groß und königlich, wie er gelebt[321] hatte, starb er, als ein tapferer Held, der weiß, daß er zu seines Gottes Freude gelebt hat, und daß er zu den Helden kommen wird. Mit einem Lachen auf den Lippen versank er, denn er sah einen glänzenden, neuen Kutter mit leuchtenden, weißen Segeln und bunten Kränzen in den Toppen vor sich, der stolz dahinsegelte, und am Ruder stand ein lachender Junggast, sein Junge, sein Störtebeker ... grüßend winkte er mit der Hand ... fahr glücklich, Junge, fahr glücklich, sieh zu, daß du dein fröhliches Herz behältst, fahr glücklich! Guten Wind und moi Fang, mien Jung! ...

Dann ging die gewaltige Dünung des Skagerraks über ihn hinweg. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Thees, der Segelmacher, hat es nachher oft genug erzählt, wie es an demselben Tage unsichtbar an dem Segel gerissen hätte, bei dem er gerade zu tun hatte. Als er genau zusah, war es Klaus Mewes' Fock, an der unsichtbare Hände wie in höchster Not zerrten. Thees sah eine Weile zu, dann fragte er erschüttert: »Brukst du dat Seil, Klaus? Is de anner Fock di woll tweireten?« und versuchte, das Tuch glatt zu ziehen, als das aber nicht gehen wollte, legte er die Arbeit hin und ging hinaus. Der Wind blies wie nichts Gutes, und die hochflutende Elbe ging wie eine breite See in Schaum und Gischt. In Seestiefeln und Ölzeug, den Südwester im Nacken, liefen die Seefischer hin und her und steuerten[322] der gemeinen Not: sie zogen die Boote und Jollen auf den Deich, damit sie nicht voll Wasser schlügen, sie kämpften sich nach den Ewern und Kuttern hinaus, auf denen niemand an Bord war, und steckten mehr Ketten aus, damit die Fahrzeuge nicht vertrieben, sie schleppten Sandsäcke herbei und verstopften die Löcher im Deich, damit das Land keine Havarei hätte. »Is Klaus Mees bihus?« fragte der Segelmacher. »Ne, de is buten«, erwiderte Jan Lanker, der lustige. »Denn weet ik genog«, sagte Thees nickend und ging langsam nach seinem Boden zurück. Als er das Segel wieder übers Knie legte, lag es ganz still, – das Zerren hatte aufgehört. »Brukst du dat Seil nu ne mihr, Klaus?« fragte er leise und wollte weiternähen, aber da brach ihm die Nadel ab. Seine Augen weiteten sich, als wenn er etwas sähe, dann stand er auf, rollte das Segel schweigend zusammen, legte es in die Ecke und ging an Hinnik Külpers Besan.

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Gesa stand in der Küche hinter der Waschbalje und rubbelte Störtebekers Kleibüxen, die voll Schlick und Schmeer saßen und gar nicht rein zu kriegen waren. Ihr Herz war voll Angst und Sorge, und sie horchte bange auf den Sturm, der das Haus vom Deich werfen wollte, denn sie wußte nicht, ob Klaus einen Hafen hätte oder ob er draußen sei. Wie wehte es!

Plötzlich fuhr sie zusammen und drehte sich jäh[323] um, denn an der Tür hatte es gescharrt, sie hatte es deutlich gehört. Stand der Hund, der Seemann, draußen und begehrte Einlaß? war er davongelaufen, und kam Klaus nach, lag der Ewer schon am Bollwerk? Hastig trocknete sie die Hände ab, um die Tür zu öffnen, da stand ihr das Herz still, und ihre Knie bebten, denn die Tür war von selbst aufgegangen, und auf der Schwelle stand ihr Mann, als wäre er dem Wasser entstiegen. Sein Gesicht war totenweiß, sein Haar war wirr, und seine Augen waren müde und glanzlos. Niemals hatte Gesa ihn so gesehen. In starrer Angst sah sie ihn an. Sie wollte ihm entgegengehen und ihm die Hand geben, aber sie vermochte nicht, die Füße voreinander zu setzen, sie wollte ihn fragen, ob etwas passiert wäre, ob er Havarei gehabt hätte, aber ihre Zunge war gelähmt, und sie konnte keinen Laut herausbringen.

»Gesa«, sagte die furchtbare Gestalt leise und hob die Hand, da schrie Gesa laut auf und sank zu Boden.

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Störtebeker hatte es hild: er war mit den andern Jungen am Westerdeich zugange, mit einem großen Knüppel bewaffnet, und schlug die Ratten und Mäuse und Maulwürfe tot, die angeschwommen kamen, als das Wasser den niedrigen Katendeich überflutete und das weite Land des Neßbauern überschwemmte, der auf seiner Wurt wie auf einem Eiland saß und im Kuhstall Fische fangen konnte. Diese Rattenjagd war etwas für Störtebeker, dazu[324] hatte er Lust. Eifrig lief er am Deich auf und ab und befreite ihn von den Plagegeistern. Junge, Junge, dat wür wat!

Just stand er auf dem Feekstreek und lauerte auf eine Ratte, die gleich mit dem Stubben, auf den sie sich geflüchtet hatte, zu Wasser mußte, da rief es mit einem Male hinter ihm: »Höh, Störtebeker!« und als er sich schnell umdrehte, sah er seinen Vater auf dem Deich stehen und winken. »Hödjihöh, Vadder!« rief er freudig, sah noch einmal nach der Ratte, dann aber warf er den Staken hin, denn das Takelzeug ging ihn nun nichts mehr an: sein Vater war gekommen!

Wo war er geblieben? Eben stand er doch noch oben und lachte, – nun war er weg? Störtebeker lachte und glaubte, daß er sich versteckt hätte, wie er es immer machte, er sprang den Deich hinan und suchte ihn im Binnendeich hinter den Eschen und Rosenbüschen, aber er konnte ihn nicht wieder ausfindig machen. »Vadder, neem büst du?« rief er, aber er bekam keine Antwort. Da nahm er an, er wäre schon nach Hause gegangen, und lief in Sprüngen nach dem Neß. Er guckte über das Wasser, – der Ewer war nicht da, aber das hatte nichts zu sagen, denn er konnte ja noch an St. Pauli liegen, oder sein Vater konnte von Cuxhaven oder von der Weser mit der Eisenbahn übergereist sein.

»Mudder, is Vadder ne hier?« rief er schon auf der Diele und stürmte suchend in die Küche, überholte[325] hastig die Schlafkammer und suchte die Dönß ab.

»Och, mien arme Junge, woneem schull dien Vadder woll wesen«, klagte seine Mutter und sah tränenüberströmten Gesichts von ihrem Psalmenbuch auf, in dem sie gelesen hatte.

»Eben wür he annen Westerdiek«, lachte er und stieg auf den Stuhl, um aus dem Fenster in den Hof hinunter zu sehen. »Ik will em woll gewohr wardn, den Versteekspeeler den!«

Da wurde sie aufmerksam. »Keen wür annen Westerdiek?« fragte sie tonlos.

»Vadder!« rief Störtebeker, »he stünn boben uppen Diek un lach un wink. As ik to rupleep, wür he batz weg.«

Da zog sie ihn jäh an sich, daß er sich nicht wehren konnte, und jammerte: »Vadder is bleben, Klaus, du hest keen Vadder mihr, mien Jung!«

Er schüttelte den Kopf. »Dat is ne wohr, Mudder«, sagte er bestimmt, »dat hest du dräumt. Vadder kann ne blieben und bliwt ne, dat hett he sülben to mi seggt. Vadder kummt jümmer wedder!«

Sie weinte nur noch heftiger.

»Stopp, ik will em woll finnen«, rief er und lief wieder in den Wind hinaus, um seinen Vater zu suchen, den er doch ganz gewiß auf dem Westerdeich gesehen hatte. Gesa rief ihm nach, aber er hörte nicht darauf.


* * *
[326]

Auch die Uhr war stehen geblieben. Auf halb fünf stand sie: das war die Todesstunde von Klaus Mewes.

Gesa hat die Uhr niemals wieder aufgedreht, niemals wieder angestoßen. Wie die unsichtbare Hand sie angehalten hat, ist sie stehen geblieben.

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Zufall? Gaukelei der Sinne?

Alle Seebevölkerung weiß, daß die Fahrensleute in der Stunde, in der sie auf See ertrinken, mächtig sind, an Land, in ihrem Hause, zu rufen oder zu schreien, zu klopfen oder zu scharren, auf dem Nebelhorn zu blasen, die Bilder an der Wand zu Boden zu werfen, die Uhr anzuhalten oder in Lebensgestalt zu erscheinen.

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H.F. 7, Jan Sloo, kam den andern Tag von der Hoof, das heißt von Cuxhaven, übergereist, wo sein Ewer mit zerrissenen Segeln und gebrochenem Großmast hinter der Alten Liebe lag, und erzählte, daß er ein solches Wetter noch nicht erlebt hätte, auf See wenigstens noch nicht, es wäre ganz furchtbar hart gewesen. Als Gesa aber in der Dämmerung zu ihm ins Haus kam, mit einem dunkeln Tuch um den Kopf, mit bleichen Backen und verweinten, geröteten Augen, und ihn nach ihrem Mann fragte, sprach er anders; da war es draußen gar nicht so schlimm gewesen, sie hatten nur etwas krauses Wasser gehabt und so was Gutes. Ihren[327] Klaus hatte er zwar nicht gesehen, und er hatte auch nichts von ihm gehört, aber da war alles in der Reihe, der fischte gewiß mit einem Reff im Segel weiter, um erst die Eiskisten zu füllen und dann gleich eine gute Reise zu machen. Da brauchte sie sich keine Gedanken zu machen: der kam wieder, so gewiß wie zwei mal zwei vier waren, wenn nicht heute noch, dann morgen oder übermorgen. Wenn er den Wind ausgehalten hatte, hatte Klaus mit seinem viel größeren Ewer ihn siebenmal ausgehalten. Da konne sie ganz geruhig sein. So tröstete der Seefischer sie in seiner Unbeholfenheit, bis sie kopfschüttelnd hinausging, denn sie merkte, daß er nicht die Wahrheit sagen wollte. Er sah lange Zeit aus dem Fenster auf das Wasser hinaus, dann sagte er langsam zu seiner Frau: »Inne Nurd schallt noch mihr weiht hebben, as neem wi wesen sünd, – un ik gläuf, Klaus Mees is inne Nurd wesen.«

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Als ein schwarzer Tag mit Kreuzen steht der Tag im Kalender der Wasserkante, denn er hat viel Unglück und Haverei gebracht.

Die Eiderdeiche waren an drei Stellen gebrochen, weite Strecken der Marsch standen tief unter Wasser, viel Vieh war in den Fluten ertrunken, Häuser waren abgedeckt, Scheunen waren umgeweht, starke Bäume waren entwurzelt. Auf Scharhörn war eine große, englische Bark gestrandet und mit Mann und Maus spurlos verschwunden, beim zweiten Feuerschiff[328] war ein Lotsenschoner umgekippt, und dwars von der Kugelbake guckte der Mast einer gesunkenen Jalk aus dem Wasser, Cuxhaven aber lag bis an den Leuchtturm voll haverierter Schiffen.

Von Finkenwärder wurden noch sieben vermißt, fünf Kutter und zwei Ewer, darunter Klaus Mewes. Tag für Tag lauerten sie am Deich auf sie und sprachen von nichts anderm als von ihnen: alles andere mußte zurücktreten, bis sie Gewißheit über das Schicksal der sieben Fahrzeuge, der einundzwanzig Menschen hatten. Um den sie sich am wenigsten sorgten, das war Klaus Mewes, denn ein Mann wie Klaus Mewes, ein Fischermann wie kein zweiter, mit dem großen, seetüchtigen Ewer unter den Füßen und guten, befahrenen Leuten an Bord, der blieb nicht so leicht, der mußte ja wiederkommen; der hatte schon viele, schwere Stürme bestanden und sich immer oben gehalten. Mehr bangten sie um den andern Ewer mit den geflickten Segeln und um die Kutter mit ihren blutjungen, dreisten Schiffern und den wenig befahrenen, butenländischen Leuten: die mochten ihre Last gehabt haben, nicht aber Klaus Mewes.

Es kam aber anders, als sie dachten, denn der alte Ewer und die Kutter kamen nach und nach alle binnen, wenn auch kein Fahrzeug ohne Haverei war. Nur der eine Ewer, Klaus Mewes, wollte sich nicht wieder angeben, weder auf der Weser noch auf der Elbe.[329]

Tag um Tag verging, und aus Tagen wurde eine Woche, wurden Wochen, und Klaus Mewes kam nicht wieder. Drei Sonntage tat Bodemann von der Kanzel herab Fürbitte für ihn und die beiden Leute, und er betete stark und ergreifend, daß es wie ein großes Weinen durch die Kirche ging, denn der Untergang dieses großen, fröhlichen Seefischers ging ihm sehr nahe. Wer mag noch Fischer sein, wenn solche Männer bleiben, dachte er.

Dann mußte die Hoffnung aufgegeben werden: Klaus Mewes war verschollen. Sie mußten es endlich glauben, daß sie seine Flagge nicht mehr flattern sehen würden, daß er nicht mehr lachenden Gesichts den Deich entlangkommen konnte, daß Kap Horn nicht mehr bei den Hochzeiten aufspielte, und daß Hein Mück nicht mehr mit den Mädchen tanzte. Was für ein Mann Klaus Mewes gewesen war, merkten die meisten erst jetzt! Gut und fröhlich war er gewesen, jedem hatte er ein freundliches Wort gegönnt, auf Fische war es ihm nie angekommen, wo er helfen konnte, da hatte er geholfen, mit Rat und Tat, vielen war er in ihrer harten Fischerei ein Trost gewesen, der junge, lustige Fischermann, der lachend gefahren war, singend gefischt hatte und jubelnd aufgekommen war. Bei ihm an Bord hatte die Lebensfreude das Wort gehabt; er war ein Seefischer aus Lust gewesen, nicht aus Gewohnheit, Zwang oder Not, wie so manche es waren.

Auf dem Neß war es nun wirklich so, wie Klaus[330] Mewes damals auf den Watten gesehen hatte: alle Fenster waren dicht verhängt, und vor der verschlossenen Tür, auf den Stufen, auf der Bank und auf den Kastellen standen der Hahn und die Hühner und warteten hungrig auf ihr Futter. Im Hause war es halb dunkel, kein Sonnenstrahl kam mehr in die Stuben, die Klaus Mewes mit seinem Lachen erfüllt hatte. Verhängt waren der Spiegel und das große Bild des Ewers. Gesa schlich nur noch wie ein Gespenst durch die totenstillen Räume. Meistens saß sie in der dämmerigen Küche und starrte vor sich hin oder sie weinte. Ihre Tür schloß sie zu, denn sie wollte keinen Menschen sehen. Die vielen Frauen, die Tag für Tag kamen, nach ihr zu sehen und sie zu trösten (denn nun Gesa schwarze Kleider trug und Witfrau geworden war, galt sie für eine Finkenwärderin), mußten gewöhnlich umkehren, ohne sie gesehen und ihren Kaffee geschmeckt zu haben. Auf dem Deich ließ sie sich selten sehen, denn sie konnte den Anblick des vielen Wassers nicht mehr ertragen, konnte keine Ewer mehr vorbeisegeln sehen, ohne daß ihr die Augen übergingen.


* * *


Und Klaus Störtebeker? Der saß wohl bei ihr, in der dunkeln Küche, und weinte mit?

Nein, das tat er nicht! Er weinte nicht, denn er glaubte nicht, daß sein Vater untergegangen war, daß der Ewer nicht wiederkommen konnte, daß er[331] Kap Horn und Hein Mück und Seemann nicht wiedersehen sollte! Sein Vater war nicht weg, der lebte und fischte noch! Der kam wieder, ganz gewiß kam er wieder, die Reise dauerte diesmal nur etwas länger, weil sie so viel vor Wind hinter Wangeroog liegen mußten, aber wieder kam er ganz gewiß, er hatte es ja selbst gesagt. Felsenfest war das Vertrauen des Jungen auf dieses Wort seines Vaters, und unerschütterlich war sein Glaube.

»Störtebeker, dien Vadder is bleben«, sagten die andern Jungen zu ihm, aber er schüttelte ruhig den Kopf und antwortete: »Wat weet ji dorvan af?« – »Doch, Vadder hett dat seggt!« – »Denn segg dien Vadder man, dat is ne wohr. Vadder kann ne blieben un is ne bleben, Vadder kummt wedder«, sagte Störtebeker bestimmt und ging davon. Seine Mutter tröstete er jeden Morgen und jeden Abend: »Schree doch ne, Mudder, gläuf doch ne, wat Vadder weg is; de is ne weg, de kummt wedder«, aber er erreichte damit nur, daß sie noch heftiger weinte.

Widerwillig trug er schwarze Strümpfe und ein dunkles Halstuch: sein Vater würde ihn auslachen, wenn er kam, meinte er mißmutig.

Jeden Tag, der grau aus dem Hamburger Dunst stieg und golden in die Elbe versank, lag er mit seinem Kahn auf dem Wasser. Er wriggte weit hinaus, bis hinter Blankenese, und wartete und wartete. Immer waren seine Augen im Westen und suchten die Elbe ab, suchten den Ewer, suchten den[332] Vater. Große Dampfer mahlten an ihm vorbei, und die Lotsen drohten ihm mit den Fäusten, aus dem Fahrwasser zu gehen, aber er dachte: ich habe hier ebensoviel Recht wie ihr, und kümmerte sich nicht darum. Die Dünung warf den Kahn wie eine Nußschale auf und ab: Störtebeker ging nicht vom Fleck. Wenn ein Ewer oder Kutter aufkam, wriggte er hin und fragte nach seinem Vater.

»Hest Vadder ne sehn, Jannis?«

»Höh, Blankneeser, hett H.F. 125 ne bi di fischt?«

aber immer bekam er ein Kopfschütteln und ein Nein und den guten Rat, nach Hause zu schippern, den er aber nicht befolgte. Zuletzt kannten ihn alle. »Kiek, dor is wedder Klaus Mees sien lütten Jungen«, sagten die Schiffer zu den Knechten, wenn sie den Kahn in Sicht bekamen. Bei Wind und Wetter, bei Nebel und Sonnenschein, bei Regen und Brise dümpelte und trieb Störtebeker vor Blankenese und wartete auf seinen Vater. Starr blickte er nach Westen, wo immer wieder Segel erschienen, wo immer wieder Schiffe auftauchten. Einmal mußte sein Vater doch gewiß dabei sein, einmal mußte er ihn doch hergucken können! So viele Schiffe!

»Is keen Breef van Vadder kommen?«, fragte er abends, denn sie konnten ja auch nach der Weser gesegelt sein, wenn es gerade so gepaßt hätte.

»Junge, gläufst du noch jümmer, wat Vadder wedderkummt?« fragte Gesa bekümmert.[333]

»Ganz gewiß gläuf ik dat, Mudder! Vadder kummt wedder!«

Als er wieder einmal dwars von Blankenese lauerte, kam hinter Schulau ein grüner Ewer in Sicht, der ganz so aussah wie der seines Vaters. Er dachte, er wäre es, und eine große Freude kam über ihn, daß ihm die blanken Tränen in die Augen traten. Hastig zog er seinen Draggen auf, den er ausgeworfen hatte, und wriggte dem Ewer entgegen, so schnell er nur schippern konnte. Wenn die Nummer zu lesen oder der Ewer sonst zu erkennen war, wollte er sich barfuß ausziehen, damit sein Vater die alten schwarzen Strümpfe gar nicht erst zu sehen bekam, dann wollte er die Flagge aufsetzen, die unter der Achterducht im Dollenkasten steckte, und so lange rufen und winken, bis sein Vater ihn gewahr wurde. Und dann wollte er längseit wriggen und überklettern und seinem Vater steuern helfen, wollte Kap Horn Gutentag sagen und Hein Mück ein bißchen ärgern, wollte mit Seemann spielen und nach den Segeln hinaufgucken, wie er immer getan hatte. Ach, – er wollte noch viel mehr und stand in Gedanken schon längst an Bord: als er aber bis Wittenbergen gekommen war, sah er einen fremden Ewer vor sich und kehrte traurig um.


* * *


Alle Fischerleute, Seefischer und Elbfischer haben den Jungen draußen auf der Elbe gesehen und sind[334] von ihm nach seinem Vater gefragt worden. Die Jollen nahmen ihn oft ins Schlepptau und brachten ihn wieder an den Laden, wenn er sich zu weit hinabgewagt hatte und nicht gegen den Strom oder Wind konnte. Alle ermahnten ihn, nicht wieder so weit zu fahren, sondern am Bollwerk zu bleiben: sein Vater könne nicht wiederkommen, nach dem brauche er nicht mehr zu fragen oder zu suchen.

Aber Störtebeker hörte nicht auf sie und glaubte ihnen nicht: mit der nächsten Tide fuhr er wieder elbabwärts und suchte seinen Vater. Oft hungerte ihn, er zitterte vor Frost, wenn der Wind wehte oder der Regen ihn bis auf die Haut durchnäßt hatte, aber er wriggte immer wieder, immer wieder nach Blankenese hinunter und guckte den Schiffen entgegen. Sein Vater kam wieder: von dieser Hoffnung ging er nicht ab, – und er wollte der erste sein, der ihn gewahr wurde.

Die Bunge hing zerrissen an den Wicheln, und der Aalkorb verrottete im Gras, denn er hatte sich der Fischerei gänzlich begeben. Kluß, die alte Krähe, lag eines Morgens tot im Kasten: sie war verhungert; er grub sie im Garten ein und stellte den Käfig in die Ecke. Die Kaninchen verschenkte seine Mutter an andere Knaben, weil er sich nicht mehr darum bekümmerte; gleichgültig ließ er es geschehen, denn es war ihm einerlei geworden, ob er Viehwerk hatte oder nicht: erst mußte sein Vater wieder da sein, erst mußte der große Ewer wieder über den Deich[335] schauen! Dann kam auch all das andere wieder an die Reihe.

In der gewissen Zuversicht: diese Tide kommt Vater! – lief er nach seinem nordischen Kahn und nahm den Kurs auf Blankenese.

Gesa, die ein seltner Gast auf dem Deiche geworden war, merkte zuerst nichts von diesen weiten Fahrten, sie dachte, er wäre am Westerdeich zugange, und achtete nicht sonderlich darauf, ob er zu früh oder zu spät oder überhaupt nicht zum Essen kam, denn sie selbst hatte auch keine rechte Tageszeit mehr und ging wie eine Schlafwandlerin umher, wie in tiefen, schweren Träumen.

Bis Störtebeker eines Abends nicht nach Hause kam, weil es nebelig geworden war und er sich auf der Elbe, zwischen Cranz und Wittenbergen verirrt hatte. Da wachte sie auf und rief und suchte, sie klopfte den Westerdeich ab und lief ängstlich über die Weiden. Als sie ihn nirgends finden konnte, jammerte sie den Deich entlang. Da hörte sie von den Fischern, wie ihr Junge seine Tage verbrachte, daß er ständig mit dem Kahn im Fahrwasser zugange war und auf seinen Vater wartete. Sie erschrak sehr, und es fiel ihr schwer aufs Herz, daß sie sich in all den Tagen und Wochen nicht um ihn gekümmert hatte. Wenn er nun ertrunken war!

Gott im Heben, gib ihn mir wieder, betete sie, ich will ihn dann nicht mehr aus den Augen lassen!

Die Fischer machten ihre Boote klar und gingen[336] in der Nacht zu fünfen auf die Suche, obgleich es so dick geworden war, daß sie einen Kompaß mitnehmen mußten, wenn sie nicht verbiestern wollten. Sie segelten und ruderten hin und her, bliesen auf dem Nebelhorn und riefen über das stille, tote Wasser, aber es war nichts zu hören, noch zu sehen. Sie wollten es schon aufgeben, da fand Karsten Husteen den Kahn vor der Este und brachte den halberstarrten Störtebeker gegen Mitternacht nach dem Neß. Gesa kam gelaufen und wollte ihn auf den Arm nehmen, aber er sprang aus dem Boot, machte seinen Kahn an den Wicheln fest und ging allein nach Hause, denn er war doch kein kleines Kind mehr, das getragen werden muße!

»Morgen kummt Vadder gewiß«, tröstete er seine Mutter, als er sich das klamme Zeug auszog, sie, aber wußte vor Schmerz und Freude und innerster Aufregung nicht, was sie machen, ob sie ihn streicheln oder schlagen sollte: packte ihn ins Bett, begrub ihn in Kissen und unter Decken und kochte ihm Kamillentee, obwohl er sagte, daß ihm gar nichts fehle.

Sie lag die ganze Nacht schlaflos, horchte auf seinen Atem und erschrak, wenn er einmal hustete. Mehr noch als die Sorge aber waren ihre Gedanken schuld daran, daß sie nicht einschlafen konnte. Sie riß sich schwer ab, dann aber erwuchs in der Stille der Nacht etwas in ihrer Seele, das ihr als eine heilige Pflicht, als eine Aufgabe von Gott erschien: den Jungen vom Wasser abzubringen, zu verhüten,[337] daß er mit seinem Kahn ertränke, zu verhindern, daß er ein Seefischer würde und zu Schaden und frühem Tode käme wie sein armer Vater, dafür zu sorgen, daß er sein Brot in Frieden und auf dem Trockenen verdienen und essen könnte und nicht auf der wilden See umherzutreiben brauchte! Dazu war sie von der Geest in dieses Fischerhaus gekommen, sie erkannte es jetzt: um das Geschlecht der Mewes vor dem Untergange zu bewahren, um es wieder landfest und lebendig zu machen! Das hatten die starren Augen ihres Mannes an jenem schrecklichen Nachmittag von ihr gewollt: sie fühlte es und hörte es, was sie hatten sagen wollen: ich habe verspielt, Gesa, nun tu du das deine, daß der Junge es einmal besser habe; bewahr ihn vor dem Schicksal seines Vaters, laß ihn nicht nach See! Das hatte ihr Mann sagen wollen, das war es gewesen! »Jo, Klaus, dat will ik«, flüsterte sie vor sich hin, »du schallst dien Rauh hebben!« Starr richtete sie sich iaus den Kissen auf und gelobte es dem Toten und sich. Sie wußte, daß es schwer halten würde, daß sie streng und hart sein mußte, denn der Junge saß voll von diesem Seegift, wie sie es nannte, und war ein Trotzkopf sondergleichen, aber ihr zähes, niedersächsisches Blut übernahm es. Sie wollte sich um ihn bekümmern und mit Ernst und Geduld auf seine Schritte achten, um ihn dem Wasser fernzuhalten und ihn vor dem Geschick seines Vaters zu bewahren. Das war ihre Lebensaufgabe nun! Den Vater von der Schiffahrt[338] abzuziehen, hatte sie nicht vermocht, aber der Junge, der noch so jung war, mußte noch zu biegen und zu lenken sein, wenn ein fester Wille dahinter stand. Sie konnte keinen wieder nach See segeln sehen, sie konnte es nicht ...

Nun begann ein erbitterter Kampf zwischen Mutter und Kind, ein Kampf um die See. Gleich am andern Morgen bekam Störtebeker eine große Strafpredigt, bis er ganz geduckt dasaß und nichts mehr sagte. Als seine Mutter dann aber weiterging und davon sprach, daß sein Vater nicht wiederkommen konnte, daß er auf dem Grunde der See lag, da richtete er sich wieder auf und sagte, das sei nicht wahr, sein Vater sei nicht weg, sie wüßten alle nichts davon! Sein Vater käme wieder: dabei blieb er, und davon ging er nicht ab. Der Ewer könne nicht umkippen, und sein Vater könne nicht ertrinken: er glaubte es nicht, und wenn sie es auch alle zusammen sagten!

Gesa hatte ihm streng untersagt, wieder nach dem Fahrwasser zu schippern, aber als er nachher auf dem Deich stand und über das Wasser blickte und so viele Ewer und Kutter aufkommen sah, da dachte er, sein Vater müßte gewiß kommen, und er müßte ihm entgegenfahren. Und als seine Mutter hinterm Hause war und die Schweine fütterte, da machte er seinen Kahn los und wriggte wieder weg, um seinen Vater zu holen. Wenn er den Ewer mitbrächte, würde sie sich schon freuen und nicht mehr schelten:[339] mit dem Gedanken tröstete er sich, als er die Reihe der Segel absuchte.

Auf der Rückfahrt hatte er wegen des scharfen Ostwindes sehr zu pulen und kam deshalb erst spät am Abend zurück.

»Klaus, worüm büst du nu wedder wegschippert?« fragte Gesa erregt, »wullt du ober Burd fallen, oder schöt de Dampers di inne Grund jogen?«

Störtebeker pustete den Kaffee, der zu heiß war, und biß von seinem Brotknust ab, ohne etwas zu erwidern.

»Junge, du Eegenbuck! Wat büst du förn Jungen! Dien Mudder hett di woll gor nix mihr to seggen?« fragte sie bebend.

»Du weeß doch ganz god, wat ik up Vadder teuft hebb«, erwiderte er geruhig und setzte abweisend hinzu: »Nu lot mi doch tofreeden, Mudder!«

Da konnte Gesa sich nicht mehr halten, der Zorn überschrie alles andere in ihr, und sie schlug ihn sehr. Er stand still und ließ sich schlagen, weder wehrte er sich, noch lief er weg, noch schrie er: fest biß er die Zähne aufeinander, um keinen Laut von sich zu geben.

Den andern Tag holte sie ihn mehr als einmal mit dem Stock vom Bollwerk zurück, so daß er nicht entkommen konnte, aber den Morgen darauf flüchtete er wieder vom Deich und blieb den ganzen Tag auf der Elbe. Wie wünschte er seinen Vater herbei! Wenn er doch käme, der grüne Ewer! Sonst gab[340] es heute abend ja wieder etwas mit dem Stock! Aber sein Vater kam nicht, und er mußte schließlich doch zurückwriggen. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, nur aus der Elbe getrunken hatte er, und war sehr hungrig. Triefend von Regen, stand er auf der Schwelle und guckte seine Mutter an, die schon bei der Lampe saß, als wenn er sagen wollte: nu hau mi man wedder!


* * *


Sie ließ ihn nun nicht mehr aus den Augen und hielt ihn auch einige Tage fest. Streng achtete sie darauf, daß ihn niemand mehr Störtebeker nannte, daß er wieder Klaus Mewes gerufen wurde: sie ging selbst zu dem alten Schulmeister Möhlmann hinunter, damit es den Kindern verboten würde, den Jungen Störtebeker zu nennen: aber damit erreichte sie nur das Gegenteil von dem, was sie wollte, denn nun riefen die Jungen erst recht Störtebeker.

Eines Tages fand sie ihn am Binnendeich sitzen. Mit geschlossenen Augen hockte er auf einem Hummerkasten von Grimsby und stieß mit den Füßen gegen ein Brett, das zwischen den Kurrbäumen steckte, so daß es regelmäßig knarrte. Sie trat näher, und als sie sein glückliches Gesicht sah, fragte sie ihn weich: »Wat schall dat denn, Klaus?« Er schüttelte erst heftig den Kopf, als wenn er nicht gestört werden wollte, dann aber besann er sich und sagte leise:[341] »Mok de Ogen ok mol to, Mudder!« – »Wat schall dat denn, Junge?« – »Moks doch mol to, Mudder, och man to!« – »Ik hebbs jo all to, Klaus.« – »Ganz fast?« – »Jo, ganz fast!« –

»Denn sünd wi up See, Mudder«, sagte er verträumt, »kannst hürn, wat dat boben unsen Kupp gnarrt? Dat deit de Gaffel, wenn de Eber oberholt, Mudder ... Twee Stünnen hebbt wi de Kurr all ut, Mudder, gliek möt wi intehn, denn schallst mol sehn, wat denn een Leben ward, wat denn de Meben anflegen kommt! ... Kannst Seemann dor blangen den Kumpaß liggen sehn? Dor slöpt he jümmer inne Fohrt, Mudder ... Kiek, dor steiht Kap Horn! Paß up, gliek holt he sien Harmonika ut de Koi un speelt een up, – dat hürt sik up See veel beter an as an Land, Mudder, ne? ... Hein Mück schillt Kantüffeln, gliek gift brodte Schullen, de scheut ober smecken ... Kannst sehn, Mudder, dor achter dat Land, dat hoge, rode? Dat is Hilchland«

So verlor Störtebeker sich weit in seine Seefahrt und erzählte immerzu. Gesa saß auf dem Kurrbaum, der die eingeschnitzten Zeichen H.F. 125 trug, und hörte zu, während ihre Augen sich verdunkelten. »Woneem is Vadder denn?« fragte sie zuletzt erschüttert.

»Vadder?« rief er verwundert, »Vadder? De steiht hier jo bi uns ant Rur, de hett jo de Wacht! Hür mol, wat he lachen kann!«

Da wandte sie sich ab und ging ins Haus zurück, er[342] aber saß noch lange und horchte auf das Rauschen der Eschen wie auf Meeresbrausen.


* * *


Manchmal wachte Gesa nachts auf und hörte ihn im Traum sprechen, immer war er dann auf See bei seinem Vater.

Tagsüber aber lag er wieder auf dem Wasser. Ungeachtet aller Schelte und Schläge brach er immer wieder aus; sie konnte nichts mit ihm aufstellen. Die Elbfischer, denen sie ihre Not geklagt hatte, machten Jagd auf ihn wie auf ein Wild und vertrieben ihn, wo sie ihn sahen, er ging ihnen aber immer wieder durch die Maschen. Sein Trotz wuchs: was Eisen in ihm gewesen war, hatte sich zum Stahl gehärtet, und gewisser als zuvor hoffte er auf seines Vaters Wiederkehr.

Zuletzt, als er sich gar nicht mehr retten konnte, als die Hunde von allen Seiten nach ihm schnappten, beschloß er, nach der See zu schippern und seinen Vater vor der Elbe und auf der Weser zu suchen: wenn er ihn gefunden hatte, wollte er immer bei ihm an Bord bleiben und gar nicht wieder nach Hause kommen. Er tat nun einige Tage, als wenn er die Fahrt aufgegeben hätte, so daß Gesa neue Hoffnung schöpfte, heimlich aber rüstete er sich für die Flucht aus. Er suchte sich eine große Kruke her und füllte sie mit Wasser, damit er auf der See etwas zu trinken hätte, er packte seinen Aalkorb zurecht,[343] damit er sich unterwegs Fische fangen könnte, er zog ein altes Segel vom Boden und legte es zusammengerollt unter die Ducht, damit er nachts unterkriechen und schlafen könnte. Als er soweit fertig war, wartete er auf einen günstigen Augenblick, und als seine Mutter die Eier im Schauer zusammensuchte, nahm er den Kompaß von der Wand, steckte seinen Spartopf in die Tasche und jagte mit seinem Kahn die Elbe hinunter. Zu Blankenese ging er an Land und kaufte sich beim Bäcker zwei große Brote, damit er etwas zu leben hatte, dann wriggte er unverzagt weiter, der See entgegen, und weil es Ebbe war und er Achterwind hatte, kam er schnell vorwärts, bis über die Lühe hinaus. Als es Flut wurde und der Abend kam, suchte er an der Nordkante in einem Priel Unterschlupf, mitten im Schilf, und kroch in das Segel hinein, denn er war fröstelig. Schlafen konnte er aber nicht, und als Hochwasser war, stand er wieder auf und schipperte emsig weiter. Bis Krautsand war er schon gekommen: da ereilte ihn sein Verhängnis; als es Tag geworden war, entdeckte ihn ein nachbarlicher Elbfischer, der auf seiner Jolle stand und seine Garne wusch: er sprang ins Boot und verfolgte ihn, bis er ihn gefangen hatte. Störtebeker bat und biß, aber es half ihm nichts, der Elbfischer band den Kahn hinter seine Jolle und brachte ihn den andern Tag, als er den Bünn voll hatte, nach Finkenwärder zurück. Diesmal ging es nicht so[344] gnädig ab, denn der Jäger kam dazwischen und brauchte den Stock, als wenn er einen Jagdhund oder ein Stück Vieh vor sich hätte. Störtebeker schrie doch einmal auf, dann aber schwieg er wieder beharrlich und dachte: wenn Vadder man hier wür, de wull jo god!

Den Tag darauf schloß Gesa ihn ein und ließ den Kahn nach dem andern Ende des Deiches bringen. Und sagte, sie hätte ihn einem Fischer verkauft, der ihn mit nach See genommen hätte. »Wat kannst du bloß den Kohn verkäupen?« rief er heftig, »de hürt mi to, un dor hett nüms wat ober to seggen as ik, kannst Vadder frogen!« Als er sie aber dann nach dem Fischer fragte, gab sie keine klare Antwort, so daß ihm die Sache muffig vorkam; er fragte die Jungen und suchte und spähte so lange, bis er sein Schiff entdeckt hatte. Ohne jemand zu fragen, machte er es los und brachte es nach dem Neß zurück.

Und fing wieder an, seinen Vater zu suchen, denn sein Vater mußte ja wiederkommen! Felsenfest stand seine Hoffnung.

War da niemand, den diese Treue rührte? Wohl nicht, denn die Frauen bestärkten Gesa in ihrer Strenge, und die Elbfischer griffen ihn, wo sie seiner habhaft werden konnten. Es war ein Jammer, wie sie mit dem armen Jungen umgingen, der seinen Vater nicht vergessen konnte!

Zuletzt brachte Gesa ihn nach der Geest zu ihren Eltern, wo es kein Wasser und kein Boot gab, und[345] hoffte, daß er dort auf der Heide seinen Vater und die See, die Schiffahrt und die Fischerei vergessen würde. Der alte Heidjer und die Großmutter freuten sich, den Enkel endlich einmal bei sich zu haben, tischten ihm auf und versprachen, gut auf ihn zu passen, als Gesa sich wieder auf den Heimweg machte. Störtebeker ließ sich das neue Leben und die neue Umgebung auch einige Tage gefallen, er ging mit nach dem Moor, er sah die Bienenkörbe nach, er lernte Buchweizen dreschen, er trank Ziegenmilch, er suchte sich Brombeeren, er kletterte auf die Berge und guckte weit über das Alte Land: dann aber fiel ihm plötzlich ein, daß sein Vater aufgekommen sei und auf dem Neß mit dem Ewer läge und auf ihn warte; da sprang er kopflängs von dem Schimmel herab, auf dem er saß, und lief in Sprüngen weg, ohne Mütze und alles, fragte sich durch das Alte Land nach der Fähre an der Süderelbe, ließ sich von Paul Müller übersetzen, raste den Westerdeich entlang und stand an der Huk still, denn er konnte keinen Ewer sehen. Erst wollte er wieder nach der Geest zurücklaufen, dann aber getraute er sich doch nach seiner Mutter Haus.

Gesa fuhr auf, als sie ihn unter den Linden stehen und noch immer nach der Elbe gucken sah, dann aber konnte sie nicht an sich halten, und sie schlug ihn, daß er blutete. Als nachmittags der alte Heidebauer mit seinem Wagen angefahren kam, erbost über die Flucht und den Trotz des Jungen, schlug auch er auf[346] ihn ein. Dann wollte er ihn binden und wieder mitnehmen, aber Gesa sagte, das hülfe doch nichts: sie wolle ihn hier behalten: er solle in den Keller gesperrt werden, und sie wolle den Kahn nun wirklich verkaufen.

Schweigend ließ Störtebeker sich nach dem Keller bringen. Da saß er im Gefängnis, denn das Fenster war vergittert. Er versuchte, den Kopf durch die Eisenstangen zu stecken, aber es ging nicht. Der Jäger, der gerade unter dem Fenster entlang ging, drohte ihm mit dem Flintenkolben und sagte grimmig: »Wi wöt di woll mörr kriegen, du Dickkupp!«

Als er weg war, setzte der Junge sich müde und hungrig auf eine Kartoffelkiepe und weinte bitterlich, denn er wußte sich nicht mehr zu helfen.

»Hilp mi doch, Vadder!« schluchzte er, »hilp mi doch! Kumm doch wedder!«

Aber kein Klaus Mewes stieg aus der See, um seinem treuen Jungen beizustehen, ihn aus der Haft zu erlösen und ihn wieder mit an Bord, auf den Ewer und nach See zu nehmen. Kein Kap Horn tröstete ihn, und kein Seemann kam, ihm die Hände zu lecken.

»Hilp mi doch, Vadder!« ...

Quelle:
Gorch Fock: Seefahrt ist not!, in: Gorch Fock. Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg 1935, S. 308-347.
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