Dreißigstes Kapitel

[489] Früher als gewöhnlich war man am anderen Morgen auf und nahm das Frühstück, nachdem die Lichter am Baum noch einmal angezündet waren. Obadja las das Weihnachtsevangelium und zog sich dann in sein Arbeitszimmer zurück, um sich hier vorzubereiten, und zwar für die Christpredigt. Diese war, neben der Taufpredigt im September, die wichtigste Predigt im Jahre, zu der, schon weil die Mennoniten von Nogat-Ehre auf viele Meilen in der Runde die einzigen waren, die eine Gemeinde bildeten und einen Betsaal hatten, alles zusammenkam, was in der großen Talmulde zwischen den Shawnee-Hills und den Ozark-Mountains an Jesum Christum glaubte. Das waren, außer den Leuten von Station Darlington, ganz besonders auch die Besatzungen von Fort Holmes und Fort Gibson, die bei der Weihnachtspredigt nie zu fehlen und mit ihren bunten Uniformen die Kirche zu beleben pflegten.

Und sie fehlten auch heute nicht. Überhaupt war es ein großes Andrängen, und unter der nun winterlich entlaubten Akazien- und Lindenallee standen in langer Reihe die Wagen, auf denen man herbeigekommen war. Einige fuhren auch auf die zum Teil weit ausgebauten Farmen, mit deren Bewohnern man schon aus Unterhaltungsbedürfnis auf dem besten Fuße[489] stand. Um zehn Uhr begann der Gesang, bei dem Ruth wieder das Beste tat, und dann folgte Gebet und Predigt, die der Alte mit gewohnter Geschicklichkeit nicht bloß dem Tage, sondern auch den Anschauungen seiner gemischten Zuhörerschaft anzupassen wußte. Das Predigen über die Köpfe weg war nicht seine Sache. So ließ er auch heut alles bloß Lehrhafte fallen, hütete sich, vom »geistigen Leibe Christi« zu sprechen, und beschränkte sich darauf, in der schlichten Erzählung von der Geburt des Heilands das schön Menschliche zu betonen. Aus Not und Bedrängnis, aus Armut und Niedrigkeit sei das Heil geboren worden, und der Krippe zu Bethlehem entstamme die Welterlösung. Er verweilte hierbei, sprach aber trotzdem nur kurz, so daß schon um elf Uhr der Gottesdienst mit einem Vers aus dem Weihnachtsliede schließen konnte, bei dessen Verklingen Obadja den Saal als erster verließ. Dann folgte die Gemeinde, zuletzt die Kinder, die diesen Augenblick mit Sehnsucht erwartet hatten und, vom Betsaal in die Halle hinübergeführt, hier mit kaum unterdrückter Aufregung ihre Geschenke vom Weihnachtstische nahmen, um gleich danach unter Vorantritt Krähbiels und Nickels ihren Rückweg in ihre Dörfer anzutreten.

Obadja hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, und eine halbe Stunde später erschien Ruth, um ihm das Frühstück zu bringen, das er um diese Zeit zu nehmen pflegte. Sie setzte das Tablett vor ihn hin und wollte wieder gehen, aber er hielt sie fest.

»Du bist so still, Ruth. Hast du mir nichts zu sagen?«

»Nein. Oder doch nur das eine, das du längst weißt, daß ich glücklich bin und dich liebe.«

»Und bist du glücklich?«

»Ja.«

Sie sagte das mit einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß. Und dann küßte sie seine Hand und verließ das Zimmer.


In der Halle, darin eben noch alles so laut und lebendig gewesen war, war jetzt alles still, und diese Stille schien noch zu[490] wachsen unter der Dunkelheit, die herrschte. Denn es war ein grauer Tag, ein rechtes Weihnachtswetter. Nichts war sichtbar als der weißgedeckte Tisch, von dem jetzt die Geschenke verschwunden waren, und daneben der Weihnachtsbaum, der wie ein dunkler Schatten in dem allgemeinen Dämmer aufragte. Ruth wollte daran vorüber, fuhr aber zusammen, als ihr Lehnert, den der Baum bis dahin verdeckt hatte, plötzlich entgegentrat. Indessen es währte nicht lang; im nächsten Augenblick lachte sie wieder: »Lehnert, du hier? Du schleichst ja wie durch den Forst.«

Sie wußte nicht, wie das Wort ihn traf, und setzte scherzhaft und in wiedergewonnener guter Laune hinzu: »Du darfst nicht vorher die goldnen Nüsse zählen; dazu ist Zeit heut abend, wenn wir den Baum plündern. Und dafür mußt du Sorge tragen, daß Maruschka das Beste kriegt, sonst ist sie traurig und weint.«

Lehnert versprach alles und fragte dann, ob der Vater in seinem Zimmer sei.

»Willst du zu dem

»Ja.«

»Und das heut am Weihnachtstag und gleich nach der Predigt? Ei, das muß etwas Großes sein.«

»Ist es auch. Ich will ihn um etwas bitten. Und höre, Ruth, dabei fällt mir ein, du könntest mir Glück dazu wünschen.«

»Wenn es etwas Gutes ist.«

»Ich glaube, daß es etwas Gutes ist.«

»Nun denn von ganzem Herzen.«

Sie gab ihm die Hand, und während sie nach links hin und weit um den Tisch herum auf den offenstehenden Flur zuschritt, schritt Lehnert auf Obadjas Zimmer zu, von dessen Tür er den Vorhang zurückschlug.

Obadja saß an seinem Arbeitstisch, genau wie damals, als Lehnert zum ersten Male hier eintrat, und ganz wie damals gab er sich und seinem Stuhl eine rasche halbe Wendung und sagte: »Nun, Lehnert. Was bringst du? Nimm Platz!«

Lehnert setzte sich auch wirklich, schwieg aber befangen.[491]

Endlich war er seiner Verlegenheit Herr und begann damit, ihm für die heutige Predigt zu danken, am meisten aber für das, was er gestern abend über den Valerius Herberger gesagt habe. Das hab ihn die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Er fühle, daß das das rechte Leben sei: sich, mit Gott im Herzen, vor dem Tode nicht zu fürchten. Und solches Leben zu führen, das sei so recht seine Sehnsucht. Und wenn ihn der Teufel der Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit nicht verblende, so möcht er wohl sagen dürfen, er glaube, daß er nicht bloß die Sehnsucht, sondern auch die Kraft dazu habe.

»Glaub's Lehnert, glaub's... Aber du wolltest mir etwas anderes sagen.«

»Ja«, bestätigte Lehnert, »das wollt ich...« Und doch (so fuhr er fort) hab er alles, was er eben über den Herberger und über sich selbst gesagt, erst sagen müssen, denn nur daraus, daß er auch so was wie der Herberger in sich fühle, nur daraus käm ihm der Mut zu dem, was er jetzt sagen wolle. Heraus müss' es; er liebe Ruth, und wenn das vermessen und hoffnungslos sei, dann woll er fort, und zwar lieber heut wie morgen...

Und nun hielt er inne, gewärtig dessen, was Obadja sagen würde.

Der aber schwieg beharrlich und schien nur durch Blick und Handbewegung andeuten zu wollen, daß Lehnert weitersprechen möge. Da fiel denn auch alle Furcht von ihm ab, und er ließ sein Herz nicht bloß reden, sondern ihm auch die Zügel schießen. Er wisse wohl, daß er ein schlechter Mensch und des Glückes, das er begehre, durchaus unwürdig sei. Aber er wisse auch, daß die Gnade groß sei, so groß wie seine Reue. Wen Gott erwählt habe (das seien Obadjas eigene Worte), der könne straucheln und fallen, aber er falle nur, um durch Gott selbst wieder aufgerichtet zu werden. Er hoffe, daß dies auch sein Los sein werde. Selbstgerecht und gewalttätig sein, das seien die Fehler seiner Jugend gewesen und die Wurzeln des Verbrechens, um dessentwillen er seine Heimat habe meiden müssen, aber er glaube sagen zu dürfen, das alles liege jetzt weit zurück,[492] und seit dem Tage, der seine Bekehrung gebracht, steh es fest in ihm, daß die Reinheit und der Friede das einzige Heil seien. Das Friedenslied, das damals gesungen worden sei, das hab ihn bekehrt, und wenn nicht das Lied, so die Stimme.

»Und wenn nicht die Stimme, so Ruth«, lächelte Obadja.

Aber Lehnert sah das Lächeln nicht. Er hörte nur heraus, was freundlich darin klang, und wiederholte mit Unbefangenheit: »Ja, Ruth...«, sie sei es, der er alles schulde, und sie werd ihm auch dann noch das Glück bedeuten, wenn er es, ihm nur zu begreiflich, in diesem Augenblicke für immer hinschwinden sähe. Denn Ruth, das wiss' er nur zu gut, sei weit über ihn hinaus, eine Herrentochter und eine Lady, während er in Not und Armut und in noch Schlimmerem großgezogen sei. Das heimatliche Haus habe nichts für ihn getan und die Schule nicht viel, und alles, was er sei, das habe zu Gutem und Schlimmem das Leben aus ihm gemacht. Er sähe hinauf zu Ruth. Aber seine Liebe sei groß und gleich groß sein Wille, sie glücklich zu machen. Sein Wille und hoffentlich auch seine Kraft.

Und nun sah er Obadja fest an und erwartete sein Urteil.

Der Alte schwieg aber und begegnete seinem Blicke mit nichts als freundlicher Ruhe. Dann erhob er sich, ging auf Lehnert zu und sagte: »Weiß Ruth davon?«

»Nein.«

»Nun, dann gedulde dich, Lehnert! Es ist Rahel, um die du wirbst... Ich werde dir Antwort sagen.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21973, S. 489-493.
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