Achtes Kapitel

[323] Lehnert, als Siebenhaar drüben war, kehrte – die Kartoffeln wurden eben erst beigesetzt, und der Speck war noch nicht in der Pfanne – zu seiner Arbeit zurück, eigentlich nur deshalb, weil er sich dem unverständigen Gerede der Alten nach Möglichkeit entziehen wollte. Dies gelang ihm aber nur auf eine kleine Weile, denn als bald danach das Essen auf dem Tische stand, brach der zurückgestaute Redestrom der Alten mit verdoppelter Macht über ihn herein, und die Versicherungen nahmen kein Ende, daß sich nun alles zum Guten wenden müsse: Lehnert werde seinen Eigensinn abtun und Opitz fünf gerade sein lassen und auf den Ohren sitzen. »Ja, Lehnert, so wird es kommen, und wir werden wieder gute Nachbarschaft halten, und alles wird gegenseitig sein, und ich werde mir bei der guten Frau Opitz wieder ein Mangelholz oder ein Kuchenblech borgen können, und Christine wird nicht mehr nötig haben, immer so zu tun, als ob sie sich aus uns nichts mache, nein, sie wird jede Stunde kommen können, und dann wird es auch noch was werden mit euch zwei beiden, und wir werden dann eine Hochzeit haben wie die gestern in Brückenberg.«

»Ach, Mutter, rede doch nicht immer von der Christine!«

»Warum nicht, Lehnert? Es ist ein gutes Kind, das was auf sich hält und was gespart hat. Und wenn's dann Hochzeit gibt...«

»Ja, wenn, wenn; die gibt es aber nicht. Christine ist eine Magd, und eine Magd heirate ich nicht, auch wenn sie drei Sparkassenbücher und eine ganze Linnentruhe hat. Ich versteh meine Sach und will in die Stadt gehen und eine Städtische heiraten, die Manieren hat. Und am liebsten will ich in die Welt gehen und gar nicht heiraten; es brennt mir hier unter den Füßen, und wenn es nicht deinetwegen wäre, Mutter, so ging' ich lieber heut als morgen. Übers Meer will ich. Es ist mir alles so klein und eng hier, ein Polizeistaat, ein Land mit ein paar Herren und Grafen, so wie unserer da, und sonst mit lauter Knechten und Bedienten. Aber davon verstehst du nichts, und[323] ist dir auch gleich. Mir aber ist es nicht gleich. Ich mag nicht, daß, wenn ein Schuß fällt, gleich sieben Förster da sind, die's mit ihren vierzehn Ohren hören und sich die Köpfe zerbrechen, wer da mal wieder den Staat betrügt und ein schwer Verbrechen auf seine Seele lädt. Und vielleicht war es gar nichts, bloß eine Milchsuppe von Berliner, ein Gymnasiast, der oben bei Wang ein paar Zündhütchen verknallt. Eine jämmerliche Welt hier; immer muß man scherwenzeln, und wenn man nach vorn hin dienert, stößt man nach hinten hin einen um. Eng und klein, sag ich, und ich möchte, wenn Siebenhaar auch dagegen ist – der Alte weiß nichts von solchen Dingen –, für mein Leben gern nach Amerika, wo's anders aussieht und wo, wenn ich mein Gewehr abschieße, niemand es hört als Wald und Berg und auf zehn Meilen in der Runde kein menschlich Ohr ist.«

»Das hast du wieder aus dem Buch, Lehnert. Wenn du doch das Lesen lassen wolltest. Siebenhaar hat es gut gemeint, als er dich auf die Schule geschickt. Aber mitunter denk ich, es wäre besser gewesen...«

»Ich wüßte gar nichts und wüßt auch nicht, daß es eine neue Welt gibt, die besser ist als die alte. Ja, Mutter, mag sein; aber das ist nun zu spät. Und ich danke Gott, daß ich's weiß und daß es einen Platz gibt, wo man hin kann, wenn einem der Boden hier zu heiß wird und das Leben zu miserabel vorkommt. Und nun bin ich auch noch auf den Opitz eingeschworen und soll Friede halten. Ach, es gefällt mir nicht und tut mir schon wieder leid, daß ich's dir und dem Alten versprochen und mein Wort gegeben habe. Und dem Alten sogar doppelt. Ach, dieser Opitz! Als ich mich jeden Tag noch über ihn wüten konnte, das war doch was, wenn's auch bloß Wut und Haß war, aber nun hab ich gar nichts und werde mir jede Stunde sagen müssen, daß ich ein Lump und ein Feigling geworden bin und daß der Kerl mich untergekriegt hat. Ach, Mutter, es wird nichts. Siebenhaar hat es gut gemeint, aber aus Hund und Katze kann man kein Paar machen; eine Weile mag es gehen, aber mit einem Male hebt die Katze die Pfote wieder, und der Hund packt zu. Hoffentlich bin ich der, der zupackt.«[324]

So redete Lehnert eine gute Weile, bis er zuletzt aufsprang und im Zimmer auf und ab schritt. Aber auch im Aufundabschreiten sprach er noch weiter, allerhand Unverständliches zwischen den Zähnen murmelnd, und mitunter war es, als ob er mitten in einem Streite stünde. Plötzlich blieb er stehen, erst vor der am Ofen hängenden Zither, über deren Saiten er – er war fast ein Virtuos auf diesem Instrument – mechanisch mit dem Zeigefinger hin und her fuhr, dann vor einem alten vergilbten Kalender, der, hart an der Tür, an demselben Riegel wie seine Flinte hing. Eben diese Flinte nahm er jetzt ab und stellte sie beiseit und riß aus dem Kalender ein paar Blätter heraus, hartes, steifes Papier, draus er seine Patronenhülsen zu machen pflegte.

»Was hast du vor, Lehnert? Du willst doch nicht in den Wald, am hellen lichten Tag?«

Es war, als ob die Worte der Alten ihn wieder zu sich brächten. Er lachte und warf die Blätter, deren eines er schon zu drehen begonnen hatte, rasch ins Feuer und hing die Flinte wieder an den Haken, von dem er sie genommen hatte.

Das Ganze war wie ein Anfall gewesen. Rasch, wie es gekommen, ging es wieder, und er kehrte zu seinem Arbeitsschuppen zurück.


Eine Woche verging, während der seine Stimmung beständig wechselte, was bei den Erlebnissen der letzten Zeit und mehr noch bei seinem von Natur beweglichen Gemüt nicht wohl wundernehmen konnte. Denn so gewiß er einen Hang nach dem Abenteuerlichen hatte, so gewiß überkam ihn auch, inmitten dieses Hanges, eine plötzliche Sehnsucht danach, die Hände in den Schoß zu legen und alles ruhig über sich ergehen zu lassen. Er war dann mit einem Male von der Vergeblichkeit alles Ankämpfens überzeugt und verlor in diesem ihn überkommenden Gefühl seiner Ohnmacht auch die Lust zum Kampf. »Ja, die Alte hat eigentlich ganz recht. Was ist all die Jahre bei meiner Auflehnung herausgekommen? Nur Ärger und böses Blut. Und so geht es dann weiter, immer Zug um[325] Zug, bis man sich das Messer in die Brust stößt. Ach, es ist besser, ich tue, was ich versprochen hab, und grüß ihn, anstatt ihn anzustarren und ein spöttisch Gesicht zu machen. Er ist der Stärkere, weil er im Dienst ist und die Gerichte neben und hinter sich hat. Und wer mit dem Stärkeren anbindet, solang er noch eine Wahl hat, der ist ein Narr. Wahrhaftig, was hab ich davon gehabt? Nichts, als daß ich zwei Monate hinter Schloß und Riegel war und daß nun in meinen Akten steht: ›Bestraft‹. Und wer kann immer gleich erzählen, wie's kam und daß es eigentlich nichts war; bestraft ist bestraft, und wenn man gefragt wird, wie's denn eigentlich mit einem stehe, so wird man rot und steht da, als ob man ein Galgenvogel wär oder einer, der den Leuten die Uhr aus der Tasche zieht.«


In dieser Richtung gingen tagelang Lehnerts Betrachtungen, und mehr, er tat auch danach, und wenn er in der letzten Woche, bloß um einer Begegnung auszuweichen, den großen Umweg am Waldsaume hin gemacht hatte, so zwang er sich jetzt, die Begegnung geradezu zu suchen, nur um durch artigen Gruß oder auch wohl durch ein »Guten Morgen, Herr Förster« seinen Respekt zu bezeugen. Und Opitz freute sich dieser Wandlung und gefiel sich seinerseits darin, den Gnädigen zu spielen. Er trat jetzt öfter, wenn Lehnert vorüberging, mit einer Art wohlwollenden Behagens, an den Staketenzaun heran und verstieg sich nicht bloß zu Fragen und Scherzworten, sondern einmal sogar bis zur Inanspruchnahme kleiner Gefälligkeiten. »Ihr geht ja nach Arnsdorf, Lehnert. Bitte, nehmt das mit an den Grafen, und wenn Ihr bei Pohl vorbeikommt, so bringt mir eine Kruke Himbeersaft mit herauf. Oder lieber eine Flasche, wenn er's in Flaschen hat. Ich kann heut die Christine nicht schicken.«

An solchen Annäherungen war eine Zeitlang kein Mangel, und Frau Menz berechnete sich schon, was, im Herbst, beim Gänseschlachten, auf das sie sich ganz vorzüglich verstand (sie sang dann immer, wenn sie die Gans zwischen die Knie nahm und mit dem Messer zu bohren anfing, allerlei Wiegenlieder),[326] an Federn und Fett für sie abfallen würde. »Ja, Lehnert, du siehst es nun. Ist es nicht besser so? Haben wir nicht gute Tage? Sage selbst!«

Aber diese guten Tage sollten nicht Dauer haben. Im Gegenteil, sie gingen so rasch, wie sie gekommen waren, und wie gewöhnlich war es ein bloßes Geklätsch, was den ersten Anstoß zu diesem Wiederhinschwinden gab.

Christine, wohl wissend, welche Pläne Frau Menz mit ihr hatte, war jetzt oft drüben bei der Alten, öfter vielleicht, als gut war, und jedenfalls öfter, als sie sollte. Zu verdenken war es ihr freilich nicht, denn die Försterei, wenn Opitz im Wald war, war ein schweigsames, ja beinah ein melancholisches Haus, in dem wenig gesprochen wurde. Plaudern aber und sich aussprechen war Christinens größte Lust, und dazu gab es für sie keine bessere Gelegenheit als bei den Menzes drüben. Alles nahm ihr die Alte wie vom Munde weg, und wenn drüben bei Opitzens eine Maus gefangen oder ein Fliegenstock umgefallen war, so war es ein mitteilenswertes Ereignis, an das sich sofort allerlei Hoffnungen und Befürchtungen knüpften.

Und zu solcher Plauderstunde war man eben wieder beisammen und genoß sie doppelt, weil Christine nicht mit leeren Händen, sondern mit einem Teller voll prächtiger Glaskirschen herübergekommen war, deren Heranreifen die alte Menz schon seit anderthalb Wochen mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte.

»Die schickt Euch die Frau Försterin«, sagte Christine.

»Gott, Gott, die Frau Försterin! Eine seelensgute Frau, das muß wahr sein, und alle wie frisch vom Baum und keine angestoßen. Aber er auch, er is auch gut; ein bißchen bullrig und kollert gleich, aber wer es bloß versteht, der hat es gut mit ihm. Und wie soll er's denn auch anders machen? Er muß doch auch welche anzeigen. Lehnert sagt es auch. Und sie sind ja jetzt ein Herz und eine Seele.«

»Ja«, sagte Christine. »Das sind sie. Das heißt, solang es dauert.«

»Wird schon dauern, Kind, wird schon. Warum soll es nicht dauern? Sie haben sich nun beide die Hörner abgestoßen[327] und sehen, daß Frieden besser ist als Krieg. Lehnert grüßt ihn und gafft ihm nicht mehr ins Gesicht. ›Guten Morgen, Herr Förster‹, sagt er. Und dann stehen sie beid' an dem Staketenzaun und haben ihren Schnack. Und neulich hat ihm Opitz einen Zettel an den Grafen mitgegeben und eine Bestellung für unten bei Pohl, und Lehnert hat ihm alles besorgt und ihm den Himbeersaft auch richtig mit raufgebracht. Eine ganze Flasche voll. Es war justament der Tag, als der neue Oberförster kam und ihr drüben den Semmelpudding hattet. Aber was sag ich nur, du mußt es ja besser wissen als ich...«

»Freilich weiß ich es. Aber ich weiß auch, was Opitz sagte.«

»Was war es, was er sagte?«

»›Nu‹, sagte er, als er vom Flur in die Küche kam und den Saft vor uns hinstellte, ›da habt ihr den Saft, das süße Zeug, das der Lehnert mit raufgebracht hat. Und diesmal mag es drum sein. Aber das nächste Mal, Bärbel, das nächste Mal paß besser auf. Der große Herr drüben ist auf eine Weile zahm geworden und frißt vorläufig aus der Hand. Aber wer weiß, ob es vorhält...‹ Ja, Frau Menz, das war es, was Opitz sagte. Und als meine gute Frau darauf antwortete und ihm zureden wollte, weil Lehnert ja jetzt grüße, da ließ er sie gar nicht zu Worte kommen und bullerte gleich los: ›Das verstehst du nicht, Bärbel. Was heißt Gruß? Er grüßt; aber es ist auch danach. Er hat noch dieselben Mucken wie sonst; ich seh's ihm jedesmal an, wenn er so verlegen dasteht und nicht weiß, was er sagen soll. Und ein Glück ist es, daß er wenigstens eine Weile klein beigegeben! Davon erholt er sich nicht wieder. Wer mal zu Kreuze gekrochen ist, der bringt die Courage nicht mehr fertig. Das ist nu mal so.‹«

So ging das von Frau Menz und Christine geführte Gespräch, das noch eine Weile weitergesponnen wurde, weil sie sich allein glaubten. Aber sie waren nicht allein. Dicht hinter ihnen stand Lehnert in der offenen Tür und hatte jedes Wort mit angehört. Er zog sich, eh sie seiner gewahr wurden, still wieder zurück und ging auf seinen Arbeitsschuppen und in diesem auf die Stelle zu, wo die Hobelspäne hoch aufgeschichtet lagen.[328]

Da warf er sich hin und schlug sich vor die Stirn und schwur und zitterte. Denn er war seiner Sinne kaum noch mächtig. Zuletzt verfiel er in ein krampfhaftes Weinen, aber auch die Tränen gaben ihm keine Erleichterung. Er hatte sich klein und verächtlich gemacht und alles umsonst. Alles lag wieder wie vordem, und vor seiner Seele stand es, wie's kommen würde.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21973, S. 323-329.
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