Zweiundzwanzigstes Kapitel
Im Weißkopf

[392] In denselben Stunden, in denen der über Lewins Gefangenschaft Auskunft gebende Brief den Weg von Frankfurt nach Hohen-Vietz hin machte, machte Lewin in Person den Weg von Frankfurt nach Küstrin. Nur die Breite des Flusses lag zwischen ihnen, und der alte Rysselmann, wenn er schärfer zugesehen hätte, hätte die französischen Eskorte-Mannschaften erkennen müssen, die drüben am neumärkischen Ufer ihre Straße zogen. Es waren Voltigeurs, ausgesuchte Leute, die man unter den Befehl eines alten, schon in Spanien gedienten Sergeanten gestellt hatte. Und solche Vorsichtsmaßregeln waren mit gutem Grunde getroffen worden, denn hatten es die Russen auch tags zuvor an gutem Willen und jedenfalls an Worthalten fehlen lassen, so waren sie doch in der Nähe, durchschwärmten die Neumark und machten sich recht eigentlich eine Aufgabe daraus, kleine feindliche Kommandos wegzufangen. Das erheischte nur geringe Opfer und machte von sich reden. Dieser Sachlage waren sich die Begleitmannschaften auch voll bewußt und ließen es, um schlimmsten Falles nicht ohne Fürsprache zu sein, an Aufmerksamkeit gegen ihren Gefangenen nicht fehlen. Mußten sie doch fürchten, jeden Augenblick selber Gefangene zu werden.

Aber ihre Befürchtungen erfüllten sich nicht; die Kosaken, nach denen auch Lewin von Zeit zu Zeit ausgesehen hatte, kreuzten nirgends ihren Weg, und nachdem um Mittag die Kirch-Göritzer ausgebauten Häuser und bald darauf auch die[392] Pulvermühlen von ihnen passiert worden waren, trafen sie Punkt zwei vor der Festung ein und lieferten ihren Gefangenen auf dem alten Küstriner Schloßhof ab. General Fournier d'Albe tat ein paar Fragen, die trotz aller Kühle doch Teilnahme verrieten, musterte die schlanke Gestalt Lewins und gab dann Befehl, ihn auf dem »Weißkopf« unterzubringen.

Lewin erschrak, als er diesen Namen hörte.

Der »Weißkopf« war ein auf Bastion Brandenburg stehender Rundturm, eigentlich nur das mannshohe Fundament eines solchen, von dem die Sage ging, daß es zwei, drei Tage vor der Hinrichtung Kattes als Schafott für diesen aufgemauert worden sei. Dies alles war nun freilich durch einige lebusische Spezialhistoriker, darunter auch unser Seidentopf, als nicht stichhaltig nachgewiesen worden; aber stichhaltig oder nicht, die bloßen Vorstellungen, die sich in Folge dieser Sage an eben diese Örtlichkeit knüpften, reichten gerade hin, den Gedanken eines vor einem Kriegsgericht Stehenden eine sehr trübe Richtung zu geben.

Und nach diesem »Weißkopf« hin wurde Lewin nun wirklich abgeführt. Ein Gefreiter und zwei Mann nahmen ihn in ihre Mitte, und unser Gefangener fürchtete schon, den Rest des Tages und vielleicht auch die Nacht in einem kellerartigen Gewahrsam zubringen zu müssen, als er im Näherkommen zu seinem Troste wahrnahm, daß auf dem mannshohen Unterbau des Turmes noch ein nicht unfreundlich aussehendes, aus Fachwerkwänden aufgeführtes Turmhäuschen stand, an das sich von außen her eine Holztreppe lehnte, acht oder zehn halb ausgebrochene Stufen.

Und vor diesen Stufen hielt jetzt das Kommando. Der Schlüssel zu der kleinen eisenbeschlagenen Obertür fehlte, fand sich indes schließlich, als der Kastellan vom Schloß her herbeigeholt worden war, der nun öffnete und den Gefangenen eintreten ließ. Der Alte, solange der Gefreite da war, zeigte sich einsilbig und mürrisch genug; Lewin aber, aller mangelnden Menschenkenntnis unerachtet, konnte doch leicht erkennen, daß dieses einsilbig mürrische Wesen nur äußerlich[393] angenommen war. Er durfte sich in der Folge und unter vier Augen mehr Entgegenkommen von dem Alten versprechen. Vorläufig schloß dieser wieder ab, schob zum Überfluß noch einen Riegel vor und folgte dann dem abrückenden Wachkommando.

Und nun war unser Gefangener in seinem Turmzimmer allein.

Aber war es denn ein Zimmer? Die Mansardenstuben der alten Hulen hatten ihn nicht verwöhnt, und doch waren es Palasträume, verglichen mit diesem Erstenstock-Zimmer im »Weißkopf«. Es hatte fünf Schritt im Quadrat, und wenn er sich aufrichtete, berührte seine Filzkappe die Decke. »Wie lebendig begraben!« sagte er und schritt auf das Fenster zu, um wenigstens frische Luft einzulassen. Der rechte Flügel, den er zuerst öffnete, hing nur in der oberen Haspe, so daß er ihn um des Windes willen, der wehte, rasch wieder schließen mußte; mit dem linken Flügel aber ging es besser, und er hakte das Ösenstäbchen ein und sah nun den Fluß und das Land hinauf, das als ein Bild winterlicher Schöne vor ihm lag. Und alles in dem Bilde kannte er, und alles war ihm wohlvertraut. Da nach links hin die weite Fläche mit den Weidenbüschen am Ufer, das war die Krampe, wo die Kirch-Göritzer ihre Schlacht geschlagen hatten, und dahinter, an den Kusseln erkennbar, lief der Hohlweg, den er, als er mit Tubal von Doktor Faulstich kam, bei halbem Dunkelwerden passiert hatte. Und nun gar nach rechts hin ins Bruch hinein! Da dehnten sich, nur durch Pappelwege verbunden, die Gorgaster und Neu-Manschnower Gehöfte, und mitunter war es ihm, als sähe er den Hohen-Vietzer Turm und das Kreuz darauf, blitzend in der Nachmittagssonne. Lange hing er dem Bilde nach, dann zog er den Fensterflügel wieder heran und durchmaß den engen Raum.

Fünf Schritt. In der Quere noch weniger, denn hier stand eine Bettlade. In dieser lagen vier, fünf Bretter, und zu Füßen lehnte ein Binsenstuhl, tief eingesessen, mit einzelnen, nach unten hängenden Halmen. Sonst nichts; nur ein paar eingekratzte[394] Herzen in der Wand und vier, fünf Namen darunter. Französische Namen. Also Neues, nichts Altes, nichts aus den Katte-Tagen her, und Lewin war so trostbedürftig, daß er in diesem geringfügigen Umstand einen Trost für seine bedrückte Seele fand.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als er wieder Tritte draußen hörte und gleich darauf den Alten eintreten sah, der inzwischen den Namen seines Gefangenen erfahren hatte und nun kam, um sich nach den Wünschen des »Junkers« zu erkundigen. Der General, so verschwor er sich, habe alles erlaubt, und was er nicht erlaubt habe, darüber würden zwei Landsleute doch miteinander reden können. »Nicht wahr, Junkerchen? Und dann, Junkerchen, es wird nichts so heiß gegessen, wie es vom Feuer kommt. Und der letzte Trost ist immer: ›Einen Tod kann der Mensch bloß sterben.‹«

»Ja«, sagte Lewin, »aber wann?«

»Ei, noch lange nicht. Ihr Sand, Junkerchen, ist noch nicht durchgelaufen. Bei Ihnen hat die Predigt erst angefangen. Und der Sand muß durch, eher ist es mit keinem nich vorbei.«

Lewin dankte dem Alten für seinen Zuspruch und bat ihn um ein Nachtessen, was es sei, am liebsten eine Suppe. Aber nicht vor sieben Uhr. Wenn er ein Buch habe, so solle er es ihm schicken; er wolle sich ans Fenster setzen, solang es noch Tag sei, und sich die Zeit mit Lesen vertreiben.

Der Alte versprach alles, und nicht lange – die kleine Schloßturmuhr schlug eben vier –, so wurden draußen Stimmen laut, und ein Klappen wie von Holzpantinen ließ sich auf den Treppenstufen vernehmen. Gleich darauf öffnete sich auch wieder die kleine Tür, und ein breitschulteriger, allem Anscheine nach auch riesengroßer Chasseur à pied – der, vornübergebückt, sich abmühte, ein breit zusammengeschnürtes Bündel durch die zu schmale Türöffnung hereinzuziehen – wurde von hinten her sichtbar. Ein altes Weib, mit vielem Kupfer im Gesicht, stand noch auf den Stufen draußen und schob nach. Endlich war das Bündel durch, und der Chasseur machte jetzt Front und begrüßte den Gefangenen mit einem[395] halb gutgelaunten, halb spöttischen: »Bon jour, camarade«, in gleichem Tone hinzusetzend: »Voici votre équipage!«

Lewin erwiderte den Gruß und musterte den jetzt aufrecht vor ihm stehenden Chasseur, der in seiner ganzen Haltung und Ausstaffierung als ein vollkommener Typus südfranzösischer Nonchalance gelten konnte. Sein Collet stand offen, während seine beiden Füße in großen, mit Stroh gefütterten Holzschuhen steckten; offenbar ein gutmütiger, renommistischer Gascogner, der, um anderweitig dienstfrei zu werden, den Kalfakterdienst im Schloß übernommen hatte.

»Madame de Cognac«, wandte er sich jetzt an die noch immer auf der Treppe stehende Alte, »s'il vous plaît! Komme Sie herein, Madame, und knüppre Sie auf.« Lewin lächelte. »Oui, monsieur; knüppre Sie auf; c'est tout-à-fait allemand. Oh, ich gelernt habe gut Deutsch. Moi. N'est-ce pas, Madame?«

Diese nickte.

»Vous voyez, Monsieur, notre marquise de Chaudeau a consenti.«

Während dieses Gespräches war denn auch wirklich das Bündel aufgeknotet worden, und der Chasseur und seine Begleiterin mühten sich jetzt gemeinschaftlich ab, ein Lager für den Gefangenen herzustellen. Und nun waren sie fertig damit: ein Strohsack, ein Seegraspfühl und ein verschossener Mantel mit Otterfellkragen, den der alte Kastellan, da Betten oder Decken im ganzen Schloß nicht mehr aufzutreiben gewesen waren, aus seinem eigenen Kleiderschranke hergegeben hatte. In dem großen Bündel hatten sich übrigens auch noch drei Bücher befunden, die jetzt von seiten des Chasseurs unter affektiert respektvollen Verbeugungen und »avec les compliments de monsieur le Châtelain« an Lewin überreicht wurden. »Et à sept heures le souper.« Darnach klappten wieder die Pantinen auf der Treppe draußen, und das Kauderwelsch mit der Alten setzte sich fort, bis es in dem Winde, der über Bastion Brandenburg hinstrich, verklungen war.

Lewin rückte den Stuhl ans Fenster, um in die drei Bücher hineinzusehen, die der Kastellan ihm geschickt hatte. Zwei,[396] schwarz gebunden mit zitronengelbem Schnitt, waren, was sich erwarten ließ, Bibel und Gesangbuch. Aber das dritte! Es war nur ein Büchelchen, zwei Pappdeckel, mit marmoriertem Papier, an den Ecken abgestoßen. Und nun las er: »Bericht des Majors von Schack über des Lieutenants von Katte Dekapitation, 6. November 1730.« Das hatte der Alte schlecht getroffen. Es überlief unseren Gefangenen eiskalt, und er legte die Bibel darauf, daß er es nicht sähe.

Lange, lange Stunden.

Er ging wieder auf und ab und zählte. »Erst tausend Schritt.« Endlich schlug es sieben. Es war ihm ein unangenehmer Gedanke, den Gascogner noch einmal eintreten zu sehen, aber statt seiner erschien der alte Kastellan selbst und brachte das Nachtessen: eine Suppe, aus Brotrinden und Hagebutten gekocht.

»Nun, Junkerchen, da haben Sie was Warmes. Das Brot, das haben die Franzosen gebacken, aber die Hagebutten, die sind aus Markgraf Hansen seinem Küchengarten, und meine Lene, was meine Jüngste ist, die hat sie selber gepflückt. Es war ein rechtes Hagebuttenjahr. Hören Sie, Junkerchen, auch für die Franzosen; aber die haben die Hacheln gekriegt.« Und dabei setzte der Alte den Suppentopf und eine Stallaterne, in der ein Lichtstümpfchen schwelte, vor Lewin nieder und sagte, während er schon halb in der Türe stand: »Und nun Gott befohlen, Junkerchen. Es kommt, wie's kommt. Und blasen Sie gleich aus; denn Licht darf nicht sein. Es geht mir sonst an Kopp und Kragen. Hören Sie, gleich ausblasen.«

Lewin hatte Hunger, und der würzige Duft tat seinen Sinnen wohl. Aber er konnte nicht essen. Es war nicht der verzinnte Löffel, der so bitter schmeckte, es war die Todesfurcht, die sich ihm auf die Zunge legte. Er stellte den Napf aus der Hand, löschte das Licht und warf sich auf das Bett. Im Liegen empfand er, daß ihn die Uhr drücke, und er nahm sie heraus, um sie neben sich auf den Binsenstuhl zu legen. Dann erst wickelte er sich in den Mantel, zog den Kragen bis unter das Kinn und sah von seinem Kissen aus auf die Sterne, die matt[397] durch die kleinen Fensterscheiben zu ihm her flimmerten. »Und kann auf Sternen gehn«, klang es in seiner Seele immer leiser, immer ferner, und darüber schlief er ein.

Er schlief fest, viele Stunden lang; der überanstrengte Körper verlangte sein Recht. Aber gegen Morgen begann er zu träumen. Er sah eine Schlittenfahrt und hörte das Läuten der Glocken, und als die Schlitten hielten, war es vor einem alten Rundbogenportal, durch das winterlich in Mäntel und Muffen gekleidete Paare in ein hochgewölbtes Schiff eintraten. An den Pfeilern hingen vertrocknete Kränze mit langen Bändern, die sich im Zugwind bewegten, und zwischen diesen Pfeilern hin schritten alle, unter denen auch die schöne Matuschka war, auf den Altar der Kirche zu. Und als sie nun dicht heran waren, begann die Orgel zu spielen. Aber in demselben Augenblicke wandelte sich das Bild, und die grauen Steinpfeiler wurden zu weißgetünchten Holzsäulen, um die grüne Girlanden gewunden waren. Und auch die Frauen waren nicht mehr dieselben, andere waren es, sommerlich gekleidete mit Blumen im Haar, und alle folgten einem voranschreitenden Paare, das er nicht erkennen konnte, denn er schritt hinterher, und erst als er den Altar erreicht hatte, vor dem ein Grabstein lag, sah er, daß er es selber war, der an dieser Stelle getraut werden sollte. Aber er wußte nicht mit wem, denn die Braut war über und über in einen weißen Schleier gehüllt, und auf dem weißen Schleier leuchteten goldene Sterne.

Als nun aber die Orgel schwieg und der Geistliche nach dem »Ja« fragte, da schlug die Braut den Schleier zurück, und statt des »Ja«, das ihm auf der Lippe war, sagte er: »Marie«.

Er hatte das Wort laut gesprochen und fuhr auf, als ob er eine schwindende Erscheinung festhalten wolle. Wo war er? Er sah den Sternenhimmel und fühlte den von seinem eigenen Atem feucht und eisig gewordenen Mantelkragen. Und allmählich stieg die ganze furchtbare Wirklichkeit vor ihm herauf, und er lauschte, ob er nicht schon den Tritt eines ihn abholenden Wachkommandos hören könne. Wußte er doch, daß die Morgendämmerung die Zeit für solche Szenen sei.[398]

Aber was war die Stunde? Er griff nach der Uhr und ließ sie repetieren. Fünf. Das war noch zu früh; es konnte nicht vor sechs geschehen. Also noch eine Stunde Leben, aber auch noch eine Stunde Tod, und er wünschte sich die Minuten weg, um Gewißheit zu haben. Das Letzte, das Schreckliche konnte nicht so schrecklich sein wie diese Qual. Er sprang auf, öffnete das Fenster und sog begierig die Nachtluft ein, aber umsonst; er sah alles, wie es kommen mußte, und rief Gott an, nicht mehr um sein Leben, das war hin, sondern um Kraft in seiner letzten Stunde. »Nur nicht gemein aus diesem Leben gehen!« Und dann sah er wieder nach Hohen-Vietz hinüber, nach dem Fleckchen Erde, das ihm vor allem teuer war, und er winkte und grüßte mit der Hand. »Lebt wohl, all ihr Geliebten.«

In diesem Augenblicke schoß ein Lichtstrahl am östlichen Himmel auf und verschwand wieder. Es war der erste Bote, den der Tag sendet, lange bevor er selber mit seinem goldnen Wagen heraufzieht. »Soll es mir ein Zeichen sein?«

Und er wurde ruhiger.

Sechs Uhr. Der Tritt keines Wachkommandos wurde draußen hörbar, und so festigte sich in ihm die Überzeugung, daß er wenigstens diesen Tag noch zu leben haben werde. Und ein Tag war viel; was konnte dieser eine Tag nicht alles bringen? Und er sprach wieder die Strophe vor sich hin, die schon einmal in allertrübster Stimmung ihn aufgerichtet hatte:


»Hoffe, harre; nicht vergebens

Zählest du der Stunden Schlag,

Wechsel ist das Los des Lebens,

Und es kommt ein andrer Tag.«


Ja, ja, hoffe, harre. Ein Tag noch, ein ganzer Tag noch! Und dieser Tag lag jetzt vor ihm wie das Leben selbst, und er sah ihm entgegen, als ob er ihm eine Welt von Ereignissen bringen müsse.

Was er ihm aber zunächst brachte, war nur wieder der Chasseur, dessen ohnehin unsoldatischer Aufzug durch einen an seinem linken Arm hängenden Deckelkorb noch gesteigert[399] wurde. »Bon jour, monsieur de Vietzewitz. Pardon, si ce n'est pas tout-à-fait correct. Mais votre nom, c'est un nom difficile.«

Lewin bestätigte.

»Voici votre café. Un bon café, sans doute. Cela veut dire: de la chicorée. Mais qu'importe! c'est un café allemand.«

Unter diesen und anderen Worten (denn er zählte zu den Schwatzhaften) hatte der Chasseur den Deckelkorb geöffnet und den braunen Bunzlauer Topf auf das Fensterbrett gesetzt, unterließ auch nicht, Schwarzbrot und ein paar frischgebackene Semmeln hinzuzulegen. Dann hing er statt des Korbes die große Laterne, die vom Abend vorher noch da war, an seinen Arm und empfahl sich mit einem halb spöttischen: »Votre serviteur.«

Lewin war froh, wieder allein zu sein, rückte den Stuhl an das Fenster und nahm sein Frühstück. Es schmeckte leidlich, und als er damit geendigt, lehnte er sich zurück und sah, aufatmend und neu belebt, in den glühenden Sonnenball, der eben die vor ihm liegende Göritzer Kirchturmspitze vergoldete.

»Nun will ich lesen.« Und damit nahm er die Bibel und schlug auf:

»Prophet Daniel!« Ein Lächeln überflog seine Züge, und er sagte vor sich hin: »Nein, nicht Daniel. Jeder in meiner Lage bildet sich ein, in der Löwengrube zu sein.« Und er blätterte weiter, bis er an die Makkabäer, und dann wieder zurück, bis er an das Buch der Richter kam. »Ja, das ist ein hübsches Buch; frisch, mutig, das soll mich aufrichten!«

Und er begann zu lesen.


Aber seine Lektüre war noch nicht weit gediehen, als er ein Stapfen und Räuspern hörte und, sich aufrichtend, Hoppenmarieken erkannte, die hart am Rande von Bastion Brandenburg entlangkam. Keine zwölf Schritt von ihm entfernt. Sie sah jetzt hinauf, hob den Stock mit ihrer Linken und warf im selben Augenblick ein Knäuel, das sie rasch aus dem Brusttuch hervorgeholt hatte, in sein Fenster hinein. Zugleich mit dem Knäuel fielen ein paar Scheibensplitter vor ihm nieder, und ehe[400] er noch Zeit hatte, sich von seiner Überraschung zu erholen, war die Alte schon wieder fort. Er sah ihr nach und bemerkte jetzt, daß sie mit einem weiter abwärts stehenden Wachtposten ein Gespräch begonnen hatte, natürlich in Zeichensprache. Sie bot ihm aus ihrer Flasche an, und als andere, von den nächsten Schilderhäusern her, herzukamen, gab es Kapriolen und schallendes Gelächter, bis sie schließlich mit ihrem Stock salutierte und um den Schloßhügel herum wieder auf die Stadt zuschritt.

Jetzt erst nahm Lewin das Knäuel auf. Es war nicht groß, wog aber schwer und mußte mithin noch einen Inhalt haben. Er spaltete zunächst von einem der in der Bettlade liegenden Bretter einen Span ab und begann nun die nur stricknadeldicke, aber sehr feste Hanfleine vorsichtig abzuwickeln, ersichtlich zu dem Zweck, daß er, wenn er überrascht würde, beide Knäuel, das alte und das neue, mit Leichtigkeit verbergen könne. Und jetzt war er fertig und hielt sorglich einen umnähten flachen Stein in Händen, an dessen fester Lederöse das eine Hanfleinenende befestigt war. In derselben Lederöse steckte aber auch ein zusammengerollter Papierstreifen. Diesen rollte er jetzt auseinander und las: »Wirf Schlag zwölf (Ablösung ist erst um eins) dieses Knäuel über das Bastion; halte den Faden fest und sorge, daß er abläuft. Wenn er sich strafft, ziehe die Strickleine hinauf. Dann laß dich hinab. Schlimmsten Falles springe! Unten tiefer Schnee – und wir.«

Lewin verbarg das Zettelchen; es zerreißen, das konnte er nicht, denn er fühlte, daß er es wieder und immer wieder lesen werde. Dann aber sank er, wo er stand, in die Knie und dankte Gott für die Rettung seines Lebens. Denn er zweifelte nicht mehr, daß er gerettet werden würde, und war fest entschlossen, wenn alles andere scheiterte, den Sprung von dem Bastion aus zu wagen. Sprang er fehl, so starb er wenigstens in den Händen der Seinen, und der Armesündergang, samt dem Trommelwirbel und den verbundenen Augen, blieb ihm erspart. Und vor diesem Apparat erschrak er am meisten. »Der Tod ist erträglich, aber die Exekution ist unerträglich.« Das[401] bloße Wort widerte ihn an, und alles, was roh und häßlich ist, stieg bei dem bloßen Klange desselben in einer Reihe fratzenhafter Jahrmarktsbilder vor ihm auf.

Und diesem Widerwärtigen, was auch kommen mochte, war er nun entronnen. Aber freilich, als der erste Jubel seines Herzens vorüber war, fühlte er bald, daß er nur die Tyrannen gewechselt habe und daß das Horchen auf die Rettungsstunde fast so qualvoll sei wie das Horchen auf den Tod. Er durchmaß den engen Raum immer wieder, öffnete und schloß das Fenster und überflog den Zettel, dessen Inhalt er längst auswendig wußte, zum zehnten und dann zum hundertsten Mal. Der Chasseur brachte das Mittagessen; aber er bat ihn, alles wieder mit fortzunehmen; ihn verlangte nur nach Luft und Frische, und wahrnehmend, daß vom Dache her lange Eiszapfen bis dicht an sein Fenster niederhingen, brach er ein paar davon ab und labte sich an ihrer Kühle. Dann las er wieder und prüfte das Knäuel und berechnete die Höhe des Bastions. Und das letzte war immer, daß es nichts sei und daß jeder Sprung aus einer zweiten Etage viel, viel mehr bedeute. Und unten zehn Fuß Schnee! Es mußte glücken, und er vergaß unter diesen Vorstellungen fast, daß ihm der Sprung überhaupt nur als Notbehelf und letztes Mittel dienen sollte.

Und nun war Mittag vorüber und endlich auch der Nachmittag. Die Sonne ging unter, das Abendrot erblaßte, und der Tag schwand hin. Nur noch sechs Stunden, bald nur noch fünf. Er zählte die Minuten.

Um sieben Uhr kam der alte Kastellan. »Junkerchen, sie sitzen jetzt am grünen Tisch; der alte General ist auch da, ein ›bon garçon‹, wie der Tagedieb sagt, den sie mir als Kalfakter zugelegt haben.«

»Also Kriegsgericht über mich?«

»Ja, Junkerchen. Ich habe den großen Saal heizen müssen. Das ist der mit dem Balkon, wo Markgraf Hans über dem Kamin hängt, lebensgroß mit gelbledernen Stiefeln, und Sporen so lang wie meine Hand. Der wird sich wundern.«

»Ich glaub's.«[402]

»Und wenn der junge Herr noch einen Brief schreiben wollen oder eine Bestellung an den Papa...«

»Steht es so, Kastellan?«

»Ich sage nicht, daß es so steht; aber es kann so stehen. Ein Kriegsgericht ist ein Kriegsgericht, und es hängt allewege an einem seidenen Faden. Ach, Junkerchen, unser Bestes ist schon immer: gesattelt sein.«

»Das ist es«, sagte Lewin mechanisch, während sich seine Seele, der ihre Furcht noch einmal wiederkehrte, mit doppelter Gewalt an das Leben klammerte. Aber der Alte sah es nicht; er nahm den Deckelkorb, den der Chasseur zurückgelassen hatte, bot eine »Gute Nacht!« und ließ seinen Gefangenen allein.

»Sie sitzen also jetzt oben«, sagte dieser, »und Markgraf Hans mag dreinschauen, wie er will, er wird mich vor ihrem Todeswort nicht retten. Es ist mir, als sprächen sie es jetzt. Und ich fühle den Stich hier im Herzen. Aber ich will leben; Gott, erbarme dich meiner und sei mit deiner Gnade über mir. Laß ihr Wort zuschanden werden.« Und er faltete die Hände wieder und preßte seine heiße Stirn an die Scheiben.

Die Sterne zogen herauf, und er suchte die Bilder zusammen, soviel er deren kannte. Aber im Gewölk verschwanden sie wieder. »Die Stunde rinnt auch durch den längsten Tag.« Und nun endlich schlug es elf.

»Noch eine Stunde«, murmelte er vor sich hin, »und diese Qual hat ein Ende! So oder so.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21973, S. 392-403.
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