XXIV

[705] Haag


Was man von der anmuthigen Lage dieses Ortes und den übrigen Vorzügen sagt, die ihn zum angenehmsten Aufenthalt in den vereinigten Provinzen machen, ist keinesweges übertrieben. Die Gegend um die Esplanade und unweit derselben zeichnet sich durch große, bequeme und zum Theil prächtige Wohnhäuser aus, wovon einige beinahe den Namen Palläste verdienen. Die Reinlichkeit und eine gewisse, bis auf die kleinsten Bequemlichkeiten sich erstreckende Vollständigkeit der äußern und innern Einrichtung, welche jederzeit den sichersten Beweis von Wohlhabenheit, verbunden mit einem feinen Sinn für Eleganz und Genuß des Lebens giebt, verschönern selbst die einfacheren Gebäude. Unter den hochbewipfelten Linden, die oft in mehreren Reihen neben einander stehen und der Stadt einen ländlichen Schmuck verleihen, geht man fast zu allen Jahrszeiten trocknes Fußes spazieren, und die Aussicht von der Straße nach dem freien Felde, wo gewöhnlich die hiesige Garnison ihre kriegerischen Frühlingsübungen hält, erquickt besonders jetzt das Auge durch das frisch hervorkeimende Grün der fetten Wiesen, die von allen Seiten ein hochstämmiger, reizender Lustwald umfängt. Rings umher ist die Natur so schön, wie ein vollkommen flaches Land sie darbieten kann, und selbst mit dem verwöhnten Geschmack, den ich aus unseren Rheinländern mitgebracht habe, muß ich bekennen, daß die hiesige Landschaft einen eigenthümlichen, großen, wenn gleich keinesweges romantischen Charakter hat.

Die Volksmasse im Haag ist so gemischt, daß man es kaum wagen darf, den Schluß von ihrer Lebensweise, ihren Sitten und ihren Anlagen auf die Holländische Nation zu machen. Zu meinem großen Vergnügen bemerkte ich jetzt fast gar keine Bettler auf den Straßen, die vor zwölf Jahren so stark damit besetzt waren, daß ein Fußgänger sich des Unwillens über ihre Zudringlichkeit kaum erwehren konnte. Desto auffallender ist gegenwärtig das zahlreiche Militaire; den ganzen Morgen manoeuvriren die verschiedenen Regimenter unter unsern Fenstern; den ganzen Tag über hat man sie beständig[705] vor Augen, und man kommt in keine Gesellschaft, wo man nicht Officiere sieht. Solchergestalt ist wenigstens die neuerdings befestigte Freiheit sehr gut bewacht! Auch trägt man hier allgemein ihr Siegeszeichen, die Orangekokarde, oder ein Band von dieser Farbe im Knopfloch, und der Pöbel duldet keinen Menschen ohne dieses Symbol der Conformität auf der Straße.

In den Sitten und der Lebensweise herrscht, ungeachtet der Residenz eines Hofes, noch manche Spur der alten republikanischen Einfalt und Tugend. Die späte Stunde der Mittagsmahlzeit scheint durch die Verbindungen und Beziehungen der vornehmeren Einwohner mit dem Prinzen, den Versammlungen der Generalstaaten und der höheren Dikasterien allmählig Sitte geworden zu seyn. In den meisten Häusern ißt man nicht vor drei Uhr, in den vornehmeren erst um vier; die arbeitende Klasse der Bürger macht indeß hier, wie überall, eine Ausnahme, weil sie fester am alten Brauche hängt und im Grunde auch die Zwischenräume ihrer Mahlzeiten nach der Erschöpfung des Körpers abmessen muß. Die Tafel wird in den besten Häusern mit wenigen, gut zubereiteten Speisen besetzt, und, so viel ich höre, hat das Beispiel der auswärtigen Gesandten und einzelner Familien des begüterten Adels den prassenden Aufwand und die leckere Gefräßigkeit unseres Jahrhunderts noch nicht eingeführt. Das gewöhnliche Getränk bei Tische ist rother Wein von Bordeaux, dessen man sich doch mit großer Mäßigkeit bedient, theils weil man mehrere Stunden bei der Mahlzeit zubringt, theils auch, weil zwischen den Mahlzeiten bei der Pfeife Wein getrunken wird; denn diese behält durchgehends ihre Rechte und ist kaum noch aus einigen der ersten Häuser verbannt. Vielleicht wird sie bei der hiesigen feuchten, nebeligen Seeluft nöthiger und zuträglicher oder wenigstens unschädlicher als anderwärts, so sehr sie auch die Zähne verdirbt. Schwarze Zähne sieht man aber auch bei dem Frauenzimmer; sie werden vielleicht mit Unrecht auf Rechnung des täglich zweimaligen Theetrinkens gesetzt, da die hiesige alkalescirende Diät mir weit eher die Schuld zu tragen scheint.

Nun ich einmal des Frauenzimmers erwähnt habe, erwartest Du wohl ein Wort zur näheren Bezeichnung desselben; allein[706] ich beziehe mich auf meine vorige Bemerkung: die gemischte Race im Haag gestattet mir kein allgemeines Urtheil. Die vielen, durch die Verbindungen des Hofes hieher gebrachten fremden Familien, die Französische reformirte Kolonie und die Mischungen der Niederländer selbst aus allen Provinzen tragen auf eine fast nicht zu berechnende Art dazu bei, den hiesigen Einwohnern eine mehrentheils angenehme, wenn auch nicht charakteristisch nationale Gesichtsbildung zu geben. Die Französische Mode herrscht übrigens, wie bei uns, mit unumschränkter Gewalt, und bestimmt die Bestandtheile, die Form und den Stoff des Anzuges. Bei der Mittelklasse scheint der Luxus nach Verhältniß des Ortes und der Umstände sich noch ziemlich in Schranken zu halten; hier sah ich die Englischen großen Baumwollentücher oder Shawls in allgemeinem Gebrauch. Die Weiber aus der geringen Volksklasse und die Mägde erscheinen dagegen in einem den Fremden äußerst mißfälligen Costume. Ein kurzes, öfters weißes Mieder, dessen Schöße, wenn es deren hat, nicht zum Vorschein kommen, bezeichnet ungefähr die Holländische, zum Umspannen nicht gemachte Taille; allein die Anzahl der Röcke und ihre Substanz geben diesem Anzug etwas Ungeheures, so daß die untere Hälfte des Körpers, von den Hüften bis an die Waden, in einer Art von kurzer, dicker Tonne zu stecken scheint. Auf dem Kopfe eine dicht anschließende Haube und bei den Landleuten darüber ein Strohhut, der um Rotterdam hinten gar keinen Rand, im Haag hingegen rundum einen gleich breiten Rand hat, aber jederzeit mit dunkelfarbigem bunten Kattun gefüttert ist, vollenden diesen Anzug. Die Tracht der Mannspersonen ist weniger ausgezeichnet und fast allgemein von der größten Simplicität. Das Volk hat eine Vorliebe für die braune Farbe; fast alle Schifferjacken und Schifferhosen sind von braunem Tuch oder Boy. In der Klasse der Handwerker und Krämer sind große Perücken noch sehr gebräuchlich, und man sieht oftmals einen ehrbaren Bürger, der mit einem spitzen dreieckigen Hut auf der großen, runden Perücke und in einer bloßen Weste mit Ärmeln gravitätisch über die Straße geht.

Es wird uns schwer werden, wieder von hier wegzukommen; die Stunden gehen uns schnell wie Minuten hin, theils indem[707] wir alle Sehenswürdigkeiten der Natur und Kunst in Augenschein nehmen, theils indem wir aus einer Gesellschaft in die andere gerathen, wo zwanglose Gastfreundschaft herrscht und die Forderungen eines an Geistesgenuß gewöhnten Reisenden in vollem Maaße befriedigt werden. Die Annehmlichkeit und Leichtigkeit der Haager im Umgang verräth den Einfluß des Auslandes und des Hofes; allein der gebildete, lehrreiche Ton des Gespräches versetzt sie auf eine höhere Stufe sowohl der Anlagen als der Bildung, und giebt ihren Zirkeln gleichen Rang mit den gebildetsten in England und Frankreich. In gewisser Rücksicht haben sie vielleicht vor beiden einigen Vorzug; man wird weder durch Leichtsinn und sprudelnden Witz, noch durch düstere Zurückhaltung und Taciturnität in Verlegenheit gesetzt. Ein großer Reichthum von Ideen aller Art, hauptsächlich der statistischen und politischen, doch auch zugleich der im engern Verstande wissenschaftlichen, ist in beständigem Umlauf; vorzüglich sind hier, und überhaupt in Holland, naturhistorische Kenntnisse nebst klassischer und humanistischer Gelehrsamkeit allgemeiner als in manchen anderen Ländern verbreitet.

Den Plato, nicht etwa nur der hiesigen akademischen Schattengänge, sondern unseres Jahrhunderts, den eleganten und gelehrten Hemsterhuis, fanden wir sterbend und konnten ihn nicht mehr besuchen.10 Wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß Feinheit der Empfindung, Reichthum und Wahl der Ideen, Politur des Geschmackes, verbunden mit der Fertigkeit und den subtilen Stacheln des ächten Witzes, mit der lichtvollen Ordnung einer herzlichen Philosophie und dem Dichterschmuck einer Alles verjüngenden Einbildungskraft, nicht an irgend eine Erdscholle gebunden sind, so würde wenigstens ein Mann, wie dieser, beweisen, daß Holland nicht aus der Zahl der Länder ausgeschlossen ist, wo die edelsten Kräfte und die zartesten Empfänglichkeiten der menschlichen Natur den höchsten Punkt ihrer Entwickelung erlangen und die reifsten Früchte bringen können. Der Geist, der in diesem schwachen Körper wohnt, ist so empfindlich für Harmonien aller Art, und leidet so im eigentlichen Verstande bei jedem Mißverhältniß in der sinnlichen, wie in der sittlichen Natur,[708] daß er sich sogar seiner vaterländischen Mundart nicht zum Vehikel seiner Gedanken bedienen konnte, sondern alle seine Werke Französisch schrieb und auch diese Sprache zu seinen Zwecken gleichsam umbildete, indem er ihr seinen eigenen Styl aufdrang. Seine Schriften sind unter uns weniger bekannt, als sie es verdienen; allein man muß sie in der Ursprache lesen, wenn man von ihrer Attischen Eleganz, die oft nur ein unnachahmlicher Lebenshauch ist, nichts verlieren will.

Petrus Camper, einer der merkwürdigsten Männer, welche die Niederlande hervorgebracht haben, war durch einen unzeitigen Tod wenige Wochen vor unserer Ankunft seinem Freunde Hemsterhuis vorangegangen. Seine ausnehmenden Verdienste um die Naturgeschichte, die Anatomie und Wundarzneikunst sind allgemein bekannt; die Universalität seiner Kenntnisse und Fähigkeiten, und insbesondere sein richtiger Sinn für das Schöne der Kunst, sind es schon weniger. Er bossirte, wußte den Bildhauermeißel zu führen, malte in Ölfarben und zeichnete außerordentlich fertig mit der Feder. Er schrieb in vier Sprachen und arbeitete nicht nur mit unermüdeter Thätigkeit, sondern auch mit einem Feuer, dessen nur wahres Genie fähig ist. An seinem Beispiele konnte man abnehmen, was sich für die Wissenschaften ausrichten läßt, sobald eifriger Wille und hinreichende Mittel zusammentreffen. Ihm verdankt man in Holland die Einführung der Blatternimpfung und der in jenem Lande nicht minder wichtigen Impfung der ansteckenden Krankheit, die das Hornvieh hinwegrafft; sein rastloser Eifer bestritt und seine Kuren besiegten das thörichte Vorurtheil, welches die Vorsorge für die Gesundheit für einen Eingrif in die Rechte der Vorsehung hielt, wie man in der Türkei vor Zeiten das Löschen bei einem Brande anzusehen pflegte, bis die Erfahrung gelehrt hatte, daß die Vorsehung in allen diesen Fällen auf die Anwendung der gesunden Vernunft mitgerechnet habe, und eben sowohl den Menschen, wie die Elemente und die Krankheitsmiasmen, zu ihren Werkzeugen gebrauche. Wenn Camper in irgend einer wichtigen Untersuchung begriffen war, konnte nur die Unmöglichkeit ihn hindern, sie durchzuführen; weder kleine noch große Hindernisse, wenn sie nicht unübersteiglich waren, schreckten ihn zurück, und wenn es ihm darauf ankam, ein[709] Paar Gerippe von Thieren mit einander zu vergleichen, achtete er die Entfernung von London und Paris für nichts. Reisen überhaupt, diese große, unvergleichbare Quelle der sichersten Belehrung durch die eigenen Sinne, suchte er, so weit es anging, mit seinen Geschäften zu vereinbaren. Bei der brennenden Begierde das Gute, oder was er dafür hielt, zu wirken, war ihm die wissenschaftliche und selbst die praktisch medizinische Laufbahn zu enge. Er besaß ein eigenes Vermögen von einer halben Million, und konnte folglich in dieser Rücksicht den Hof entbehren; allein er opferte dem Ruhm und der Ehre, mit einem Geiste, der freilich auch diese Leidenschaft adeln kann; und sowohl seine Bekanntschaft mit den inneren Angelegenheiten seines Vaterlandes, als seine auswärtigen Verbindungen, empfahlen ihn zu wichtigen Ämtern im Staate. In seiner Provinz Friesland hatte er Sitz und Stimme im Admiralitätskollegio, und gleich nach der Rückkehr des Erbstatthalters, dessen Rechte er eifrig verfochten hatte, ward er zum Mitglied des hohen Staatsrathes (Raad van Staaten) ernannt. Diese Anhänglichkeit an die Oranische Partei hätte indeß für die Wissenschaften eine sehr nachtheilige Folge haben können. Schon wollte man in Franeker sein Haus zu Klein Lankum, wo er die unschätzbarste Präparaten- und Naturaliensammlung besaß, mit Kanonen in den Grund schießen. In der Eile wurden die kostbarsten Stücke in Kisten gepackt oder vielmehr geworfen und fortgeschafft oder auch zum Theil vergraben. Als die Gefahr vorüber und die Ruhe wieder hergestellt war, strafte er seine Landsleute dadurch, daß er ihnen seine Gegenwart und sein berühmtes Kabinet entzog.

Diese lehrreiche Sammlung haben wir hier mehrere Tage nach einander mit Bewilligung seines jüngsten Sohnes, des jetzigen würdigen Besitzers, sehr fleißig studirt, ob sie gleich für den Zergliederer, den Arzt, Wundarzt und Naturforscher Beschäftigung und Belehrung auf viele Wochen gewähren kann. Sie ist vorzüglich reich an solchen seltenen Stücken und Präparaten, welche die Funktionen der Theile des menschlichen Körpers durch die Vergleichung mit ähnlichen, aber anders proportionirten Theilen verschiedener Thiere erläutern. So manche Einrichtung in der menschlichen Organisation mußte[710] unerklärbar bleiben, bis ihr Nutzen an irgend einem Thiere, welches sie etwa in einem eminenteren Grade besaß oder wo sich deutlicher die übrige Gestalt und Beschaffenheit des Körpers darauf zu beziehen schien, endlich offen bar ward und somit in der Behandlung gewisser Krankheiten ein neues Licht aufging. Zur Geschichte der Krankheiten, so fern ihre materielle Veranlassung an gewissen Theilen der Eingeweide sichtbar ist, hatte Camper viele der seltensten Präparate aufbewahrt, und mit nicht geringerem Fleiß und Glück auch die Abarten der Menschengattung durch die abweichende Bildung ihrer Schedel zu erläutern gesucht11, wiewohl seine Sammlung in diesem Betracht weder so zahlreich ist, noch so viele Nationen in sich faßt, wie das Museum der Göttingischen Universität. Die Aufmerksamkeit auf den Knochenbau der Thiere, den man bisher zu sehr vernachlässigt hatte, ist seit kurzem fruchtbar an Entdeckungen gewesen. Zum erstenmal bewunderte ich hier die große Verschiedenheit des kleinen Orangutangs von dem großen, dessen Ankunft aus Borneo mir der selige Camper selbst vor mehreren Jahren mit Frohlocken gemeldet hatte. Dieses Thier, das über vier Fuß hoch wird, kommt in einigen Stücken dem Menschen noch näher, als der kleine, gewöhnliche Orangutang; hingegen weicht es in andern wieder mehr ab und geht in die Paviansgestalt über. Alles an seinem ungeheuren Schedel zeugt von Riesenstärke: der aufstehende Rand auf der Scheitel und über den Augenhöhlen, woran die Schläfemuskeln gesessen haben, das furchtbare Gebiß und die gewaltigen Kinnbacken, welche zur Vertheidigung gegen die größten Tiger völlig hinreichend zu seyn scheinen. Das Schaltbein des Oberkiefers, (os intermaxillare) welches keinem Thiere fehlt, war hier so verwachsen, daß man es schlechterdings nicht erkennen konnte. Neben dieser Asiatischen Seltenheit will ich nur noch einer Afrikanischen erwähnen, nämlich eines Affen oder eigentlich einer Meerkatze[711] mit einer langen Nase; zum Belage der Behauptung, daß auch dort, wo die Analogie und die Bildung des Schedels eine solche Conformation dieses Theiles höchst unwahrscheinlich machen, die Natur dennoch eine Gestalt ausprägen kann, deren Möglichkeit wir erst zugleich mit ihrer Wirklichkeit aus der Erfahrung lernen müssen. Ich übergehe den Unterschied zwischen dem Asiatischen einhörnigen und dem Afrikanischen zweihörnigen Nashorn, der hier an den beiden Schedeln, unter andern auch darin so auffallend ist, daß diesem die Schneidezähne gänzlich fehlen, die jenes besitzt. Eben so wenig will ich Dich mit dem so offenbaren specifischen Unterschiede zwischen dem Asiatischen und Afrikanischen Elephanten, zwischen den Bären, die wir jetzt kennen, und jenen wenigstens viermal so großen, deren Gerippe man aus den Höhlen im Bayreuthischen aufgegraben hat, zwischen dem furchtbaren, unbekannten Thier, das ehemals am Ohio in Nordamerika existirte, und von dessen Knochen man in diesem Kabinet einige schöne Stücke antrift, und dem kaum halb so großen Elephanten, länger aufhalten. Der jüngere Camper hat diesem Kabinet noch eine prächtige, zum Theil auf seinen eigenen Reisen zusammengebrachte Mineraliensammlung einverleibt; auch besitzt er noch den unschätzbaren Nachlaß von seines Vaters Handschriften, Zeichnungen, Kupferplatten und zum Drucke fertig liegenden Schriften, die der wahrhaft große Mann aus keiner andern Absicht zurücklegte, als um seiner Arbeit immer noch größere Vollständigkeit zu geben. Der jetzige Besitzer des Kabinettes geht in wenigen Wochen damit nach Friesland auf sein Landgut zurück, weil ihm der Aufenthalt im Haag zu kostbar scheint; ein Umstand, der zugleich den Maaßstab der hiesigen Theurung und des hiesigen Aufwandes giebt.

Lyonnets vortrefliches Conchylienkabinet hatte ich schon vor zwölf Jahren gesehen; jetzt hatte es seinen größten Werth für uns verloren, denn der Sammler selbst, der unnachahmliche Zergliederer der Weidenraupe, der ihre drittehalbtausend Muskeln zählte und das Werk vieler Jahre, die vollständige, bis an die äußersten Gränzen sowohl der menschlichen Sehkraft als des geduldigen Fleißes getriebene Untersuchung dieses Insekts, mit eigener Hand in Kupfer ätzte, der berühmte[712] Lyonnet, ist nicht mehr. Seine bewundernswürdigen Arbeiten waren nur die Frucht seiner Nebenstunden; den Generalstaaten diente er als geheimer Sekretair und Déchiffreur. Allein man respektirt in republikanischen Verfassungen den individuellen Charakter der Menschen und ihr freies Beginnen, anstatt mit dem Despotismus von dem falschen Grundsatz auszugehen, daß die Menschen nur für den Staat geschaffen und als Räder in der Maschine anzusehen sind, die ein Einziger bewegt. Daher ist dort dem Staate selbst die Muße der Beamten heilig, während man in Despotien so viele traurige Beispiele sieht, daß sie ohne Rast, und mit Aufopferung ihrer Individualität, ihrer Nachtruhe und ihrer Gesundheit das schwere Joch der Staatsgeschäfte tragen und als bloße Werkzeuge ihren Verstand, ihr Herz und ihren Willen verläugnen müssen.

Wenn die wissenschaftliche Aufklärung hier große Fortschritte gemacht hat und einige wissenschaftliche Begriffe mehr als anderwärts in Umlauf gekommen sind, so darf man nicht vergessen, wie viel das Beispiel einzelner Männer dazu beitragen kann, wenn entweder ihr Charakter Achtung einflößt oder ihr Standpunkt die Augen Aller auf sie richtet. Außer dem Einfluß, welchen Hemsterhuis, Camper und Lyonnet auf ihre Landsleute behaupteten, hat der Eifer, womit der ehemalige Russische Gesandte, Fürst Dimitri Gallizin, sich mehrere Jahre lang in allen Zweigen der Physik und neuerdings in der Mineralogie die gründlichsten Kenntnisse erwarb, unstreitig viel gewirkt, um sowohl diesen Wissenschaften selbst als denen, die sich ihnen widmeten, in den Augen des hiesigen Publikums einen günstigen Anstrich zu geben. Das Mineralienkabinet des Fürsten enthält die Sammlung eines Kenners, der hauptsächlich dasjenige aufbewahrt, was in seiner Art selten und seiner Beziehungen wegen lehrreich ist. Wir bewunderten darin ein anderthalb Fuß langes Stück von dem seit kurzem erst wieder bekannt gewordenen beugsamen Sandstein des Peiresk, der aus Brasilien gebracht wird, und wurden durch die Experimente des Fürsten überzeugt, daß die decomponirten Granitarten des Siebengebirges bei Bonn, noch stärker als Basalte vom Magnet gezogen werden. In der Mineraliensammlung der Herren Voet, Vater und Sohn, überraschte uns[713] nicht nur die Schönheit und Auswahl der Stufen, sondern auch die hier ganz unerwartete Vollständigkeit.

Ich nenne zuletzt ein Museum, welches in jeder Rücksicht die oberste Stelle verdient, und in der Welt kaum zwei oder drei Nebenbuhler hat, die man ihm mit einigem Recht an die Seite setzen kann: das wahrhaft fürstliche Naturalienkabinet des Prinzen von Oranien. Wenn man bedenkt, wie weit die Anlegung einer Sammlung von dieser Art die Kräfte des reichsten Privatmannes übersteigt, wie leicht hingegen ein Fürst, auch nur mit mäßigen Einkünften, sich statt eines andern Vergnügens dieses Verdienst um die Wissenschaften erwerben kann, und endlich, wie unentbehrlich diese Anhäufungen aller bekannten Erzeugnisse des Erdbodens, zur allgemeinen Übersicht, zur zweckmäßigen Anordnung, zur speciellen Geschichte der einzelnen Naturkörper und folglich zur Vervollkommnung der ersten, unentbehrlichsten unserer Kenntnisse sind; so erstaunt man, wie es möglich ist, daß so viele Privatpersonen den Versuch gewagt haben, sich ein Naturalienkabinet zu sammeln, und daß im Ganzen genommen die Potentaten gegen diesen wichtigen Zweig ihrer Pflichten so gleichgültig haben bleiben können. Freilich mag die widersinnige, oder, daß ich richtiger schreibe, die negative Erziehung, die man den meisten Fürsten giebt, wohl Schuld daran seyn, daß ihre Begriffe von der Wichtigkeit, dem Nutzen und der Nothwendigkeit der Dinge sehr oft mit denen, die andere vernünftige Menschen darüber hegen, in offenbarem Gegensatz stehen. Wie dem auch sei, so trift der Vorwurf jener Sorglosigkeit keinesweges den hiesigen Hof. Die Pracht, die Seltenheit, die Auswahl, der Aufputz und die sorgfältige Unterhaltung der Naturalien des Erbstatthalterischen Kabinets fallen nicht nur beim ersten Anblick auf, sondern die Bewunderung steigt, je länger und genauer man es untersucht. Die Geschenke, welche der Prinz zuweilen von den Gouverneuren der verschiedenen Holländischen Besitzungen in Indien erhält, so ansehnlich sie auch sind, verschwinden in der Menge und Mannigfaltigkeit dessen, was für seine Rechnung aus allen Welttheilen hinzugekauft worden ist. Das mühsame Geschäft, ein so berühmt gewordenes Museum an einem von Reisenden so frequentirten Orte täglich vorzuzeigen, würde bald, da es ganz auf[714] Einem Manne ruht, dem überdies die Sorge für die Erhaltung und Vermehrung des Ganzen übertragen ist, die Kräfte dieses Einen erschöpfen, wenn man nicht zwischen dem großen gaffenden Haufen und dem Naturforscher von Profession einen Unterschied machte. Die gewöhnlichen Neugierigen eilen hier, wie im Brittischen Museum zu London, in Zeit von zwei Stunden durch die ganze Enfilade von Zimmern. Gelehrte hingegen haben freien Zutritt, so oft und so lange sie wollen: eine Erlaubniß, die man zuweilen mit Unbescheidenheit gemißbraucht hat, der wir aber auch schon die wichtigsten Aufschlüsse, zumal im Fache der Thiergeschichte, verdanken. Hier war es, wo Pallas zuerst den Grund zu seinem nachmaligen Ruhm als Naturforscher legte. Herr Vosmaer führte uns freundschaftlich zu verschiedenenmalen in diesem reichen Tempel der Naturwissenschaft umher, und zeigte uns auch die neu hinzu gekommenen Stücke, die noch nicht an ihrem bestimmten Orte aufgestellt waren, wie z.B. das Skelet eines der größten Krokodile aus dem Nil, und auf dem Boden das Gerippe des Camelopardalis der Alten oder der Giraffe der Neuern, dieses seltsamen Thieres, das mehr einem Traum der Einbildungskraft, als einem Glied in der Naturkette ähnlich sieht, und von dessen Trab, wie man sagt, der Springer im Schachspiel seinen Gang entlehnt. Sein ungeheuer langer Hals, der vorzüglich dazu beiträgt, ihm eine Höhe von achtzehn Fuß zu geben, besteht doch nur, wie bei allen vierfüßigen, säugenden Thieren, aus sieben Wirbeln; so streng beobachtet die Natur selbst in ihren excentrischen Gestalten das Gesetz der Analogie. Von dem großen Orangutang, wovon Camper bloß den Schedel besitzt, enthält das fürstliche Museum das vollständige Gerippe mit ungeheuer langen Armen, wie der bekanntere langarmige Affe, (Gibbon, Golok oder Lar.) Es wäre thöricht, in Ernst das Merkwürdigste aus einem Kabinet ausheben zu wollen, wo dem Naturforscher alles merkwürdig ist, und wo man dem Nichtkenner mit leichter Mühe jedes einzelne Naturprodukt von einer wichtigen und interessanten Seite darstellen kann; es wäre unmöglich und ermüdend zugleich, das lange Verzeichniß des ganzen Vorraths abzuschreiben. Genug, das Kabinet, wo man mit Vergnügen die Nashörner und Flußpferde neben dem kleinsten Spitzmäuschen[715] und Kolibritchen bemerkt, und wo, des großen, schon vorhandenen Reichthums ungeachtet, noch immer für neue Vermehrungen gesorgt wird, verdient in jeder Rücksicht die Aufmerksamkeit des Dilettanten und des Kenners. Die Menagerie des Prinzen im Loo hat den Fehler einer ungesunden Lage, und dient daher zu wenig mehr, als zur Pflanzschule für das Naturalienkabinet.

Ich könnte Dir jetzt noch etwas von den Versammlungszimmern der Generalstaaten und der hohen Dikasterien, im alten Schloß, im Oraniensaal, u.a.O. sagen, wenn ich nicht Vorkehrungen zu unserer Abreise treffen müßte, die noch diese Nacht vor sich gehen soll. Ein wahrer Deus ex machina ist herabgefahren, um die Bande zu lösen, die uns an den Haag gefesselt hielten. Morgen um zwölf Uhr stehen wir auf dem Admiralitätswerft in Amsterdam, und sehen den neuen Triton vom Stapel laufen; kaum bleibt uns so viel Zeit, daß wir von jedermann Abschied nehmen und uns über den Schmerz der allzu frühen Trennung beklagen können.

10

Er ist kurz nach unserer Abreise gestorben.

11

Den Beweis hiervon giebt die so eben herausgekommene Schrift: Peter Camper über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine; nebst Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von seinem Sohne, Adrian Gilles Camper. Übersetzt von S. Th. Sömmerring. Mit zehn Kupfertafeln. 4. Berlin, 1792.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 705-716.
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