XXV

[716] Amsterdam


In einer Nacht hat sich unser Schauplatz so sehr verändert, daß nichts gegenwärtig Vorhandenes eine Spur des gestrigen in unserm Gedächtnis weckt. Wir leben in einer andern Welt mit Menschen einer andern Art. Wir haben zwei Schauspiele gesehen, die ich Dir zu schildern wünschte, um Deiner Einbildungskraft den Stoff zu einigen Vorstellungen von Amsterdam zu liefern. So spät es ist, will ich es noch diesen Abend versuchen; die Gespenster des Gesehenen sind noch wach in meinem Kopf, und gönnen mir keine Ruhe.

Wir standen auf dem Werft der Admiralität; uns zur Seite stand das prächtige Arsenal, ein Quadrat von mehr als zweihundert Fuß, auf achtzehntausend Pfählen ruhend, und ganz mit Wasser umflossen. Schon waren wir durch seine drei Stockwerke gestiegen und hatten die aufgespeicherten Vorräthe für ganze Flotten gesehen. In bewundernswürdiger Ordnung lagen hier, mit den Zeichen jedes besondern Kriegesschiffs,[716] in vielen Kammern die Ankertaue und kleineren Seile, die Schiffblöcke und Segel, das grobe Geschütz mit seinen Munitionen, die Flinten, Pistolen und kurzen Waffen, die Laternen, Kompasse, Flaggen, mit Einem Worte alles, bis auf die geringsten Bedürfnisse der Ausrüstung.12 Vor uns breitete sich die unermeßliche Wasserfläche des Hafens aus, und in dämmernder Ferne blinkte der Sand des flachen, jenseitigen Ufers. Weit hinabwärts zur Linken hob sich der Wald von vielen tausend Mastbäumen der Kauffahrer; die Sonnenstralen spielten auf ihrem glänzenden Firniß. Am Ufer und nah und fern auf der Rhede lagen theils abgetakelt und ohne Masten, theils im stolzesten Aufputz mit der Flagge, die im Winde flatterte, und dem langen, schmalen Wimpel am obersten Gipfel der Stengen, die größeren und kleineren Schiffe der Holländischen Seemacht. Wir ehrten das Bewußtseyn, womit uns der Hafenmeister die schwimmenden Schlösser zeigte und mit Namen nannte, deren Donner noch zuletzt so rühmlich für Holland auf Doggersbank erscholl. Mit ihm bestiegen wir den Moritz von vier und siebenzig Kanonen, ein neues Schiff, das schon im Wasser lag, und staunend durchsuchten wir alle Räume, wandelten umher auf den Verdecken, und betrachteten den Wunderbau dieser ungeheuren Maschine. Zur Rechten lagen die Schiffe der Ostindischen Kompagnie bis nach der Insel Osterburg, wo ihre Werfte sind. Die ankommenden und auslaufenden Fahrzeuge, sammt den kleinen rudernden Booten belebten die Scene. Um uns her auf dem geräumigen Werfte feierten die Tausende von Kattenburgern13 von ihrer Arbeit; in mehreren großen und kleinen Gruppen ging und stand die zehntausendköpfige Menge von Zuschauern; ein buntes Gewühl von See- und Landofficieren in ihren Uniformen, von Zimmerleuten in ihrem schmutzigen Schifferkostume, von müßigen, umhertobenden Knaben, von ehrsamen Amsterdammer Bürgern und Frauen, von Fremden endlich, die aus allen Ländern hier zusammen treffen und[717] einander oft so sehr überraschen, wie uns hier eben jetzt die Erscheinung unseres R. aus Göttingen.

Endlich naht der entscheidende Augenblick heran. Man stellt uns vorn an den Kiel der neuen Fregatte, so nah daran, daß der getheerte Bauch über unseren Köpfen schwebt. Völlig sicher stehen wir da und bewundern diese Kunst der Menschen, die jeden Gedanken von Gefahr entfernt. Könnte das Schif umwerfen, statt abzulaufen, so lägen hier Hunderte von uns zerschellt. Jetzt werden die Blöcke weggeschlagen, worauf es noch ruht; jetzt treibt man hinten einen Keil unter, um es dort höher zu heben; man kappt das Tau, woran es noch befestigt war – und nun, als fühlte der ungeheure Körper ein eigenes Leben, nun fängt er an, erst langsam und unmerklich, bald aber schneller sich zu bewegen; schon krachen unter ihm die kleinen, untergelegten Bretter, und sieh! jetzt gleitet er mit immer zunehmender Geschwindigkeit ins Meer! Tief taucht sich der Schnabel ein, bis das Wasser die ganze Masse trägt; eben so tief versinkt jetzt wieder das Hintertheil; die Fluthen laufen hoch am Ufer hinauf, und die umliegenden Schiffe schanken hin und her. Es jauchzt und frohlockt die Menge der Waghälse, die auf dem neuen Triton über unseren Köpfen wegfahren; sie schwenken ihre Hüte und ein lauteres Jubelgeschrei vom Lande übertönt ihre Stimmen. So hebt sich himmelan das Herz von stolzer Freude über das Wollen und Vollbringen des menschlichen Geistes!

Ich weile noch einen Augenblick auf diesem Schauplatz der umfassendsten Geschäftigkeit; denn sie ist es, der die Stadt und selbst die Republik ihr Daseyn und ihre Größe verdanken, und in der Betrachtung dieses Phänomens werden zugleich die Hauptzüge des Nationalcharakters offenbar. Welches andere Volk in Europa hätte den ausdauernden Muth gehabt, mit Philipp dem Tyrannen, dem mächtigen Beherrscher beider Indien und seinen Nachfolgern den achtzigjährigen Krieg zu führen? Welches Volk hätte nicht in dem unglücklichen Jahr 1672 als Ludwig der Vierzehnte schon bis Muiden vorgedrungen war, ich will nicht sagen, sich ergeben, sondern zu zahlen aufgehört? Nur mit ihren durch den Handel erworbenen und concentrirten Kräften, mit ihren vorsichtig aufgehäuften Materialien zum Schiffbau und zur Ausrüstung[718] ihrer ungeheuren Flotten, konnten die Niederländer so lange der vereinigten Seemacht von Frank reich und England die Spitze bieten; allein ohne die freiwillige Einschränkung auf die ersten Bedürfnisse des Lebens, diese hohe Republikanertugend, die hier wenigstens in eben dem Maaße raisonnirt als klimatisch und körperlich war, hätten sie zu einem solchen langwierigen Wettstreit weder physische Kräfte noch Stärke der Seele gehabt. Wahrlich, die Besonnenheit, die mit unermüdetem Fleiße, mit dem redlichen Bestreben nach einem Vermögen, welches der Erwerb ihrer eigenen Hände sei, mit Geschicklichkeit in den mechanischen Künsten und Talent zu ihrer Vervollkommnung, mit Kühnheit auf dem Meere, mit Tapferkeit im Kampfe, mit Standhaftigkeit in Gefahr, mit Beharren in Widerwärtigkeit, mit Enthaltsamkeit im Überfluß, und, was über dieses alles geht, mit unauslöschlicher Freiheits- und Vaterlandsliebe verbunden ist – die darf man wohl etwas mehr als bloßes Phlegma nennen!

Also, nicht dem Auge allein, sondern auch dem Verstand erscheint Amsterdam von der Wasserseite in seinem höchsten Glanze. Ich stelle mich in Gedanken in die Mitte des Hafens, und betrachte links und rechts die Gruppen von vielen hundert Schiffen aus allen Gegenden von Europa; ich folge mit einem flüchtigen Blick den Küsten, die sich nach Alkmaar und Enkhuisen erstrecken und auf der andern Seite hin, den Busen des Texels bilden. Die Stadt mit ihren Werften, Docken, Lagerhäusern und Fabrikgebäuden; das Gewühl des fleißigen Bienenschwarmes längs dem unabsehlichen Ufer, auf den Straßen und den Kanälen; die zauberähnliche Bewegung so vieler segelnden Schiffe und Boote auf dem Südersee, und der rastlose Umschwung der Tausende von Windmühlen um mich her – welch ein unbeschreibliches Leben, welche Gränzenlosigkeit in diesem Anblick! Handel und Schiffahrt umfassen und benutzen zu ihren Zwecken so manche Wissenschaft; aber dankbar bieten sie ihr auch wieder Hülfe zu ihrer Vervollkommnung. Der Eifer der Gewinnsucht schuf die Anfangsgründe der Mathematik, Mechanik, Physik, Astronomie und Geographie; die Vernunft bezahlte mit Wucher die Mühe, die man sich um ihre Ausbildung gab; sie knüpfte ferne Welttheile an einander, führte Nationen zusammen, häufte die[719] Produkte aller verschiedenen Zonen – und immerfort vermehrte sich dabei ihr Reichthum von Begriffen; immer schneller ward ihr Umlauf, immer schärfer ihre Läuterung. Was von neuen Ideen allenfalls nicht hier zur Stelle verarbeitet ward, kam doch als roher Stoff in die benachbarten Länder; dort verwebte man es in die Masse der bereits vorhandenen und angewandten Kenntnisse, und früher oder später kommt das neue Fabrikat der Vernunft an die Ufer der Amstel zurück. – Dies ist mir der Totaleindruck aller dieser unendlich mannigfaltigen, zu Einem Ganzen vereinigten Gegenstände, die vereinzelt und zergliedert so klein und unbedeutend erscheinen. Das Ganze freilich bildet und wirkt sich ins Daseyn aus, ohne daß die Weisesten und Geschäftigsten es sich träumen ließen; sie sind nur kleine Triebfedern in der Maschine und nur Stückwerk ist ihre Arbeit. Das Ganze ist nur da für die Phantasie, die es aus einer gewissen Entfernung unbefangen beobachtet und die größeren Resultate mit künstlerischer Einheit begabt; die allzu große Nähe des besonderen Gegenstandes, worauf die Seele jedes Einzelnen, als auf ihren Zweck, sich concentrirt, verbirgt ihr auch des Ganzen Zusammenhang und Gestalt. –

Nachmittags machten wir nach unserer Gewohnheit einen Spaziergang durch die Stadt. Die Aussicht von der Amstelbrücke hält den Vergleich mit der Maas bei Rotterdam nicht aus; dagegen sind die Hauptstraßen an den großen Kanälen (Heerengraft, Printzengraft, Keyzersgraft u.a.m.) weit länger und breiter als selbst der schöne Boompaes, und ihre Häuser sind großentheils Palläste. In einer kleinen Stadt fällt das Gewühl mehr auf, als hier, wo man Raum hat, einander auszuweichen; allein es giebt auch in Amsterdam Gegenden, wo man sich nur mit Mühe durch das Gewimmel in den engen Gassen durchdrängen kann. Den ganzen Tag herrscht überall ein unaufhörliches Getöse; die unzähligen Equipagen der Bürgermeister und Rathsherren, Staatsbeamten, Direktoren der Ostindischen Kompagnie, Ärzte und üppig gewordenen Reichen, der ununterbrochene Waarentransport und die deshalb so oft aufgezogenen Zugbrücken sperren den Weg und verursachen ein beständiges Rufen und Gerassel; vom frühen Morgen an schreien Männer und Weiber auf allen Straßen[720] mancherlei Sachen zu verkaufen aus; die Kirchthürme haben Glockenspiele, und des Abends wandern Leiermänner und singende Weiber umher.

Im Rathhause, diesem großen, prächtigen, mit architektonischen Zierrathen und Fehlern überhäuften Gebäude, welches gleichwohl einige sehr schöne Säle und Zimmer enthält, sahen wir unter vielen Gemälden eins von Rembrandt, und eins von van Dyk, die als Porträtsammlungen einen hohen Rang behaupten. Es ist auffallend, wie die besten Stücke von Backer, Flinck, van der Helst, Sandraert und andern guten Malern wegfallen, wenn man den van Dyk gesehen hat. Composition ist indeß in keinem; denn es sind lauter an einander gedrängte Bildnisse von bekannten Männern, manchmal vierzig, funfzig und noch mehr auf Einem Gemälde. Die allegorischen Schildereien und Bildsäulen, sowohl im Gerichtssaal als im großen Bürgersaal und in der Bürgermeisterkammer, sind leider! keine Ausnahmen von der allgemeinen Regel, die der modernen Allegorie eben nicht zum Ruhm gereicht.

Den Beschluß unseres heutigen Tagewerkes machte die Holländische Komödie. Man gab Merciers Zoë, ein Drama, (Toneelspel) in gereimte Verse übersetzt. – Wie ich den ganzen Tag auf die physische Bildung und die Gesichtszüge des Volkes aufmerksam gewesen war, so ließ ich mir auch auf diesem Sammelplatz der Amsterdammer Bürgerwelt die Fortsetzung meiner Beobachtungen angelegen seyn. In der That hält es schwer, die charakteristischen Umrisse bestimmt anzugeben, worin das Unterscheidende der Holländischen Nationalgestalt liegt. Der ganze Körper ist gewöhnlich sehr robust, und man wird selten eine Figur von feinen, eleganten Proportionen und zartem Knochenbau gewahr. Das Überfütterte aber, das Schlaffe, Abgespannte, wodurch die Brabanter uns so zuwider wurden, habe ich hier nur als seltene Ausnahme bemerkt; gewöhnlich ist hier alles feste Faser und derbes Fleisch. Der blonde Teint hat die starke Kirschenröthe der blutreichsten Gesundheit, wobei die Haut nur selten so zart zu seyn pflegt, wie unsere Weichlinge sie verlangen und unsere Mädchen, diesem Geschmacke zu gefallen, sie sich wünschen und durch tausend fruchtlose Künste zu schaffen[721] suchen. Das blaue oder graue Auge hat unter den dichten Augenbrauen einen festen, kalten Blick. Lange Nasen und gerade Profile sind nicht ungewöhnlich, und die Mundwinkel laufen selten scharf zu, sondern bleiben gutmüthig breit, womit zuweilen ein Ausdruck von Beschränktheit verbunden ist. Wie verschieden aber auch der Schnitt der Lippen sei, (denn es giebt deren, die allerdings sonderbar geschnitten sind und zumal unter dem Pöbel etwas Keckes, oft auch etwas Hartes verrathen,) so scheint mir doch um den Mund und an dem Halse das allgemeine physiognostische Wahrzeichen, welches die Holländer kenntlich machen kann, am deutlichsten ausgeprägt. Ohne Scherz, ich glaube, daß die Theile, welche die Sprache bilden, wieder von ihr und für sie gebildet werden, und die hiesige ganz eigene vokalenreiche Mundart, mit ihren vielen breiten Doppellauten, ihren Gurgeltönen und ihrem weichen Gezisch, ertheilt der Kehle, der Zunge, den Mundmuskeln, Halsmuskeln und Wangen die eigenthümliche Bewegung, die mit der Zeit auf die Gestalt dieser Theile wirkt. Man hat, wenn ich mich recht erinnere, die Bemerkung schon eher gemacht, daß die republikanische Verfassung den Sitten und zugleich dem Ausdruck der Gesichtszüge etwas Einförmiges giebt; ich finde hier das Phänomen bestätigt, was es auch für eine Bewandniß mit der Ursache haben mag. Indeß herrscht doch in den hiesigen Physiognomien ein bestimmter Charakter, der mit der Erziehung und Lebensweise, mit der Denkungsart und der Ausbildung im engsten Verhältnisse steht. Man sage nicht, weil überall nur eine kleine Anzahl von Begriffen unter den geringeren Volksklassen in Umlauf kommt, daß es gleichviel sei, worin diese bestehen und von welcher Art sie seyn mögen. Die überwiegende Stärke, womit hier gewisse moralische Grundsätze auf die Handlungen des großen Haufens einfließen, die ebenfalls in Gefühl übergegangenen Ideen von Freiheit, die davon unzertrennliche Selbstachtung und die gefürchtete Gerechtigkeit der öffentlichen Meinung oder der allgemeinen Stimme des Publikums, wirken, nebst vielen anderen Ursachen, um diese Menschen auf eine Stufe der Humanität zu heben, welche vielleicht von anderen Völkern mit glänzenderen Eigenschaften nicht immer erreicht wird und über den Standpunkt der faden Racen unendlich[722] erhaben ist, die, gegen den Sporn der Ehre und der Schande unempfindlich, ihre Leere und moralische Nullität nur mit dem Firniß der Nachahmung und eines aberwitzigen Leichtsinnes übertünchen. Es ist wahr, man vermißt hier ziemlich allgemein jene leichte, spielende Flamme des Geistes, die aus dem Sterne der Augen leuchtet, im Aufschlag der Wimper proteusähnlich sich verändert, in den feinen Fältchen der Stirne lauscht und des Mundes gedankenreiche Stille umgaukelt; jenen leisen Lebensathem, der alles durchhaucht, jene Empfindung, die nur empfunden werden kann, jenen Blitz, der in einem Augenblick zehn entfernte Ideen zündet und in die Feuerkette des Gedankens knüpft! Hier ist der Geist in der Masse gebunden und mit ihr verkörpert; roh, schwerfällig und einseitig ist der Volkssinn, aber nicht ohne Originalität und Energie. Das Vertrauen in eigene Kräfte, die selbstzufriedene Behaglichkeit, gewinnt oft das Ansehen von kalter Unempfindlichkeit; die langsame bedächtige Gleichmüthigkeit kann zuweilen in Trägheit und Amphibienzähigkeit ausarten; das entschiedene Wollen geht über in Starrsinn, und die nüchterne Sparsamkeit in Habsucht und Geiz. Solche Karrikaturen dringen sich durch ihre eckigen Züge dem Gedächtniß am leichtesten auf, und darüber vergißt nicht selten der Beobachter die Tugenden anzumerken, aus denen sie entspringen.

Diese unvollkommenen Entwürfe sind von den geringeren und mittleren Volksklassen entlehnt, aus denen im Holländischen Theater der größte Theil der Zuschauer besteht. Was reich ist und vornehm thut, besucht die Französische oder auch die Deutsche Truppe. Eine so unpatriotische Lauigkeit gegen die vaterländische Bühne hat die natürlichen Folgen der Vernachlässigung gehabt und dieses Schauspiel zu einer plumpen Volksbelustigung herab gewürdigt. Die einzige Entschuldigung, die man vorbringen könnte, liegt in dem Dilemma: ob es besser sei, dem Volke auf die Gefahr seiner Sittlichkeit, etwas mehr ästhetisches Gefühl einzuflößen, oder ihm mit seiner Unmanierlichkeit seinen fest ausgesprochenen Charakter zu lassen? Die ungebildete Sinnlichkeit bedarf jederzeit eines kräftigen Stachels, womit sie aufgeregt und gekitzelt werden muß; es gehören in der That nicht nur gesunde,[723] sondern auch dicke Nerven dazu, um das Gebrüll und Geheul der hiesigen Schauspieler zu ertragen und so fürchterlich zu beklatschen. In meinem Leben habe ich nichts Entsetzlicheres als ihre Deklamation gehört. Deklamation war es vom Anfang bis zum Ende des Stückes, ohne einen Moment von wahrem Ausdruck der Empfindung, ohne einen Zug von Natur – und dennoch war augenscheinlich dieses Geplärr ein Kunstwerk, dessen Erlernung den Schauspielern unglaubliche Anstrengung gekostet haben muß, ehe sie ihre brutale Vollkommenheit darin erlangten. In der Sprache liegt wenigstens Eine Veranlassung, wiewohl gewiß keine Rechtfertigung, dieser beleidigenden Art des dramatischen Vortrages; die häufigen, stets wiederkehrenden Vokale und Doppellaute (a, aa, ae, ai, o, au, oo, ou, ow u.s.f.) verursachen eine Monotonie, welcher man nicht anders abzuhelfen wußte, als vermittelst einer Modulation, die in lauter Dissonanzen forthüpft; ein Ohr, das Harmonie gewohnt ist, hat dabei völlig die Empfindung, wie wenn mit der größten Wuth ein Contrebaß unaufhörlich gestimmt wird. Die Mimik entsprach genau die ser Deklamation. Wären die Holländischen Schauspieler so ehrlich, wie die Kamtschadalen, die ohne Hehl die Bären für ihre Tanzmeister erkennen, so würden sie gestehen, daß sie von den Windmühlen gestikuliren gelernt haben. Ihre Arme waren unaufhörlich in der Luft, und die Hände flatterten mit einem krampfhaften Zittern und ausgespreizten Fingern in einer Diagonallinie vor dem Körper vorbei. Die Stellung der Herren ließ mich oft besorgen, daß ein heftiges Bauchgrimmen sie plagte; so bog sich mit eingekniffenem Unterleib der ganze obere Theil des Körpers vorwärts, indeß die Arme senkrecht den Schenkeln parallel, herabhingen. Geriethen sie aber in Affekt, so warfen sie sich auf den ersten besten, der ihnen nahe stand, gleichviel von welchem Geschlecht; und hatten sie etwas zu bitten, so wälzten sie sich im Staube, umfaßten – nicht die Kniee – sondern die Waden und Knöchel und berührten fast mit der Stirne die Erde. Die Heldin des Stückes stieg auch wieder einmal eben so mit dem Kopf und den Händen, in bestimmten tempi, an den Beinen und Schenkeln ihres Vaters hinan, bis bald in seine Umarmung; unglücklicher Weise konnten sie damals noch nicht einig werden, und er[724] stieß sie endlich mit beiden Händen zur Erde, daß sie wie ein Sack liegen blieb. Diese Schauspielerin besaß gleichwohl noch die meiste Kunst und, wenn ich das Wort nicht entweihe, sogar einigen Sinn für die Kunst; allein sie blieb doch mit den andern auf Einen Ton gestimmt. Sie hatte eine hübsche Figur und wußte sie vortheilhaft zu zeigen; ihre Stimme, wie ich fast durchgehends an den Holländerinnen bemerke, war ein tiefer Tenor. Die Mannspersonen hatten, nach Holländischer Sitte, den Hut beständig auf dem Kopf, welches jedoch im Parterre weit unerträglicher als auf der Bühne war. Von der Feinheit des Betragens im Parterre ließe sich ein artiger Nachtrag zum Grobianus schreiben; ein unaufhörliches Plaudern war das geringste, worüber ein Fremder hier in Erstaunen gerathen konnte. Die unbequeme Einrichtung der Sitze veranlaßt manchen Auftritt, der anderwärts genau wie eine Indecenz aussehen würde; denn an Gefälligkeit und Achtung, die ohne persönliche Rücksicht ihrem Geschlecht erzeigt werden müßte, dürfen die hiesigen Frauenzimmer nicht denken.

Ich habe über diese Erinnerungen an die mannigfaltigen Auftritte, die wir heute mit angesehen, nicht daran gedacht, Dir zu erzählen, wie wir hergekommen sind; Du wirst es nicht mehr so wunderbar finden, daß ich hier schon in die dritte Stunde schreibe, wenn Du erfährst, daß wir die vorige Nacht ganz ruhig geschlafen haben, während der Genius dieses wasserreichen Landes, in Gestalt eines wackern Schiffers, uns sanft vom Haag nach Harlem führte. Der Graf B. von R. hatte uns die prächtige Jacht verschafft, die den Bürgermeistern vom Haag gehört. Wir fanden beim Einsteigen zwei saubere Betten, mit allem versehen, was die verwöhntesten Sinne von Eleganz und Bequemlichkeit verlangen können. Kaum hatten wir uns ausgekleidet, (es war gleich nach Mitternacht) so ertönte überall in den Gebüschen längs dem Kanal das Lied der Nachtigallen, und sang uns in den Schlaf. Am folgenden Morgen erwachten wir eben, indem die Barke bei Hartekamp vorbeifuhr, jenem Garten des reichen Clifford, wo der große Linné sich so manche botanische Kenntnisse erwarb. Es kostete einen Wink, so ließ unser Palinurus die Betten verschwinden. Wir blickten auf die umliegende[725] Gegend durch zehn Fenster, deren jedes in einer überaus großen Scheibe, von prächtigem geschliffenem Spiegelglase bestand, und fast schien sie uns dadurch einen besondern Grad von Anmuth zu erhalten. Der Morgen hatte Thränen im Auge; doch kamen auch Sonnenblicke und beleuchteten die Wiesen und Triften, die Dünen, die Meierhöfe und die Lustgärten, zwischen denen wir mit unmerklicher Bewegung hinschlüpften. An den Ufern bald auf dieser, bald auf jener Seite lagen ruhig wiederkäuend die schönen Niederländischen Kühe. Schon zeigten sich die Thürme von Harlem, als der Capitain auf einem zierlichen Bord von Mahagoni das silberne Theegeschirr der Herren Bürgermeister hereinbrachte; nie hat man wollüstiger auf weich gepolsterten Sitzen im Angesicht einer lachenden Landschaft gefrühstückt. Vor den Thoren von Harlem stand, unsrer harrend, ein schönes Kabriolet, mit ein Paar unvergleichlichen Harttrabern bespannt; denn B – wollte nichts zur Hälfte gethan haben. Wir verließen also unsern lieblichen Käfig und fuhren oder flogen zwei Stunden lang auf einem vortreflichen Wege. Von Zeit zu Zeit sahen wir Leute mit Schaufeln stehen, womit sie die fast unmerklichen Fahrgeleise zuwarfen; andere schöpften Wasser aus dem Kanal und bespritzten den Weg, damit der wenige Staub sich legte. So eilten wir längs dem Harlemer Meer bis an den Punkt, wo nichts als der Straßendamm es von dem größeren Y scheidet. Auf dieser Stelle hat die Aussicht eine erhabene Größe; beide Gewässer sind von so weitem Umfange, daß man ihre entfernten Gränzen am Horizont nicht erkennen kann; man glaubt auf einem kleinen Eiland im unermeßlichen Meere zu stehen. Indeß näherten wir uns dem geschäftigen, volk- und geldreichen Amsterdam; eine Menge Windmühlen zeichneten uns am Horizont seinen Umfang vor; in einer katholischen Stadt von dieser Größe hätten hundert Kirchen mit ihren stolzen Thürmen den Anblick aus der Ferne verschönert. – Aus der Ferne! –[726]

12

Dieses ganze Gebäude mit allen seinen Vorräthen brannte im Jahr 1791 ab, wodurch dem Staat ein Verlust von etlichen Millionen verursacht worden ist.

13

Die Einwohner der Insel Kattenburg, worauf die Admiralitätswerfte liegen, sind mehrentheils Arbeiter in denselben.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 716-727.
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