Erstes Kapitel

Die große metallene Wanduhr schlug unter langen schnarrenden Absätzen zehn. Die junge Blansche sprang unruhig auf, schob den schweren, verblichenen Sammetsessel an die Seite und trat zu ihrer Mutter. Diese schrieb unter häufigen Thränen in schnellen, flüchtigen Zügen eilig fort, und ohne aufzusehen, fuhr sie schmeichelnd mit der flachen Hand über das zarte Gesichtchen der Tochter. Doch plötzlich von den eignen, niedergeschriebenen Worten überwältigt, warf sie sich an ihres Kindes Brust, und rief unter lautem, ungehemmten Schluchzen: Gott, mein Gott, die Freude ist gewaltiger als der Schmerz! wie soll ich es denn ertragen, meinen[1] rechtmäßigen König, die Tochter meiner unglücklichen Königin wiederzusehen! Blansche, liebes, liebes Kind, die Vorsehung schenkt uns die Bourbons wieder! Träume ich auch wirklich nicht? ist es denn wahr?

Frau von Saint Alban hatte die Hände gefalten, und sah, gleichsam über das Unbegreifliche nachsinnend, in unaussprechlichem Entzücken gen Himmel. Blansche kniete vor ihr, und von den Thränen der Mutter aufs tiefste erschüttert, weinte sie still in ihr Tuch.

Beide hielten sich eine Zeit lang fest umschlungen, dem Glück der nächsten Gegenwart voll Theilnahme und Vertrauen hingegeben, als der alte Kammerdiener eintrat und sein Erscheinen ihnen sagte, daß der unruhig erwartete Augenblick nun gekommen sei. Frau von Saint Alban sah gerührt auf den treuen Armand. Er war fein und sorgfältig gepudert, trug einen langen Rock von violetter Seide mit veralteter Stickerei, Points Manschetten und geränderte Schnallen, sein scharfes, hageres Gesicht war ernst, doch strebte er vergeblich durch feierliche Haltung und gemessene Worte die große Bewegung[2] seiner Seele zu verbergen. Just so gekleidet, so gerührt und so förmlich war er vor sechs und zwanzig Jahren als Frau von Saint Alban dies Haus zuerst betrat, dessen schlechtere Zimmer sie zeither bescheidentlich bewohnte. Armand, sagte sie, ihm die Hand reichend, wir könnten denken, wir hätten geschlafen und wachten jetzt erst wieder auf, aber die Zeit hat entsetzlich gearbeitet, ihre Spuren schneiden schringend in die Sinne. Sie blickte fast beschämt auf die knappe, mühsam ergänzte Kleidung, auf das beschädigte, gebrechliche Geräth, die abgesprungene Vergoldung, und den langen, eingelegten Spiegel, der ihr das Bild der schönen Blansche so blühend und so schmucklos zurückwarf. Sich abwendend sprang sie hastig auf, wie man wohl thut, wenn eine störende Empfindung unbequem in unsere Freude hineinsieht, faltete darauf das beschriebene Blatt zusammen, siegelte und addressirte unter angenehmem Lächeln, wog dann den Brief hoffnungsvoll zwischen Daum und Zeigefinger und eilte mit kurzen, schnellen Schritten in ein Seitenzimmer.[3]

Blansche sah ihr bewegt nach. Sie wußte an wen der Brief gerichtet war, und daß er den ersten, freien, innigen Gruß der Mutter an die Herzogin von Angouleme enthielte, den mündlich auszusprechen ihr die Beschränkung ihrer Lage für den Augenblick noch verbot. Zum erstenmal lastete der Druck enger Verhältnisse peinlich auf dem kleinen Herzen, es regte sich ein wehmüthiger Streit, das Außenleben war weniger hell, sie sah mit einiger Beschämung auf sich selbst zurück, als Frau von Saint Alban mit einem Lilienzweig vor sie hintrat. Diese schwieg eine kleine Weile, ihr stockten die Worte in der Brust, sie verschluckte die Thränen, und sagte dann mit einer lieblichen, ihr eignen Neigung des Kopfes: mein armes Kind, das ist der einzige Schmuck, den ich dir geben kann, denk' aber, das befreiete Frankreich habe ihn dir geschenkt, und trage ihn so mit Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Blansche war vor ihr hingesunken und fühlte mit Stolz die Lilie zwischen ihren blonden Locken befestigen. Frau von Saint Alban hing darauf einen Schleier über, legte ein schwarzes[4] Sammetmäntelchen an, und die etwas vergelbten weißen Handschuh sorgfältig anziehend, gab sie der Tochter die Hand. Armand öffnete beide Flügelthüren, und eilte dann in schicklicher Entfernung voraus an den Schlag eines bescheidenen Miethswagens. Den einen Fuß auf dem Tritt, wandte sich Frau von Saint Alban noch einmal, Gott! sagte sie, Freude wie Schmerz pressen die Brust ängstlich zusammen, und jeder Entscheidung, der glücklichen wie der unglücklichen, geht eine erstickende Beklommenheit voran.

Als nun der Schlag zufiel und der Kutscher sich fragend umwandte, sagte sie: nach der Kathedrale! ich will meinen König betend vor Gottes Thron begrüßen.

Quelle:
Caroline de la Motte Fouqué: Der Spanier und der Freiwillige in Paris. Berlin 1814, S. 1-5.
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