Sechzehntes Kapitel

[218] Der Marquis ward gleich bei seinem Eintritt in Frankreich auf eigene Weise überrascht. Was er auch bis dahin von der neuen Verfassung gehört, was er selbst darüber gelesen hatte, er fand kein eigentliches Bild dafür in seiner Phantasie. An die Vorstellung des Gesetzlichen, der wiederbegründeten Ordnung, reihete sich unwillkührlich die Erinnerung des ehemals Bestandenen. Es blieb ihm stets das Alte, er mochte es zurecht legen und stellen wie er wollte.

In dieser dunklen, wenn auch nicht ausgesprochenen, Erwartung, betrat er jetzt französischen Boden. Sitte und Nothwendigkeit hatten nach grade genauere Schranken gezogen. Eine jede Thätigkeit fand ihre eigene Sphäre. Betriebsamkeit und tüchtiges Wesen suchten überall wieder zu schaffen, zu erneuern. War indeß das Leben in seinen Grundbestimmungen, auf die Weise, hier[218] wie überall, dasselbe geblieben, so war die Form desselben dennoch so ganz anders geworden, daß er sich nicht darin zu finden wußte, und grade durch die gesetzliche Feststellung des Neuen am meisten erschreckt ward. So lange noch alles in der allgemeinen Crisis begriffen, und ein jeder mir in die Gährung hineingezogen war, konnte das zerrissene Gefühl nicht zum eigentlichen Bewußtsein gelangen, doch jetzt, wo sich der Tumult arbeitender Kräfte gelegt, und wirklich etwas gestaltet hatte, prallte das Auge scheu vor dem Fremden, Ungewohnten, zurück. Der Marquis empfand den Stoß in der Fortentwickelung der Zeit, allein er konnte sich nicht besinnen, auf welchem Punkte er selbst stehe!

Um nichts besser ging es ihm beim Wiederfinden seines alten Besitzthumes, in welchem man kaum noch die Spur menschlichen Wohnsitzes erkannte. Das mächtige Schloß war völlig in sich zusammengestürzt, und die gewaltigen Massen übereinanderliegender Steine schienen Frieden mit der Gegenwart geschlossen zu haben, die wohl nicht mehr an ihnen rühren mochte. Eine grüne Moosdecke hatte sich schon über das dunkle Gemäuer ausgelegt, von der Terrasse herauf wanden sich Wein- und Epheuranken an einzelne Pfeilerstümpfe hinan, die Bäume, welche es von der[219] Wallseite schützten, waren abgehauen, nichts von allem war sich gleich geblieben, als die prachtvolle Rhone, die, wie die Natur, an der verwüstenden Zeit, in stiller Nothwendigkeit vorüberging.

Nirgend mochte menschlicher Sinn hier an an heimathliches Ansiedeln, an friedlichen Lebensverkehr denken. Das Einzige, was sich noch in bewohnlichen Stand setzen ließ, war ein ehmals moderner Garten-Pavillon, dessen Außenwände ziemlich unverfehrt geblieben, und von dem nur die Bedachung und das Innere der Gemächer zerstört waren. Alle umfassende Pläne des Marquis, alle seine Hoffnungen und Wünsche schrumpften demnach, bei genauerer Besichtigung des Vorgefundenen, auf die Wiederherstellung dieses einen, armen Restes ehemaliger Herrlichkeit, zusammen!

Zwar konnte er nicht sogleich einen Plan aufgeben, in welchem er seit langer Zeit lebte. Er hatte immer gehofft, das Alte wieder zu erneuern, und sich in mitten des königlichen Gebäudes gleichsam als Zauberer betrachtet, welcher die Bande zwischen Vor- und Mitwelt versöhnend zusammenhalte. Jetzt lag der tiefe Grund freilich verschüttet, aber er hoffte, die Zeit, die so Großes verschuldet, werde auch nach und nach seinen Wünschen begütigend entgegen kommen.

Kaum hatte er sich indeß an die neue Arbeit[220] gewagt, Pläne entworfen, Arbeiter angestellt, und selbst sein aufmerksames Auge darauf gerichtet, als er an dem Fortgange des Ganzen das lebhafteste Interesse nahm. Er hatte nie etwas Aeußeres erschaffen, ihm ward die Ringmauer des neuen Gehöftes eine Art magischer Kreis, in welchem er mit unglaublicher Schnelligkeit wirkte! Es war noch so vieles zu thun, so vieles aus der widrigen Verwilderung herauszureißen! Und zu dem behaglichen Gefühl, auf dem Boden seiner Väter zu schalten und walten, gesellte sich bald die zuversichtliche Hoffnung, welche Mariens Briefe ihm nunmehr mittheilten, da deren Zustand nicht länger zu verbergen war, und sie, ihrer Entbindung nahe, eine große Sehnsucht nach dem Ort ihrer Bestimmung hegte.

Die Familie hatte einen Theil des kurzen Winters in Besançon verlebt, und traf nun zu Anfang des Märzes bei dem Marquis ein, den sie in ganz fremder Umgebung fanden. Vom alten Schloß sah man hier nichts. Das erneuete Gebäude lag zwischen heitern Pflanzungen, welche, noch ziemlich jung, der Raubsucht zu geringer Ausbeute dienend, unangetastet geblieben waren, und jetzt einen leicht gewundenen Pfad beschatteten, der sich an dem flacher werdenden Ufern des Stromes hinwand. Der Süden schickt seine Frühlingsblüthen[221] früh. Das Gras duftete hier schon von tausend würzigen Kräutern, die Bäume sahen nach und nach aus ihren Blüthenaugen hervor, alles schien sich zu Empfang und Freude zu schmücken. Der Köhler, welcher überall rüstig Hand anlegte, und sich, als alter Waldbewohner, auf Bäume und Pflanzungen verstand, hatte manches zu Verschönung der neuen Anlagen beigetragen. Man mußte sich in der kleinen Schöpfung behaglich, recht häuslich wohl fühlen.

Die Baronin war wie im Himmel. Sie hörte, sah und empfand in allem ihr Frankreich wieder. Sie störte weder das Neue, noch vermißte sie das Alte! Alles war, wie es sein mußte, sein konnte, sie hatte nichts daran auszusetzen. Sie mochte alle Menschen glücklich denken! Marie trug sie auf den Händen. Um alles hätte sie Adalbert herzaubern, ihr ihn wiedergeben, Antonien beruhigen, schadlos halten mögen! Sie hoffte deshalb manches in dem zärtlichen Ungestüm ihres Herzens, was sie sich selbst nicht anzugeben wußte, da auch wirklich kein eigentlicher Ausweg zu finden, kein Trost bei dem gänzlichen Mangel an Nachricht über Adalbert zu ertheilen war. Marie behielt indeß Muth, und die stille Ergebung, welche es ihr allein möglich machte, Antoniens zerreißenden Schmerz zu ertragen, der diese[222] befiel, so oft sie Marien ansichtig ward. Die arme Marie zog sich dann bescheiden und sanft zurück, und weinte oft im Stillen über den unbegreiflichen Widerspruch der Natur, welcher der Einen das zur Pein werden lasse, was das einzige und höchste Glück der Andern sei. Sie fragte auch wohl ihre Freunde, wie sich die immer wachsende Verwirrung lösen, wie alles enden solle, und diese wußten sie dann freilich einzig auf Gott zurückzuführen, der einmal alles so zugelassen habe, und es nach seinem Willen fügen werde.

Der Marquis aber war weder so gelassen, noch in dem Unvermeidlichen gefaßt. Ihn verließ zu Anfang der alte Glaube, als sei er zur Wiederauffindung der magischen Kräfte seines Stammes ausersehen, auch keinesweges. Nur hatte er, wie immer, durch seine Zeit getrieben, einen neuen Weg einschlagen, und indem er sich in die Außenwelt wagte, rührte diese auf eigene Weise an sein Inneres. Er ward unruhig über das Vergangene, es irrte und störte ihn, besonders der Anblick des alten Schlosses, das er auch mit einer Art von Scheu vermied. Er wandte sich nun mit großer Heftigkeit in die Zukunft, und strebte ängstlich, das langsame Wenden des Zeitmomentes zu überfliegen. Alles sollte schon da, alles zum Empfang des Kindes, das aus seinem Blute ausgegangen war,[223] bereit, und er im Stande sein, dieses in seinen Geheimnissen auferziehend, zur Blüthe einer neuen Weltherrlichkeit zu bilden. Doch erschreckte ihn unter solchen Vorstellungen oft plötzlich Antoniens gespenstisches Erscheinen. Sie schlich wie ein Spuk an dem Schloßgemäuer hin, und sah verwirrend aus dem alten Leben herauf. Dem Marquis war zuweilen, als sei mit ihrer Geburt der Natur Gewalt angethan, und das längst Verschollene freventlich ans Licht gerissen worden. Er gedachte dabei der Stunde ihrer Geburt, des damaligen Aufruhrs seiner Sinne, der Marquise, ihrer Leiden; Mariens herannahende Niederkunft mischte sich beengend unter diese Bilder, er fühlte sich plötzlich in Erinnerung und Erwarten zerrissen, in keinem Zeitpunkt seines Lebens behaglich froh. Die verarbeiteten Kräfte erschöpften sich endlich in dem steten Kampfe; er verfiel in eine Abspannung, welche, von einem abzehrenden Fieber begleitet, Alle, und besonders den Arzt, für sein Leben bange machte.

Um diese Zeit ward Marie sehr leicht und glücklich von einem Knaben entbunden. Am nemlichen Tage erhielt der Herzog die bestimmte Nachricht, daß Adalbert bei der Armee in Savoyen fechte, und ihnen folglich nahe sei. Doch wollte er, im Augenblick des eben eröffneten Feldzuges,[224] sein Gemüth nicht durch eine Nachricht erschüttern, von der es nicht wohl voraus zu sehen war, wie sie ihn treffen werde. Er begnügte sich daher, ihm zu schreiben, daß sie alle nach Frankreich zurückgekehrt seien, und er selbst vor der Hand noch auf den Gütern des Marquis bei diesem lebe. Zugleich bat er ihn dringend, sobald als möglich etwas Näheres von sich hören zu lassen, und sowohl ihm, als seiner Familie, über seine gegenwärtige Lage Auskunft zu geben.

Antonie gerieth durch die Nähe des Geliebten, wie durch des Kindes Geburt, in den allerentsetzlichsten Zustand. Ihr Abscheu gegen die neue Wohnung trieb sie jetzt noch rastloser im Freien umher. Stundenlang lag sie wimmernd auf dem alten Gestein, und breitete ihre Arme über die Rhone hinaus, dem armen Vertriebenen entgegen. Wie ausgestoßen von aller Welt brachen sich ihre Klagen an den zusammengestürzten Mauern. Der Strom rauschte ernst dazwischen, und schien ihr aus der Tiefe Antwort zu bringen. Oft lockte sie sein wogendes Bett, doch fühlte sie sich starr und wie eisern in den Gliedern, sobald sie sich dem Wasser zu sehr nahete. Sie hatte ähnliche Wirkungen schon früher, Zeitenweise, verspürt, es ging ihr fast auf ähnliche Weise damit, wie mit dem Berühren der Metalle, vorzüglich[225] bei hellem Sonnenschein. Doch wie auch der Fluß selbst aus der Ferne auf sie wirkte, sie konnte von ihrem Lieblingssitz auf der hohen Terasse nicht lassen, ob sie es gleich zum öftern durch verstärkten Herzkrämpfe und die peinlichste Angst büßen mußte. Hier war sie allein, hier trat ihr Adalbert nahe, hier war er ihr eigen, daheim war alles ungestaltet, das Leben, ihr Herz, zerrissen! Vielleicht stockte das arme Herz einmal auf immer in dieser seligen Abgeschiedenheit![226]

Quelle:
Caroline de la Motte Fouqué: Die Magie der Natur. Berlin 1812, S. 218-227.
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