Die Tante an Elise

[306] Es geht etwas vor, liebe Seele! Ich weiß nicht was? auch nicht wo? Aber es wird so unruhig um mich; und wenn ich erst die Leute viel hin und herreisen sehe, und sie nirgend bleiben, nirgend ausruhen können, dann habe ich schon genug.

Ich bin von Natur ängstlich, das ist wahr, sehr ängstlich, ich kann mich deshalb auch wohl irren, und darum will ich nicht mit Bestimmtheit sagen, was ich fürchte. Doch fürchte ich, daß es auch Dich mit betrifft.[306]

Sieh' mal, den Curd kennst Du. Er ist wild und störrisch. Wenn auch die feine Welt ihn erst glatt geschliffen und ihm dann ein modisches Wesen angewöhnt hat, so steckt doch der alte Kern in der neuen Schale, und der Kern ist fest, ja herbe, aber wenn man auf die rechte Stelle kommt, da wird er süß, ich versichere Dich, recht lieblich. Das ist unsers Landes Art so. Der Vater war auch von dem Schlage, und viele aus der Familie. Nun siehst Du, um wieder auf meine Muthmaßungen zu kommen. Ich weiß, daß Curd nicht vergessen kann, nicht im Guten, nicht im Schlimmen. Vor ein Paar Tagen kommt er hier her. Mein Gott! wie finster sah er aus! Die Falte zwischen der Stirn ward schwarz, wenn er in Gedanken vor sich hin sah. Ich kenne das an allen Männern seines Stammes, so wie sie über irgend ein Vorhaben brüten.

»Curd!« warnte ich ihn. Er wußte gleich, was ich sagen wollte. »Sein Sie unbesorgt, liebe Mutter!« lächelte er. Ich war aber nicht ohne Sorge, konnte es auch nicht sein, ob er sich gleich zusammen nahm, und that, als sei er Geschäfte halber hierher gekommen, die die Wirthschaft angingen. Das Ding sah aber anders aus. Der Gerichtshalter mußte noch spät des andern Abends[307] kommen, nachdem mein Sohn den ganzen Tag in seinem Zimmer geschrieben hatte.

Er machte sein Testament. Ich merkte es recht gut, und wußte auch weshalb? Ich ließ aber alles gehen, wie es wollte. Ich mochte mich in nichts mischen. Den folgenden Morgen war er weggefahren, ehe ich erwachte. Zu seinem gewesenen Vormunde, dem alten Deichhauptmann, ließ er mir sagen. Der Förster und der junge Amtsschreiber waren mit ihm in den Wagen gestiegen.

Es konnte ja sein, daß er zum Deichhauptmann fuhr. Ich hätte auch nicht daran gezweifelt, wäre so mancherlei nicht vorhergegangen. Nun stutzte ich doch, und schwankte in mir.

Die ersten vier und zwanzig Stunden, die brachte ich leidlich genug hin. Als aber der zweite Abend kam, es acht, neun, zehn Uhr schlug, und die Leute nach unserer stillen Weise im Hause schlafen gingen, wußte ich vor Angst meines Bleibens nicht. Ans Bett konnte ich nicht denken. Ich ging aus einer Stube in die andere. Es war kühles Wetter. Ich saß endlich in meinem kleinen Eckkämmerchen vor dem Kamin, der treue Waldmann neben mir auf dem Stuhl und die alte, knurrende Mise auf meinem Schooß. Katzen und[308] Hunde, dachte ich bei mir, lernen sich vertragen, und wärmen sich an einem Feuer, und das Herz muß mir wegen zwei vernünftigen Menschen zum Zerspringen schlagen.

Du weißt wohl, wenn Einem so recht angst und wehe in der Seele ist, dann hört man in allen Ecken etwas gehen und sprechen. Mir kam es so vor, als wäre der ganze Hof voll Leute. Ich lief wohl zehnmal ans Fenster. Es rührte und regte sich nichts draußen.

Wieder nicht! seufzte ich. Denn heute hatte ich meinen Sohn bestimmt zurück erwartet.

Ich wurde nun auch müde. Nun so will ich nur immer auch schlafen gehen, nahm ich mir vor. Die silberne Wachsstockscheere hielt ich schon in der Hand, da winselte Waldmann, wie er wohl Nachts zu thun pflegt, ehe er bellt. Mir ward mit einemmale wieder bange. Ich setzte den Wachsstock auf den Tisch, ohne ihn anzustecken. Vor dem Hause regte sich etwas. Waldmann sprang jetzt vom Stuhl und schnupperte umher. Ich rief ihm zu, da schlug er laut und heulend an. Es fuhr mir durch alle Glieder. Im Hof sprachen Mehrere leise. »Es ist ja noch Licht drinnen,« hörte ich Curd ganz deutlich sagen. Gottlob! da ist er! rief ich, und im selben Augenblick kratzte der ungeduldige[309] Hund auch, wie außer sich, an die Thür, und kam dann zu mir gelaufen, blaffte und sprang wieder zurück; kurz, zeigte, daß er den Herrn wittre.

Mein Sohn öffnete während dem die Thür, Er kam mir so todtenblaß vor, daß ich ihn nicht gleich erkannte. »Liebe Mutter,« sagte er, und sah aus, als wenn er spaßhaft sein wollte, aber seine Stimme war heiser und zitterte auch. »Liebe Mutter, ich habe mich ganz verrechnet! Ich dachte nicht daran, daß hier die Leute wieder aufstehen, wenn unsereins in der Stadt zu Bette geht. In meiner neuen Wirthschaft bin ich's so gewohnt, und da Sie sich wohl vorstellen können, daß ein junger Ehemann immer mit seinen Gedanken da ist, wo er sein möchte, so werden Sie's schon verzeihen müssen, daß ich mir einbildete, zu Hause anzukommen, indeß ich nun hier doch erst ausschlafen muß.«

»Hm!« entgegnete ich, und that, als wenn ich ihm glaubte; aber ich konnte es doch nicht lassen, ihm fest ins Auge zu sehen. Er wurde roth! »Komm nur, komm!« fuhr ich fort, »Du wirst doch noch zu Nacht essen wollen, es ist ja erst halb Eins, das ist die rechte Stunde für Euch Weltkinder?«[310]

»Bewahre der Himmel!« rief er so recht widerwillig. »Ich wäre nicht im Stande, einen Bissen hinunter zu bringen.«

Mich überlief es ganz eisig. Mein Gott! woher kommt ihm denn der Ekel vor Speise und Trank? dachte ich im Stillen. Ihm fehlte, soviel ich sah, körperlich nichts. Was widerstand ihm denn so bei dem Anerbieten?

Ich hatte oft gehört, daß, wenn ein Mensch von der Hand eines Andern gefallen wäre, dieser nach der unglücklichen That lange nichts genießen könne, was ihn an Fleisch und Blut erinnere.

Das fiel mir jetzt wie Blei auf die Brust. Ich blieb in meinem Stuhle sitzen. Ich konnte die Füße nicht heben. Ich zitterte an allen Gliedern.

Mein Sohn merkte nicht sehr darauf. Er war ganz verstört. Nach einer Weile sagte er dann aber doch: »Sie sehen recht angegriffen aus, liebe Mutter! Gehen Sie doch ja noch ein Paar Stunden schlafen. Ich will mich auch niederlegen.« »Wenn Du nur wirst schlafen können!« entgegnete ich, und sah ihn scharf an. Er küßte mir die Hand. »Ich denke doch,« meinte er. Er war schon an der Thür, als er noch einmal umkehrte, und, mit den Fingern leicht gegen die Stirn fahrend, als strafe er sich wegen einer[311] Vergessenheit, ausrief: »Habe ich doch gar nicht daran gedacht, Sie um ein Nachtlager für meinen Reisegefährten zu bitten, der so todtmüde, wie er von der heutigen Jagd zurück kommt, nicht daran denken konnte, sich Ihnen vorzustellen. Darf ich?« fuhr er fort, die Thür in der Hand, rasch und ohne mir Zeit zu lassen, nach Namen und Stand zu fragen, »darf ich draußen das Nöthige besorgen?« Und fort war er.

Ein Verwundeter, sagte ich leise zu mir. Deshalb kamen sie in Nacht und Dunkelheit, deshalb mußte der Wagen im Dorfe halten. Gewiß wurde der arme Mensch ganz still ins Haus und hinten nach Curds Zimmer getragen! Nun, der Himmel beschütze ihn! seufzte ich aus aufrichtigem Herzen. Ach Elischen! ich war so froh, daß es nur den Curd nicht getroffen hatte!

Wie aber die Freude darüber sich etwas mäßigte, dachte ich doch auch an die Folgen. Wenn nun der Unglückliche hier stürbe? Mein lieber Gott! das wäre doch auch schrecklich, mußte ich mir gestehen. Und dann, siehst Du Kind, ich hatte nur einen einzigen Menschen in den Gedanken, mit dem mein Sohn Händel gehabt haben konnte. Und wenn der – ich weiß nicht, wie mir's möglich gewesen ist, nicht gleich auf der[312] Stelle im Hause Erkundigungen nach dem Fremden einzuziehen? aber ich glaube, ich war zu schüchtern dazu. Ich fürchtete wohl, die Wahrheit zu erfahren. Und dann wollte ich auch nicht Lärm machen, und die gemeinen Leute früher auf die rechte Spur bringen.

Ich blieb also ganz still in meinem Armstuhle sitzen, gab keine Befehle, und machte keine Anordnungen, sondern überließ es Curd, was er bestellen werde. Du kannst daraus sehen, liebe Elise, in welchem unnatürlichen Zustande ich in dieser Nacht war, so mein ganzes Hauswesen aus der Acht zu lassen, und die Ehre einer guten, sorgsamen Wirthin. Kurz, ich schlich still zu Bette, um nur nichts mehr zu hören und zu erfahren. Kaum liege ich aber ein halbes Stündchen darin, so bläst ein Postillon im Dorfe. Ich richte mich in die Höhe. Es schmettert immer fort, aber kein Wagen folgt. Der Ton kommt näher und näher. Ein Pferd trabt in den Hof. Gott! eine Stafette, schrie ich auf. Sie schicken schon nach Curd. Das Duell ist ruchtbar geworden, er wird festgesetzt werden, man wird ihm ans Leben gehen!

Ich zog mit Gewalt an der Klingel, aber ehe noch Jemand kommen konnte, war ich am[313] Fenster, riß es auf, und rief hinunter in den Hof: »Wer bläst denn da?« »Eine Stafette,« war die Antwort. »Woher?« brachte ich zitternd heraus. Wie ward mir nun, als ich hörte: »Auf Allerhöchsten Befehl aus der Residenz,« das kann ich keinem Menschen sagen. Ich war in einen Stuhl gesunken, als Caspar, der Jäger, mit einem Brief in der Hand, hereintrat.

»Gebe Er her! gebe Er her!« befahl ich ihm. »Um Verzeihung,« sagte er, mir die Addresse hinhaltend. »Das Schreiben ist an Jemand, den ich nicht kenne, und der sich, so viel ich weiß, auch hier nicht aufhält.«

Ich wagte, einen Blick darauf zu werfen. Es war eine kleine, kritzliche Frauenhand, und die Aufschrift ... dem fürstlichen Jägermeister, Herrn Curd von ... Ich athmete auf. »Wecke Er meinen Sohn, Caspar!« sagte ich, »der Brief ist von seiner Frau, ich erkenne es jetzt an dem doppelten Wappen.«

Es war auch so. Mein Sohn erwartete schon früher eine Versetzung aus dem Militair ins Forstdepartement. Der Fall war nun eingetreten. Die Gräfin und ihre Tochter fanden es nöthig, ihn eilig davon zu benachrichtigen; um das schneller zu bewerkstelligen, hatten sie auf den[314] Brief geschrieben: auf Allerhöchsten Befehl. Das klärte sich nun wohl über Erwarten gut auf. Allein das Andere lag mir immer schwer genug auf der Seele. Ich konnte mich deshalb auch nicht über die Vortheile in Curds neuer Lage freuen. Er nahm es nicht viel anders. Seine Miene blieb ernst, sein Wesen zerstreut. Wir redeten wenig darüber. Es schien ihm sogar verdrießlich, daß er seine Abreise so übereilen müsse. Da er nun auch gleich darauf das Anspannen befahl, fragte ich ihn, ob sein Reisegefährte ihn begleiten würde?

»Der, liebe Mutter!« entgegnete Curd, »hat sich eben nur so lange hier aufgehalten, um den Amtmann zu vermögen, daß er ihm rasche Pferde und Wagen gab, und wieder zurückfahren lasse, woher wir kamen. Er war schon fort, als ich von Ihnen in mein Zimmer ging.«

»Also nicht tödtlich verwundet?« seufzte ich. »Vielleicht gar nicht einmal ein Duell?«

»Ein Duell?« fragte mein Sohn, sich schnell nach mir umwendend, »wie kommen Sie darauf?« Ich theilte ihm alle meine Besorgnisse mit. Er hörte mir sehr aufmerksam zu. »Nein!« sagte er, »auf meine Ehre, ich komme von keinem Zweikampf. Darüber können Sie in dieser[315] Angelegenheit überhaupt ganz außer Sorge sein.«

»Gewiß?« fragte ich, denn mir schien, als halte er mit irgend etwas zurück. Sein ganzes Wesen war anders, wie sonst; bestürzt und traurig zugleich hätte ich es nennen mögen.

»Gewiß!« versicherte er, auf eben die verschlossene Weise.

»Nun!« sagte ich, »dann kann mir schon alles Andere recht sein. Allein wissen möchte ich doch, wer der Fremde war, der in meinem Hause Obdach suchte, ohne mir auch nur dem Namen nach bekannt zu sein.«

Curd ward verlegen. Er nahm mich bei der Hand, und suchte mich auf andere Gedanken zu bringen. Da ich aber empfindlich ward, entdeckte er mir, daß es Hugo gewesen sei. Ich ward blaß vor Schrecken, glaube ich, that indeß, als sei es vor Aerger, und äußerte meine Verwunderung, daß der Graf es vermeide, der nächsten Verwandtin seiner Braut bekannt zu werden.

»Ach!« rief Curd ein wenig ärgerlich, »denken Sie doch an dergleichen Rücksichten jetzt nicht, liebe Mutter! Sie können sich wohl vorstellen, daß etwas Außerordentliches vorgefallen sein müsse, was uns Beide in so gutem Vernehmen[316] zusammen hierher führte. Ich habe kein Recht, Ihnen mehr zu sagen. Es ist in keiner Art mein Geheimniß, und nur, um Sie wegen ferneren Besorgnissen, in Betreff meiner und des Grafen, zu beruhigen, entdeckte ich Ihnen, daß dieser hier war, was denn übrigens alle Welt wissen mag.«

Damit, liebes Kind! mußte ich nun zufrieden sein. Curd reiste kurz darauf ab, und mir blieb der Stachel wegen des undurchdringlichen Geheimnisses in der Brust stecken.

Etwas Außerordentliches, sagte er, müsse vorgefallen sein, was sie Beide in gutem Vernehmen zusammen führte. Das könne ich einsehen. Freilich läßt sich das einsehen. Aber was ist dies Außerordentliche? Erst glaubte ich, Du wärest gestorben, Herzenskind! und Curd wolle mir dies nur nicht so plötzlich, ohne alle Vorbereitung sagen. Aber er betheuerte, das sei es nicht. Nun, sei es, was es wolle, etwas Gutes ist es nicht, darnach sah Curd nicht aus.

Es quält mich über alle Beschreibung. Ich will mir den jungen Amtsschreiber kommen lassen. Er soll mir wenigstens erzählen, was er gesehen und gehört hat. Das wird dem doch hoffentlich kein Geheimniß sein.

Begreife es, wer es kann! Du sollst Alles[317] wissen, liebe Elise! vielleicht bringst Du was Zusammenhängendes heraus. Erschrick und ärgere Dich auch nicht, Kind! wenn Du gewisse Dinge liest, die Dir wohl anstößig sein müssen, die aber auch anders sein können, als sie auf den ersten Blick scheinen.

Du kennst den Philipp Arendt von klein auf. Der Hellste ist er eben nicht, und wenn er nicht mit Curd, so zu sagen, auferzogen wäre, so würde er wohl nicht den Posten begleiten, den ihm dieser verschafft hat Dafür kann sich aber auch mein Sohn auf seine Treue und Ergebenheit verlassen, weshalb er ihn denn wahrscheinlich mit sich nahm.

»Diese Fahrt,« sagte Philipp, »ging sechs und dreißig Stunden Tag und Nacht fort. Gleich hier, in unserm Städtchen, ließen wir Pferde und Wagen stehen, nahmen Extrapost, und gönnten uns nicht Schlaf, nicht Mittags noch Abends eine Mahlzeit zu halten. Den zweiten Abend unserer Reise kamen wir an ein Gränzdorf. Das Zoll- und Mauthwesen bringt dem Orte großen Verkehr; auch liegt beständig ein Jägerdetachement hier, um die Pässe und Schleichwege durchs Gebirge abzupatrouilliren. Deshalb ist hier ein stattlicher Gasthof seit vielen Jahren[318] etablirt, vor welchem die Reisenden lieber anhalten und die Gränzwächter ihre Untersuchungen und Abschätzungen in aller Ruhe machen lassen, als vor dem Zollhause, hinter der vorgezogenen Kette, stundenlang unangenehme Dinge zu hören.«

Als Curd seine Kalesche dort stehen ließ, erzählte Philipp weiter, und dem Wirthshause zuging, sah dieser einen schönen, großen Mann in demselben Augenblick langsam auf sie zukommen. Er grüßte, ohne daß mein Sohn, der in Gedanken vor sich niedersah, darauf achtete. Philipp machte es ihm bemerklich. Curd blickte auf. »Ach! da ist er schon,« rief er. Das Blut stieg ihm dabei ins Gesicht und die Augen blitzten. »Höre,« flüsterte er seinem Begleiter zu, indem er die Schritte beeilte, »ich habe mit dem Herrn ein Wort zu sprechen. Du verstehst mich. Ich habe ihn hierher bestellt. Kommt es zu etwas, endet es auf eine oder die andere Art schlimm, so nimm hier meine Brieftasche, und reise so geschwind du kannst zu meiner Mutter zurück, damit kein voreiliges Gerücht sie erschrecke.«

Der gute Junge, Elischen! wie er doch immer zuerst an mich denkt. Mich schauderte bei der Erzählung, und doch mußte ich vor Freuden weinen.[319]

Aber, höre nur weiter! Philipp sah nun, wie Beide in das Haus, die Treppe hinauf und oben in ein Zim mer gingen, das sie hinter sich abschlossen. Der arme Mensch hatte keine Ruhe. Er schlich langsam hinterdrein. In dem Coridor, rechts, waren beide verschwunden. Er ließ die Nummer der Thür nicht aus den Augen. Horchen wollte er nicht, doch ohngefähr beobachten, was drinnen vorging. Er hielt also Wache, und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, so daß er das Schloß der Thür im Auge behielt, während er mehr dem nächstanstoßenden Zimmer zugewendet schien. Erst sprachen die Beiden wenig und ganz leise. Philipp hörte sogar ein Paar Mal lachen, aber es war nur Einer, der lachte. Nach und nach hoben sich denn die Stimmen. Es ging Jemand in gemessenen Schritten quer durch das Zimmer, und zählte dabei laut. Dann ward einen Augenblick alles ganz stille. Nun rief eine Stimme im Nebenzimmer so weich, so zärtlich und so verzweiflungsvoll: »Mein Gott! Mein Gott!« daß Philipp einen Schritt zurücktrat. Doch kaum waren die Worte halb weinend, halb schreiend ausgestoßen, so fiel etwas, als wenn Jemand mit einem Stuhl umschlägt, und eine andere Stimme stieß in fremder Sprache laute[320] und ängstliche Töne aus. Schneller, wie der überraschte Amtsschreiber es fassen konnte, flog die Thür neben ihm auf, der fremde Herr und mein Sohn stürzten heraus, rissen das Nebenzimmer mit Gewalt auf, ob es gleich verschlossen war, und wie ein Blitz auf ein ohnmächtig daliegendes Frauenzimmer zufahrend, das blasser wie der Tod am Boden ausgestreckt lag, sank der Unbekannte mit einem fürchterlichen Schrei zur Erde, und Curd, beide Hände über den Kopf zusammen schlagend, rief ebenfalls ganz außer sich: »Herr Gott! das ist entsetzlich.«

Was weiter vorging, wer das Frauenzimmer war, von dem allen weiß der Amtsschreiber nichts, denn mein Sohn gewann hinreichend Besinnung, um die Thür aufs neue fest von Innen zu verriegeln.

Niemand kam heraus. Ueber zwei Stunden währte das so. Philipp, der nun nichts mehr für seinen Herrn fürchtete, ging ab und zu. Oft war es ihm, als würde drinnen viel geweint. Eine sehr sanfte Stimme sprach ein paarmal lange, doch immer so leise, daß kein Wort zu verstehen war. Den Ton, sagte mir Philipp, würde er in seinem Leben nicht vergessen. Er[321] wäre ihm so ans Herz gegangen, daß ihm die Thränen aus den Augen stürzten.

Schon ganz tief in der Nacht kam endlich mein Sohn herunter, bestellte, daß Alles zur Abreise fertig sein sollte, ging dann wieder hinauf, kehrte alsdann an des Fremden Arm zurück, bestieg mit diesem die Postchaise; sie fuhren und fuhren bis hierher, ohne daß ihr Reisegefährte ein Wort sprach, außer ein einzigesmal sagte er halblaut: »eine Nonne!« Er schüttelte den Kopf, und sank dann mit geschlossenen Augen ganz zusammen, als wolle er Alles verschlafen.

Nun sage mir um Gottes Willen, Kind! was ist das? Ich kann nicht klug daraus werden, und wenn ich mir den Kopf zerbreche. Hast Du denn eine Ahndung, wer die Person sein kann, aus der sie solch' Geheimniß machen, als gälte es des Reiches Wohlfahrt?

Gieb nur Acht, es wird nichts sein, als ein dummer Roman, der ihnen die Köpfe verrückt. Das ist jetzt Mode. Ich beklage Dich, armes Kind! Du mußt es entgelten. Hättest Du den Curd geheirathet, wie anders stände es mit Dir![322]

Quelle:
Caroline de la Motte Fouqué: Resignation. Theil 1–2, Teil 2, Frankfurt a.M. 1829, S. 306-323.
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