II

[48] Mit diesem Stoßseufzer stieg ich nahe der Rampe ab, vergeblich nach einem Baum oder Pfahl suchend, an den ich meinen Gaul binden konnte, bis Ehren-Adam sich der schachmatten, triefenden Kreatur erbarmen würde. Er mochte meinen Einzug von der Hofseite erwartet haben oder auch seines Mittagsschläfchens pflegen. Ehren-Adam war ein gar ruhsamer, alter Knabe, und sein Herr, der als ein nörgelnder Untergebener gescholten, dafür jedoch als gelassener Vorgesetzter geschätzt ward, gönnte ihm sein Behagen. Die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich den Menschen im allgemeinen und meinem Menschen Adam im besonderen niemals gewogener, als wenn ich sie schlafend sah. Im Schlafe ist Unschuld, und welche bessere Labsal haben denn auch wir armen Erdenknechte, als die Stunden des Vergessens im Schlummer und seinen Traum. Für mich selbst waren leider diese Stunden kurz und häufig alpbedrückt; träumen aber tat ich nur mit offenen Augen.

Eben hatte ich die Halfter um den Torso irgendeines[48] weiland Ganz- oder Halbgottes geschlungen, als hinter seinem Sockel hervor ein helles Kindergesicht mich anlachte und gleich darauf ein Mädchen, seiner Größe nach etwa zehn Jahr, mir nickend entgegen sprang. Es trug ein kurzes, schwarzes Röckchen und weißes Faltenhemd, das von einem dunklen Mieder zusammengehalten ward, so wie wir auf Jahrmarktsbildern die Schweizermaidli dargestellt sehen. Vielleicht derzeitige Kindermode oder ländliche Halbtoilette. Auch das goldblonde, wellige Haar hing nach Schweizerart in zwei dicke Zöpfe gebunden am Rücken hinab. Die Kleine hatte sich eine blühende Bohnenranke um den Kopf und eine zweite als Schärpe von Schulter zu Hüfte geschlungen; in der Hand hielt sie einen mächtigen Strauß von Kartoffelblüten, wilden Kamillen, Schafgarbe, Thymian, Krauseminze und was sonst noch Blühendes oder Duftendes auf diesen Zierbeeten zu pflücken gewesen war; mit einem allerliebsten Knickschen streckte sie mir ihn entgegen.

Ich habe den Strauß zwischen den Blättern meines Theokrit getrocknet und angeordnet, daß er mir dereinst in den Sarg gelegt werde; ein Merkzeichen der ersten Stunde reinen Glücks in meinem grämlichen Leben.

Das Kind hatte eben die lachenden, roten Lippen zu einem Willkommengruß geöffnet, als es jach einen Schrei ausstieß und mit einer Gebärde der Angst auf ein weißes Kätzchen zusprang, das ihm vom Arme geglitten war und das mein Nero mit Hundelust zauste. »Miez, ach, meine Miez!« jammerte das Kind.

»Nero, los!« rief ich, und das Miezchen war befreit.

Mit einem glückseligen Lächeln nahm die Kleine den Liebling wieder auf den Arm, drückte ihn an ihr Herzchen,[49] sprang dann rasch zu mir zurück und küßte meine Hand. Nach diesem Gefühlsausbruch aber wiederholte sie ihr Knickschen und sagte, indem sie mir ihr stolzes Bukett überreichte: »Schön willkommen, Herr Forstmeister!«

Ich war bis dato nichts weniger als ein Kinderfreund gewesen. Die Dressur der kleinen Hofpüppchen erregte meine Galle, und das Geschrei samt Ekelnäschen der flachshaarigen Straßenbrut widerte mich an; um den Nachwuchs in unseren Bürgerhäusern aber hatte ich mich so wenig gekümmert wie um dessen verehrliche Herren Papas und Frau Mamas. Dies Kind jedoch tat es mir an auf den ersten Blick. »Wo solch holdselige Gottesgeschöpfe gedeihen, muß sich schon heimsen lassen,« dachte ich und war auf einmal mit der unwirtlichen Heide im Sonnenbrand ausgesöhnt. Ich hob die Kleine unter beiden Armen in die Höh und küßte sie auf die rundlichen Backen, was sie sich ohne Sträuben gefallen ließ, da doch sonst kleine Mädchen bei einem Manneskuß, aus Furcht einen Bart zu bekommen, strampeln und schreien. Ein Kind des alten Försterpaares konnte sie füglich nicht sein; vermutlich also ein Enkelkind.

»Wie heißt du, Herzchen?« fragte ich.

»Lori von Leiseritz,« antwortete sie. »Wenn ich aber groß werde, heiße ich Lorenza, wie Mama.«

Ich wußte nicht, daß mein Vorgänger Nachkommenschaft hinterlassen habe. Der Mann wurde mir plötzlich interessant. In der einen Hand der kleinen Lori Willkommenspende, an der anderen die kleine Lori selbst, stieg ich die Rampe hinan.

»Wird Ihr großer Hund meinem Miezchen aber auch nichts zuleide tun?« fragte sie, von neuem ängstlich auf den Liebling in ihrem Arme blickend.[50]

»Gewiß nicht, Kind,« tröstete ich. »Nero wird deinem Kätzchen ein so guter Freund werden, wie ich dir.«

Als wir durch das Vestibül der Försterwohnung zuschritten, trat aus einer Tür zur Rechten eine Dame, unverkennbar von jenem Prinzessinnenschlag, von dem ich so manche mit zornigem Wohlgefallen angeblinzelt hatte, aber von einer Schönheit, wie ich mich ihresgleichen nur weniger erinnerte. Ein Bild von Weib, trotz der dreißig Jahre, die es zählen mochte, und dem Gepräge von, von, – nun von ennui; ich finde keinen deutschen Ausdruck, der Sorge, Verdruß, Kummer und gleichzeitig Langeweile so kurzweg bezeichnete. Hoch und schlank gebaut; das Gesicht ein feines Oval von fleckenloser Marmorbleiche, langgewimperte Lider die großen lavendelbläulichen Augen halb bedeckend, so war meine künftige Nachbarin, so war Loris Mutter, eine verblühte Schöne, aber heute noch weit, weit schöner, als die Tochter, die mit keinem Zug an sie erinnerte, jemals aufblühen konnte. Obschon bereits im zweiten Jahre Witwe, trug sie noch tiefe Trauer, vielleicht mehr aus lässigem als wehleidigem Beharren. Das Kleid war von elegantem Gemäch, aber vertragen, die Kreppuffen zerknüllt, der Saum der langen Schleppe durchstoßen. Der unbequemen Witwenschneppe hatte sie sich entledigt, das dichte blauschwarze Haar wellte sich, lose in einen Knoten zusammengefaßt, um den feingeschnittenen Kopf. Auch der modische Panier, Puder und Schönpflästerchen fehlten. Für wen hätte sie sich auch aufbauschen, färben und interessant bekleben sollen?

»Mein Töchterchen ist mir zuvorgekommen, Herr Forstmeister,« sagte sie mit einer leichten Verneigung. »Wir danken Ihnen das Zugeständnis einer Hausgenossenschaft,[51] die vielleicht wenig nach Ihrem Geschmacke ist, und ich verspreche, Störungen möglichst zu vermeiden.«

Zu einem Bürgerlichen spricht eine hochgeborene Dame deutsch. Einen ihresgleichen würde sie in den ihr mehr geläufigen Lauten einer feineren Mundart begrüßt haben. Redete sie doch selbst mit ihrer Tochter allezeit französisch. Auch stimmten der gleichgültige Ton und Blick, welche die Ansprache begleiteten, wenig zu dem Dankgefühl, das sie ausdrückte. Den noch lautete meine Erwiderung nicht bloß gewohntermaßen höflich, sondern durchaus ungewohntermaßen nahezu herzlich, denn die kleine Lori sah mit ihren großen goldbraunen Kinderaugen zu mir in die Höh, und ich las darin: »Bitte, bitte, sei gut mit Mama!«

Die Dame zog sich in ihre Gemächer zurück; mich nahmen die Förstersleute in Beschlag, führten mich zur Orientierung durch mein Revier und dann zur Tafel in ihre eigene Behausung. Das kleine Fräulein, sein Kätzchen im Arm, hüpfte munter voran, nahm auch mit heller Lust meine Tischeinladung an, obschon sie bereits Mittag gehalten. »Aber nichts so Gutes,« wie sie treuherzig gestand, »Grützbrei und Hering.«

Grützbrei und Hering! Ich war kein Sybarit; aber mich schauderte.

Mutter und Tochter, ohne eigene Bedienung, teilten den Tisch des Försterpaares, welcher, dem Säckel und der Magengewöhnung der alten Leute entsprechend, von der einfachsten Art war. Für den neuen Herrn Kostgänger jedoch hatte Frau Michelin würdiglich ein Mahl bereitet. Da sie »ledigerweise« anfänglich Kindsmagd, später Wirtschafterin bei der Herzoginwitwe gewesen, wußte sie, was feinen Leuten schmeckt und wie es schmecken muß, beteuerte[52] auch ihr Vergnügen, in alten Tagen die Künste der Jugend noch einmal üben zu dürfen.

Die kleine Lori aß mit dem hungrigen Forstmeister wett. Im Umsehen war von dem goldgelben Fasan nur noch das Knochengerüst übrig und die Schüssel mit den zuckerig eingesottenen Waldbeeren bis auf den Grund geleert. Ich hatte an keiner Fürstentafel in so heiterer Laune und mit besserem Appetit Mittag gehalten.

Während desselben war mir nun aber durch die harmlosen Plaudereien meiner kleinen Tischnachbarin und die Unterhaltsamkeit meiner alten Wirte das Interieur der vornehmen Hausgenossenschaft bis auf das Tz klar geworden. Adlige Witwenmisere in ihrer Blüte! Kein neues Bild für einen bei Hofe Bediensteten, und von allen Elendsbildern der Menschheit das, bei welchem ich am wenigsten Erbarmen und häufig genug den Kitzel der Schadenfreude empfunden hatte. Die demütig erbettelten paar jährlichen Gnadentaler hätten in früherer Zeit der gnädigen Frau kaum für eine neue Courrobe zugereicht. Nun bestickte sie freilich, ihre Umstände zu verbessern, Pantoffeln und Fächer mit Gold- und Silberfädchen, klöppelte Spitzen und mehr derlei Plunder, der herzbrechend an gute Tage gemahnte. Aber mit welcher Schamröte auf den Wangen! Um welchen Spottpreis wurde der Trödel unter der Hand in Leipzig oder Dresden abgesetzt, und wie hätte bei solchem Budget von einer Befriedigung der lästig drängenden Gläubiger auch nur die Rede sein können.

Wer Wind säet, muß Sturm ernten! Was jedoch konnte das arme Kind für die Torheit von cher papa und chère maman? Daß es sie werde büßen müssen, war ein natürliches Erbgesetz, welches der Herrgott gar nicht erst[53] seinen Geboten hätte anzuhängen brauchen. Solange indessen Christian Klösterley im Heideschlößchen residierte, sollte die Buße für elterliches Schlemmen und Schwelgen mindestens nicht in Grützbrei und Hering, und die für unbezahlte Brokatgewänder nicht in verwachsenen und verwaschenen Trauerfähnchen bestehen. An allem, was sein Forst erzeugte, hatte der Forstmeister ein gebührend Teil für seinen Topf, und dieser Topf brauchte nicht lediglich für einen Junggesellen bemessen zu sein; desgleichen brauchte der jeweilige Forstmeister, Gott sei Dank! nicht mit dem Kostgeld zu knausern, wenn selbiges auch statt für zwei, für vier Personen zu entrichten war. Die kleine Lori sollte fortan leckerer als bisher gespeist werden und an menus plaisirs, wenn just auch nicht in Batzenform, keinen Mangel leiden. Mit diesem Vorsatz legte ich mich am Abend zur Ruh und schlief so friedsam, wie ich nur je meinen Adam hatte schlafen sehen.

Halb und halb gegen mein Erwarten bedurfte es keiner schlauen Überredungskünste, um diesen Vorsatz durchzuführen. Die schöne Witwe ließ es sich huldreich gefallen, in ihren vier Pfählen, die gebührentlich die meinen waren, mich als Tafelgast zu empfangen und mit den Erzeugnissen meiner Küche zu bewirten, wie sie denn auch ebenso huldreich sich die kleinen Cadeaux gefallen ließ, die ich ihrem Töchterchen zu machen mir erlaubte. Ob sie diese Erweisungen ebenso unbedenklich angenommen hätte, wenn ich statt Forstmeister Klösterley Oberforstmeister von Klösterley geheißen hätte, bleibe dahingestellt. Jedenfalls würde es dann nicht ohne ein Erröten geschehen sein. Man schämt sich eben nur vor seinesgleichen oder solchen, zu denen man sich in die Höhe reckt.[54]

Als Entgelt überließ sie mir ihre Lori. Gewiß, sie liebte das Kind; da sie ihm aber keine Bonne oder Gouvernante halten konnte, wurde ihr seine Gegenwart – nervös, wie sie nach Damenart war, – unbequem, und sie dankte Gott, wenn sie es, ohne Schaden zu befürchten, draußen im Lustgarten oder bei den alten Förstersleuten untergebracht wußte. Indem sie auf diese Weise sich der einzigen angänglichen Zerstreuung beraubte, quälte der Gedanke, was aus ihrer kleinen Sauvage einmal werden solle, die Einsame dann aber doppelt; im Grübeln und Seufzen über deren Zukunft und die eigene entsanken Nadel oder Klöppel lange vor Dunkelwerden ihrer Hand, sie streckte sich auf ihrer Causeuse, und zwischen Erinnern, Sehnen und Sinnen stellte ein Halbschlummer sich ein, welcher der Nacht ihr Ruherecht verkümmerte. Wie hätte sie auch müde werden sollen? Weder die körperliche noch die geistige Arbeit kostete Anstrengung; in die Luft kam sie nicht. Zu Fuße gehen, ganz allein oder, was noch mehr hieß, mit einem Kind und in die Heide – Gipfel alles ennui! War dann die magere Abendsuppe ohne Appetit verzehrt, Mignonne zu Bett gebracht, dann belebten bei einbrechender Nacht sich die quälenden Nervengeister, dann wurde das Bewußtsein unverdienten Elends erst recht grell, dann rannen die Tränen. Sie löschte das Licht, öffnete die Türen ihrer Zimmerreihe und ging mit leisen Schritten, seufzend und händeringend, die Flucht hin und wider, Stunden auf Stunden, bis sie endlich ermattet, lange nach Mitternacht, ihr Lager suchte und der Freund der Kummervollen sie in glückliche Tage zurückführte, vielleicht auch wiederum in glückliche voraus. Erst wenn die Sonne hoch am Himmel stand und die kleine Sauvage sich seit[55] Stunden nach Willkür umhertrieb, erwachte die Mutter zu einem leidigen Tagewerk und Tageslauf.

In diesem Tageslauf trat vom heutigen ab nun mählich ein Wandel ein. Daß der alte Forstmeister in seiner einseligen Weltabgeschiedenheit sich die Zeit mit Mignonne vertrieb, den durch hartes Mißgeschick versagten Hofmeisterposten freiwillig bei dem Kinde übernahm, gewährte eine Herzerleichterung. Monsieur Klösterley war ein ungefährlicher Schutzherr; die Mutter durfte ohne Sorge träumen und sich grämen, sie nährte sich nach Geschmack und Bedürfen, was immerhin ein gesundheitlicher Anfang ist; sie wird, will's Gott, allgemach auch wieder rechtzeitig Schlummer finden, kann Klöppel und Nadel ohne Gewissensbisse rasten lassen und so gradatim weiter: Zeit und Behagen verbunden im Kampfe gegen das ennui.

In weit kürzerer Frist, als diese Wandlung der Mutter heischte, war ihr Kind nun aber das meine geworden. Aus freiem Antriebe, so, als könnte es nicht anders sein, nannte Lori den Herrn Forstmeister schon nach wenig Tagen erst Meisterchen, dann Väterchen und du, wich auf Schritt und Tritt ihm kaum von der Seite. Wenn morgens Maman noch lange schlief, schlich sie sich aus dem Bett, ging an meiner Hand in den Wald, lernte sich mit mir darin auskennen wie ein junger Lehrling, und weil die Wege oftmals so weite waren, daß ich sie nur zu Pferde durchmessen konnte, hatte ich für sie ein Zwergenrößlein ergattert, auf welchem sie nun munter neben mir hertrabte durch dick und dünn. Das war eine Lust!

Waren wir dann aus dem Forste heimgekehrt und hatten unser wohlschmeckendes Mahl eingenommen, dann ging es an das Studieren; von seiten der Schülerin freilich nicht[56] mit allzu lebhaftem Behagen, dem lehrenden Väterchen zuliebe aber mit freundlichem Willen; das kleine Wesen, dem ich kaum zehn Jahre gegeben hatte, zählte zu meinem Staunen deren nahezu dreizehn, im Punkte des Wissens aber fand ich es im Stadium eines acht- oder höchstens, seiner Leibesgröße angemessen, zehnjährigen. Man hatte die Kleine während ihrer frühesten Zeit, der elterlichen Glanzperiode, auf dem Lande in Polen zurückgelassen; die Großmutter, ein müdes Weltkind, wie ihre Tochter dazumal ein munteres war, erzog sie, das heißt, sie erzog sie eben nicht. Ein bißchen Französisch plappern lernte sich von der Wiege ab gleichsam als Mutterlaut; von eigentlichem Unterricht war keine Rede. Nach dem Tode der alten Dame, welcher ungefähr mit der Eltern Exilierung in die Heide zusammenfiel, wurde auch das Kind darein versetzt, und der Vater machte nunmehr einen Anfang mit den Rudimenten der Sprache, die seine Muttersprache war: ein Anfang, welchem der Tod rasch ein Ende setzte. Die Witwe war allzu melancholisch umgeschlagen, um die saure Aufgabe fortzuführen, würde aber auch sonder Melancholie und mit stärkerer Geduld in deutscher Grammatik und anderweiten Fibelkünsten schwerlich etwas Erkleckliches geleistet haben, und, um gerecht zu sein, wieviel Damen oder Frauen ihrer Zeit und Zone mehr als sie? So blieb es denn bei einem stockernden Buchstabieren und dem kritzeligen Aneinanderreihen steifer Lettern.

Wie kläglich aber war es erst bestellt mit der Christenlehre, die ja überhaupt selten zur Blüte kommt, wo sie nicht mit der ersten Muttermilch eingesogen ist. Die Eltern empfanden, nach der meisten Weltleute Art, ein gar schwächliches religiöses Bedürfen; sie waren Freigeister, ohne sich[57] so zu nennen oder es auch nur zu wissen, der Vater Lutheraner, die Mutter Katholikin. Die Tochter, gesetzmäßig nach der letzteren Ritus getauft, hatte man gelegentlich firmen lassen, als bei dem letzten elterlichen Besuche in Dresden ein Bischof dieses Sakrament an etlichen Kindern des Hofkreises vollzog. Seitdem, also seit Loris zehntem Jahre, hatten Mutter wie Tochter kein Gotteshaus betreten, hätten bei frömmstem Willen aber auch in ihrer stocklutherischen Umgebung eines ihres Kultus nicht betreten können.

Die Mutter vertröstete sich betreffs der geistlichen wie weltlichen Bildung ihrer Tochter mit einem späteren Erziehungskloster und würde den Platz in einem solchen auch jetzt schon angestrebt haben, wenn es in sächsischen Landen noch katholische Klöster gegeben hätte oder eine Reise nach dem mit dergleichen Instituten gesegneten Polen zu ermöglichen gewesen wäre. Aber nicht bloß als Übergangsstadium, sondern als dauernde Zuflucht schwebte ihr, wenn auch unter Seufzen und Tränen, eine Nonnenzukunft für ihre Lori vor. Sie war, nach mütterlichem Maßstabe bemessen, nicht schön, würde es niemals werden; sie war blutarm, auf eine standesmäßige Verheiratung nicht zu zählen. So grausam die Vorstellung in das Herz schnitt, besser, anständiger mindestens, für eine geborene von Leiseritz verborgen hinter Klostermauern ihre Tage zu beschließen, statt wie so manche ihresgleichen als alterndes Fräulein von einem dürftigen Gnadenpfennig eine kleinstädtische Dachstubenexistenz zu führen, mit Laternchen und Hausschlüssel im Strickbeutel am Morgen auszurücken und als willkommene oder auch unwillkommene Klatschbase in adligen Familien ihren regelmäßigen Mittags- und Abendtisch zu suchen. Arme kleine Lori! So elendiglich stand deine Zukunft selbst den Augen[58] der Mutter vorgezeichnet. Gott sei Dank, daß sie dem Kinde wenigstens ein paar letzte, freie Jahre gegönnt und sie ungehindert ihre »Sauvage« hatte werden lassen!

Denn wenn, wie es heißt, das nämliche, das zwei Menschen tun, nicht das gleiche ist, so wirkt das nämliche, das zwei Menschen dulden, nicht selten einen Gegensatz. Die Not, welche über die Witwe einen zerstörenden Bann verhängte, gewährte der Waise die Freiheit, in welcher ihre Natur sich bis zu deren Grenzen entwickelte. Unter der Dressur, sei es des Klosters, sei es des Weltlebens, würde diese holde Kindlichkeit verkümmert oder zur Albernheit ausgeartet sein.

Lori hegte von der sichtbaren Welt außerhalb ihrer Heide nur eine schwache Vorstellung, und die unsichtbare Welt der Offenbarung war in ihr ungeweckt; von einer Kirche hatte sie nur ein flüchtiges Kinderbild bewahrt, in welchem Weihwedel, weiße Schleier und Lilienstengel die haftendsten Eindrücke bildeten. Den Stegreifslehrer aber mutete es an, eine Schülerin zu erhalten, auch in der heiligsten Heimlichkeit noch als unbeschriebenes Blatt, auf das er seine Runen zeichnen durfte. Das Gemüt eines halbfertigen Weltkindes aus- oder gar umzubilden, würde ihm widerstanden haben und mißlungen sein; dem unberührten Waldkinde durfte er ein Priester werden, und er ist es ihm so lange geworden, bis das Kind ihm zum angebeteten Leitstern ward. Auch die einförmige Heide hat in Licht und Sturm Momente, in welchen der Mensch einem allmächtigen Schöpfer sich näher spürt als sonst. In dem Schöpfer den Vater lieben zu lehren, in dem Menschenreiche ein Bruderreich, darauf beschränkte sich, sonder Katechismusformel, lediglich nach der knappen Satzung des göttlichen[59] Menschensohnes sein Priesteramt, und den Segen dieses Amtes hat er zurückempfangen reicher, als er ihn gespendet. In der Lehre eines unschuldigen Kindes ist der römische Bürger, soweit seine Kalmäusersucht es zuließ, ein Christ geworden; denn die Grundbedürfnisse, deren Stillung die Menschenseele nicht entraten kann, sind eingeschränkter Art, und die unsichtbare Natur entwickelt sich wie die sichtbare aus kaum bemerkbaren Keimen.

So geteilt zwischen Bibel, Fibel samt Orbis pictus und freier Bewegung, zu Fuß und Roß, mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsschere, verlief voller Lust die sonst so trübselige Sommerzeit der Heide. Der Tag wurde kürzer, der Unterricht in die frühen Morgen- und Abendstunden noch bei Lampenlicht verlegt. Während ich meine Rechnungen und Eingaben ausarbeitete, leistete die Kleine mir gegenüber ihre Pensa mit wachsendem Eifer und, weil bemessen unter der Kraft ihrer Jahre, mit gründlichem Erfolge.

Der Prinz war aus dienstlichen wie vergnüglichen Gründen schon manches Jahr in seinem Dominium nicht eingekehrt und kehrte auch heuer nicht darin ein. Statt des versagten mündlichen Referats machte ich mich daher schriftlich an ein Memorandum, zum Zweck der Aufbesserung und allmählichen Hebung der verwahrlosten forstlichen wie sittlichen Zustände in meinem Revier. Ich tat es mit Genauigkeit und mit Wärme, denn es handelte sich mir nicht bloß um eine Kopfes-, sondern um eine Herzenssache.

Das Holz besaß, der Schwierigkeit, nein, schlechthin der Unmöglichkeit des Transports durch die unwegsamen Sandwellen halber, so gut wie keinen Wert. Hatten Alter, Sturm oder Blitzschlag einen Stamm gefällt, verwitterte er am[60] Boden; haufenweis sperrten die Baumleichen jeglichen Pfad, nur das Reisig wurde von Weibern und Kindern gesammelt und an dem Außenrande hier und dort von Köhlern ein Meiler angezündet. Ich entwarf nun Plan und Kostenanschlag für einen bestmöglich chaussierten Kreuzweg zum Anschluß an die der Heide benachbarten Ortschaften und von ihnen aus an die größeren Landstraßen. Die für diese Anlage zu fällenden Bäume wurden den frönenden wie freien Bauern, neben einem bescheidenen Tagelohn, unentgeltlich überlassen, von ihrem mageren Hornvieh auf die eigne Feldflur geschleift, zu dem ausschließlichen Zwecke, mit ihnen die zumeist vom Wild bedrohten Hufen zu umzäunen, bis es im Verlaufe gelungen sein werde, die Heide teilweise zu roden, den Boden zu meliorieren und bei eingeschränktem Wildstand den Komplex schützend zu umwallen. Das gab den Ärmlingen der Gegend Anregung, Arbeit, Winterlohn, wenn auch nur kärglichen, und als Haupthebel: die Hoffnung auf gedeihlichere Zeiten.

Zum ersten Male in meinem Bureaudienst hatte ich die Feder unumwunden als Gracchus geführt, und daß umgehend, brevi manu, mein Plan gebilligt, eine ansehnliche Summe als erste Rate zu seiner Ausführung angewiesen, aus freiem Antriebe sogar der Befehl gegeben wurde, zunächst wenigstens den Bestand des am verwüstendsten hausenden Schwarzwildes bis auf ein Minimum einzuschränken, trug zum Behagen meiner Gegenwart wesentlich bei; erweckte auch zum ersten Male eine ehrerbietigere Meinung von unserem fürstlichen Gebieter, wennschon dessen Opfer dem ungenügsamen Kalmäuser als ein ziemlich wohlfeiles erschien. Des Prinzen Sold als Generalissimus überstieg seine fürstliche Apanage, er war ein reicher Herr, die Anlage[61] verhieß zukünftigen Ertrag, und dem Pläsier der Sauhetzen ließ sich in fremden Revieren zur Genüge frönen. Aber ich hatte meinen Kopf durchgesetzt, es gab rüstige Anordnung, Aufsicht, Schaffensfreude, erquickende Bewegung, in den Morgenstunden allein, nach Tisch in Begleitung meines lieblichen kleinen Anhängsels. Ich fühlte mich zum ersten Male als einen glücklichen Mann.

So kam der Winter, die Glorienzeit der Heide. Ein dichter, weißer Teppich breitet sich über die graubraune Bodenschicht, funkelnde Kristalle zittern an jeder Nadel der grünen Wipfel, die sich unter ihrer Schneelast zu Lauben neigen; schlankes, zierliches Wild dringt, Leben verbreitend und Leben verendend, bis an die Umhegung von Haus und Hof, Büchsengeknall und Schlittengeklingel hallen durch den Forst. Auch ich hatte mir solch ein leichtes Wintergefährt zugelegt, um meiner kleinen Kameradin willen schmucker, als ich es für mich allein gewählt haben würde. Es glich einem Schwan mit schlankem Hals. Eine warme Bärendecke hüllte uns ein; mein munterer Rappe trug ein wohlgestimmtes Geläut.

In dieser zierlichen Muschel fuhren wir nun selbander die Heide kreuz und quer, besichtigten Wegschaufler, Holzfäller und Kohlenbrenner, kehrten auch wohl dann und wann zu einem Einkauf in der Stadt oder zu einem erwärmenden Trunk in einer dörflichen Schenke ein und kamen erst bei Sternenschein zurück in unser Schlößchen, das in seiner bunten Färbung, unter einem silberflimmernden, weißen Schleier einem Zauberpalaste glich und in dem nun meine kleine Fee mit hochroten Wangen und leuchtenden Augen von der offenbarten Weltherrlichkeit berichtete.

Die Kinderlust aber steckte an und scheuchte für ein paar[62] Abendstunden das Konsortium Ennui und Melancholie. Nach dem gemeinsamen Souper, das heißt einer sämigen deutschen Suppe, saßen wir noch dreiselig beieinander, und lange verschlossene Ohren und Lippen taten sich auf. An Berührungspunkten fehlte es nicht. Ich kannte, wenigstens Namen und Ansehen nach, die Mehrzahl der Kavaliere und Damen, zwischen denen die Jugend der Witwe so heiter verflogen war, hatte von ihren galanten Abenteuern berichten, ihre Hühner und Gänse aufzählen hören. Meines Vaters weitkultivierteste Wissenschaft war die Genealogie fürstlicher und adliger Geschlechter gewesen, und wessen der Kopf voll ist, davon geht der Mund über. So hatte ich manchen Stammbaum sich ausbreiten sehen, der jetzt in der winterlichen Heide den Schatten von Erinnerungen und vielleicht Hoffnungen über eine schmachtende Seele breitete. Die Dame lehnte hingegossen auf ihrer Causeuse, wiegte zustimmend oder aufklärend das schöne Haupt und lispelte die Gegenrede in den vertrauten Lauten einer feineren Mundart als der, in welcher der neue Hausgenosse begrüßt worden war; die Tochter saß ihr gegenüber auf einem Schemelchen an meiner Seite, ihre Hand in der meinen, das Köpfchen an meine Knie geschmiegt; sie hatte sich tagsüber müde studiert und geschaut, die Plauderei über allerlei unkindliche Gegenstände, die, Gott sei Dank, ihre Neugier nicht reizten, machte sie noch müder. Die lieben, hellen Augen fielen zu, ich schlang meinen Arm um ihren Hals, zog sie auf meinen Schoß, und so an meiner Brust schlummerte sie, bis die gesetzte Stunde des Aufbruchs schlug und ich das Kind, ohne es zu erwecken, in das Schlafzimmer trug. Auf dessen Schwelle küßte ich der gnädigen Mama zur guten Nacht die Hand, verfügte mich in mein Kompartiment,[63] und über Redouten und Schäferspielen, galanten Baronen und gefeierten Komtessen nicht weniger als meine kleine Freundin müde geworden, schlief ich den Schlaf des Gerechten bis zum Hahnenschrei.

Aber auch auf die nervenschwache Dame hatte der Erinnerungsaustausch am lodernden Kamin eine narkotische Wirkung geübt. Die nächtlichen Wandelgänge unterblieben, sie legte sich geziementlich zur Ruh und gestand mir eines Tages, daß sie allmählich wieder schlafen lerne, wie sie allmählich wieder mit einigem Appetit essen gelernt. Eines anderen Tages gewahrte ich, daß sie ihr Trauergewand mit einem farbigen aus heiteren Tagen vertauscht, bald danach, daß sie Puder in ihr Haar gestreut habe. Als ich mir jedoch die Bemerkung erlaubte, wie schade es sei, die seltene Schöne eines solchen Rabenschwarz zu verhüllen, entgegnete sie: »Jedenfalls eine Torheit; auch ist meine Puderbüchse leer«, und trug fortan keinen Puder mehr, nur einen künstlicheren Lockenbau als bisher. Die Gegenwart eines Menschen, der ihrem Gesellschaftskreise nahe gestanden, der Eindruck auf einen Mann, wenn auch nur einen bürgerlichen Mann, hatte die Witwe wieder zu einem Weibe gemacht.

Meinem Drängen nachgebend, wagte sie sich denn auch endlich wieder an die Luft und spazierte regelmäßig in der Mittagsstunde an meinem Arme ein paarmal die Gänge unseres Lustgartens, auf denen Ehren-Adam säuberlich Bahn gekehrt hatte, hin und wider. An einem fernerweiligen Tage – bei zwölf Grad unter Null! – überraschte die frileuse Dame mich sogar mit dem Geständnisse, daß Schlittenfahren eine ihrer Jugendpassionen gewesen sei und daß sie ein lebhaftes Verlangen empfinde,[64] den altheimischen Reiz noch einmal auf sich wirken zu lassen.

Noch am nämlichen Tage, und fortan jeden folgenden, machten wir demnach eine Tour durch die Heide; Dame und Dämchen in der Muschel mit dem Schwanenhals, der galante Forstmeister als Lenker hinter ihnen auf der Pritsche; die rasch gleitende Bewegung, das goldene Mittagslicht, der frische Odem der Heide in ihrem reinen Winterkleide, frohe Heimatsbilder ähnelnder Natur färbten die bleichen Wangen der Witwe mit einem Blütenhauche; die müden Augen hoben sich in meerblauem Glanze; sie schien um zehn Jahre verjüngt: »Fürwahr ein schönes, ein königliches Weib!« dachte ich bewundernd, ja entzückt nach jeder Heimkehr von unserer Fahrt. »Eines von denen, das man außer seinem Hause sehen muß, um ihm gerecht zu werden.«

Gegen die Weihnachtszeit war der neue Heideweg bis zur Stadtflur so weit abgeholzt, daß die angrenzenden Gutsbesitzer ihn bequem zu einem Rendezvous im städtischen »Weißen Hirsch«, dem einzigen reputierlichen Gasthofe der Gegend und zugleich Posthalterei, benutzen konnten. Ausnahmslos Edelleute. Nur der Forstmeister Klösterley war auch ohne die beiden schwerwiegenden Wörtchen »von« und »Ober« eine Standesperson, welcher die ritterlichen Jagdschmarotzer die Erlaubnis, in seinem Revier zu pirschen und Sauen ad libitum niederzuschießen, regelmäßig mit einer Einladung zu ihren Festivitäten belohnten. Machte er nun auch von solcher Gunst, deren persönlichen Wert er zu taxieren verstand, nur selten Gebrauch: eines schönen Nachmittags legte er seine goldgestickte, grüne Staatsuniform an, schnallte den Hirschfänger um den Leib und setzte den federbordierten Dreispitz über den Haarbeutel mit breiter,[65] schwarzer Schleife, um seiner edlen Hausgenossin würdiglich als Kavalier zu dienen. Es galt, vor dem Abschluß der Jagdzeit und dem Beginne des Karnevals in der Residenz, ein Abschiedsfest im »Hirsch«, zu dem man das Heideschlößchen als Rendezvous erwählt hatte.

Unmittelbar hinter dem Musikschlitten, das heißt einen auf Kufen gesetzten, mit Tannenreis bekleideten Leiterwagen, der alles, was in der Pflege irgendwie zu blasen und zu fiedeln sich vermaß, beherbergte, eröffnete er, der Forstmeister nämlich, den Zug auf der Pritsche seines Schwans. Vor ihm saß neben dem Töchterchen – das schicklicherweise zu Hause gelassen worden wäre, wenn sein väterlicher Priester, Lehrer und Freund es über das Herz gebracht hätte, ihm ein lustiges Schauspiel zu versagen, – saß die schöne Witwe in granatrotem Sammetrocke mit Zobel verbrämt, ein polnisches Pelzmützchen über dem hochgelockten, heute mit Goldstaub gepuderten Toupet; leidlich erhaltene Rudera einer unvergeßlich glorreichen Zeit! Daß es aber der nobelen Equipage an einem geziemenden Geleit nicht fehle, trabte auf dem alten Förstergaule Ehren-Adam – Pferdeknecht, Wichsier, Büchsenspanner, Tafeldecker, Kammerdiener in seiner Person vereinigend – heute als Vorreiter dem Schwane voran, um bei der nächtlichen Rückfahrt mit einer Pechfackel heimzuleuchten. Schellenklingende Rosse, Schlittchen mit kostbaren Pelzdecken, aber auch manches ehrbare Familiengehäus aus Korb geflochten, folgten nach; junge, schmucke Reiteroffiziere aus den nächstliegenden Garnisonstädten sprengten zur Seite. Ein stattlicher Zug!

Im »Hirsch« wurde in Kaffee und Punsch geschwelgt, die Cour geschnitten, bei dem Souper nach Leibeskräften gezecht, darauf für das Alter »ein Tempelchen«, für die[66] Jugend – und meine Dame zählte reichlich zu der letzteren, – ein Tänzchen arrangiert. Mit einem Hoch auf die nächste Jagdsaison wurde der heurigen spät in der Nacht Valet gesagt.

Die Baronin hatte glänzendere Feste gefeiert, aber doch endlich wieder einmal ein Fest, das erste Vergnügen seit Jahren! Sie war in stolzeren Kreisen heimisch gewesen, immerhin aber doch wieder einmal unter ihresgleichen. Aus einer so gut wie vergessenen war sie eine neue Erscheinung geworden, als Schönste der Schönen gefeiert, wie eine junge Blüte von Faltern umschwärmt! So wie ihr mag es dem Gefangenen zumute sein, der nach dunkler Kerkerhaft zum ersten Male wieder die Sonne aufgehen sieht.

Und als lange nach Mitternacht die Gesellschaft sich in alle Richtungen zerstreut hatte, glich bei unserer einsamen Heimfahrt die unwirtliche Heide einem Märchengarten. Der Schein der vorleuchtenden Fackel brach sich in Millionen Diamanten einen Augenblick; im nächsten glitt ein schwärzlicher Schatten über den weißen Teppich, und über dem glitzernden Behang der Wipfel breitete sich der Baldachin der Nacht mit ihrem Goldgefunkel, und wiederum züngelte es oben und unten wie buntes Geschmeide, um im sausenden Fluge wie ein Blitz zu erlöschen. Hirsche und Rehe flüchteten aufgescheucht über die Bahn; Raben und Dohlen flatterten krächzend von den schneebeladenen Zweigen in die Höh; aus einem Dickicht flimmerten die Lichter heimlich grausamen Waldgesindels.

Der alternde Melancholikus hatte nicht häufig eine Künstlerader in sich gespürt; heute aber, in dem schemenhaften Weben von Licht und Nacht, von sprühendem Leben über[67] der Todesstarre, das Haupt des schönsten Weibes dicht an seiner Brust, da prickelte ein phantastischer Kitzel durch seine Poren; jeglicher Nerv, jegliche Fiber wirbelten eine Woge vom Herzen zum Hirn und vom Hirn zum Herzen zurück. Ein sanft berauschendes Arom, wie das des Jasmin, entquillt den üppigen Haarwellen, über welche sein Kopf sich neigt, das Antlitz einer Helena wendet sich ihm zu; der Laut versagt den lächelnden Lippen, aber unter den weit geöffneten Lidern sprühen elektrische Funken, und ein heißer Odem haucht sichtbar einen Duft in die Winternacht und in ein lange winterliches Herz. Es ahnt, nein, es spürt das Schlagen auch eines zweiten Pulses, ein heimliches Fieber auch in einer anderen Brust. Bei Gott! ein herrliches, ein begehrenswertes Weib!

»Und warum nicht dein Weib?« schoß es wie ein Funke durch mein Hirn. »Ist es in den Sternen geschrieben, daß du als klausnerischer Splitterrichter dein Leben beschließen sollst? Es steht in deiner Macht, dieses Weib wiederum auf den Platz zu stellen, der ihm gebührt, es in das Element zurückzuversetzen, für das es geboren ist, Not und Sorge, die sein Herzblut aussaugen, zu bannen. Ermanne dich, ringe, wirb um sie; liebe sie; laß dich lieben, werde ihr Gatte, ihres Kindes – –«. Ein jacher Ruck, bevor ich den letzten Satz ausgedacht. Das Pferd stockte vor der Rampe. Ich hatte nicht gemerkt, daß wir dem Ziele so nahe waren. Die Fackel verlöschte, während der Vorreiter abstieg; es währte ein paar Minuten, bis er das Portal geöffnet hatte. Tiefstille Nacht ringsumher.

Ich hatte die Dame aus dem Schlitten gehoben und hielt ihre Hand in der meinen. Zitterte sie, oder zitterte nur ich? Fühlte ich einen leisen Druck, oder gab ich ihn?[68]

»Dank! Dank!« flüsterte sie.

Der erste warme Dank für die erste warme Freude, die ich ihr bereitet!

»Du sollst mir mehr als diese erste Freude danken lernen, Lorenza,« stammelte ich; vielleicht dachte ich es auch nur. Gehört mindestens hat sie mein Versprechen nicht, denn rasch hatte sie ihre Hand aus der meinen gelöst und war im Dunkel des Vestibüls verschwunden.

Ich wendete mich nach dem Schlitten zurück, um Lori der Mutter nachzutragen. Schlafend hatte ich sie vor der Abfahrt hineingehoben, schlafend hob ich sie wieder heraus.

»Väterchen!« lallte sie, halb im Traum, von meinen Armen umschlungen.

Väterchen! Unzählige Male hatte ich den zärtlichen Namen von ihren Lippen gehört. Heute durchzuckte er mein Eingeweide wie ein Stich. Unwillkürlich ergänzte ich den Satz, in welchem das Halt mich vor ein paar Minuten unterbrochen hatte: »ihres Kindes Vater!« Und jach hämmerte es aus tausend Pulsen: »Nimmer, nimmermehr!«

Hastig ließ ich das Kind aus meinen Armen; um ein Haar wäre es zu Boden gefallen. Ich stieß es in die Tür, welche die Mutter offen gelassen, – »offen auch für mich?« – Mich schauderte! Ich schlug die Tür in die Angel und stürzte in mein Zimmer; ja, ich stürzte, als würde ich verfolgt.

Was hatte ich denn? Woher dieser Aufruhr? Ich war kein Jüngling, kein Brausekopf; ein nüchterner, alternder Mann, Christian Klösterley, der Kalmäuser! War ich denn wahnwitzig geworden?

Die warme Stubenluft erstickte mich; ich riß das Fenster auf und starrte hinaus in das matte Licht der Nacht, das wir Dunkel, horchte auf das leise Geräusch der Nacht,[69] das wir Stille nennen. Aber ich sah nur ein helles Kinderhaupt vor meinen Augen schweben, hörte nur ein süßes Kinderlispeln an meinem Ohr.

Ich legte mich nicht. Den Rest der langen Winternacht schritt ich in meinem Zimmer auf und ab. Bevor es draußen Tag ward, mußte es drinnen Tag werden.

Und es ward Tag. Ja, es war schon Tag geworden, als das Kind den altvertrauten Namen lallte, und das grelle Licht hatte mich nur geblendet. Nein, nein, ich konnte des schönen Weibes Gatte nicht werden, weil ich nicht seines Kindes Vater werden konnte. Ich liebte nicht die Mutter, ich liebte – die Tochter.

Sie war ein Kind, und ich liebte sie als ein Kind; kein Reiz des Weibes umspann mich in ihrer unschuldsvollen Nähe. Ich wußte, daß sie niemals mein eigen werden durfte, des weltmüden Mannes, der längst ihr Vater sein und allezeit nur ihr Beschützer bleiben konnte. Aber dennoch, dennoch, ich wußte es seit dieser Nacht, – ich liebte sie nicht bloß als das Kind, das sie war, ich liebte sie auch als das Weib, das in ihr schlummerte, das Weib, das ich geträumet, das ich ewig lieben würde, ewig, Lori, ewig! aber niemals besitzen.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 48-70.
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