Zwölftes Kapitel

Die Leiden des jungen Werther

[279] Ei, welch ein rascher, feuriger Bräutigam war mein Großvater! Tag für Tag in der heillosen Jahreszeit eilte er, zu Fuß oder Wagen, zu der Geliebten hinüber; er lernte sogar reiten, um sie schneller zu erreichen, und als gegen Weihnachten die Familie nach der Stadt und in das nämliche Eckhaus übersiedelte, in welchem der Leser vor vierundzwanzig Jahren die Bekanntschaft des blonden Christelchens gemacht hat, wie war Joseph da geschäftig, das kleine Heimwesen zu einem frohen Empfange auszuschmücken. Ein »Willkommen!« prangte über der Tür, die Fenster standen voll blühender Hyazinthentöpfe; auf Lenchens Nähtischchen lag ein schwungvoller Liebesgruß, und darüber hing unter einem Kranze von Immortellen der seligen Mutter Schattenriß. Joseph hatte ihn in Leipzig fertigen lassen nach einem, welchen er selber in goldenem Medaillon auf dem Herzen trug, und es war im Leben sein erstes freiwilliges Opfer, sich auf ein paar Tage von dem heiligen Andenken zu trennen.

Nun befremdete es ihn freilich, daß sein lebhaftes Bräutchen beim Betreten des Zimmers diese sinnigen Aufmerksamkeiten gar nicht bemerkte, nur gleich das Fenster aufriß und in die Hände klatschend rief: »Ach, du meine Güte, wie groß, wie schön! Das da drüben ist wohl das Rathaus, Mutterchen? Aber nein doch. Da stehen ja der Herr Vater vor der Ladentür und winken und nicken mir zu. In diesem Schlosse sollen wir künftighin wohnen! Herr Joseph, Herr Joseph, sehen Sie doch an der Ecke[279] den schönen Offizier! Nein, ist der aber stramm und blank. Und da unten der Weihnachtsmarkt! Die vielen Heringe und Äpfel und ganze Buden voll Spielsachen und Puppen!«

Ihre Bewunderung fand kein Ende; sie war ja zum ersten Male in einer Stadt, sah diese Herrlichkeiten zum ersten Male. Wollte Joseph gerecht sein, durfte er ihr jene Achtlosigkeit nicht übelnehmen.

Auf der anderen Seite durfte aber auch David es nicht übelnehmen, wenn der Sohn nicht, wie er sich zugetraut hatte, gleichzeitig mit dem Bräutigam ein Geschäftsmann ward. Auch er mußte sich an den neuen Zustand gewöhnen lernen. Nachdem der Vater jedoch monatelang auf das Erwachen hausväterlichen Pflichtgefühls in Joseph gewartet hatte, kam er zu der Überzeugung, daß sein Plan, das junge Paar selbständig zu etablieren, an Josephs Untüchtigkeit scheitern müsse, und, da er für sein Teil unverbrüchlich gesonnen war, zu keiner zweiten Ehe zu schreiten, zu dem Beschluß, die Kinder in sein eigenes Haus und Geschäft aufzunehmen und das tätige Lenchen als Vorsteherin der großen Wirtschaft auf den rechten Platz zu stellen.

Vor Ablauf des Trauerjahres konnte von der Hochzeit natürlich nicht die Rede sein. Auch drängte Joseph keineswegs nach derselben. Die Gegenwart war ja so lieblich, warum hätte er sich einen anderen Zustand wünschen sollen? Sah er nicht jeden Tag die schöne Geliebte, wußte er nicht, daß sie sein war? Warum denn gleich heiraten und haushalten?

Freilich, wenn er sie nur ein einziges Mal allein hätte sehen können! Nur einmal unter vier Augen mit ihr reden, sie ohne Zeugen an sein Herz drücken! Immer aber saß[280] die Mutter mit den drei lauten Buben in dem einzigen, engen Witwenstübchen. Auf die Dauer ein unbehaglicher Zustand! Von was sollte man sich die langen Winterabende hindurch unterhalten?

Jungfer Lenchen zwar ging der Stoff zum Erzählen und Fragen nicht aus; sie wußte allezeit etwas Neues oder wollte etwas wissen. Schade, daß ihr Bräutigam sich so wenig um das Neue kümmerte! Wenn das aufmerksame Lenchen die Bemerkung gemacht hatte, daß die Nachbarin rechts schon wieder Kuchen gebacken und die Nachbarin links schon wieder ein neues Kleid in der Kirche angehabt habe, dann kam es sogar vor, daß Joseph verdrießlich sagte: »Beschäftige dich doch nicht mit so gleichgültigen Dingen, Magdalene!« Waren das gleichgültige Dinge? Mit was für Dingen sollte in aller Welt sich denn ein Mensch beschäftigen? Sie schmollte ein Weilchen und knüpfte dann mit voriger Munterkeit eine neue Unterhaltung an, zwar nicht gerade von Kleidern und Kuchen, aber doch etwa von Braten und Saloppen, für welche Freund Joseph leider ebensowenig ein eingängliches Verständnis offenbarte.

Es war zu bedauern, daß die Witwe nicht wie Mutter Sophie ein Klavier besaß. Musik würde die langen Abende anmutend verkürzt haben. Indessen: »Musik ist die Sprache liebender Seelen,« so tröstete sich Joseph. »Meine Magdalene wird ihren Sinn verstehen, auch wenn er nur in einfachen Lauten gestammelt wird.«

Freudig belebt steckte er daher eines Abends seine Flöte ein und ging hinüber. Lenchen war über den köstlichen Einfall vor Freuden außer sich. »Blasen Sie, blasen Sie, englischer Herr Joseph!« jubelte sie.

Sie konnte sich nämlich durchaus nicht daran gewöhnen,[281] ihn bloß Joseph oder gar du zu nennen. Es war gegen ihr Gefühl, wie das Herr und Sie gegen das seine. Er mußte es schon als einen Sieg betrachten, daß er ihr endlich den Mosjö Haller ausgetrieben hatte.

So setzte er sich denn in das Halbdunkel des Erkers, dem Schattenriß seiner Mutter gegenüber und begann eine sanfte Liederweise, deren Textworte anhoben: »Wie der Tag mir schleichet, ohne dich verbracht.« Die Melodie umfaßte, wenn mir recht ist, nur drei Töne und wurde dem großen Philosophen Rousseau als eine Art Mustermelodie für seine Ur- und Naturmenschen zugeschrieben. Joseph aber, obgleich er kein Ur- und Naturmensch genannt werden kann, verstand es, den wehmütigen Grundton mannigfaltig zu modulieren. Er hauchte sein ganzes Herz in die Flöte, vergaß, wo er war, wer um ihn war, selbst Magdalenen. Sein Sehnen galt einem Wesen, das er nicht besaß, noch jemals besitzen konnte; solch einem Wesen, das man ein Traumbild nennt.

Er fuhr daher wie ein aus tiefem Schlummer Aufgeschreckter in die Höh, als Lenchen voller Ungeduld ihm zurief: »Aber das klingt ja wie ein Sterbelied, Herr Joseph. Ich bin ganz traurig geworden von Ihrer Musik.«

»Kannst du denn auch traurig werden, Magdalene?« fragte Joseph, ach, nicht mit einem Bräutigamsklang.

»Ich nicht traurig? Ach, du lieber Heiland, wie habe ich geweint, als mein guter Vater starb. Nicht wahr, Mutterchen, wie hab ich geweint! Und wenn ich an ihn denke, da weine, ja, da weine ich noch.«

»Sonst niemals, Magdalene?«

»Nun, warum denn wohl sonst? Hab ich nicht alles, was mein Herz begehrt? Mein Mutterchen, die guten[282] Jungen und obendrein einen so herzallerliebsten Bräutigam, der mir alles zu Gefallen tut und heute abend gewiß auch noch ein lustiges Stückchen bläst.«

Ihre heitere Unschuld versöhnte ihn, und als sie immer dringender bat, widerstand er nicht länger und blies einen Ländler. Lenchen aber faßte einen der Brüder nach dem anderen und am Ende gar die gutmütige Mutter und hüpfte und drehte sich mit ihnen so lange in der kleinen Stube herum, bis alle fünf schwindelnd auf das Kanapee niedersanken. Joseph steckte seine Flöte ein und ging nach Hause; soviel sie ihn aber auch späterhin bitten mochte, vor seiner Braut blies er nicht wieder Flöte.

Nach einiger Zeit sagte er zu sich selbst: »Der heimliche Sinn der Musik ist meiner Magdalene verschlossen. Sie hat aber einen regen Geist, der, ohne daß sie's ahnet, nach Ausfüllung schmachtet. Lektüre wird das Mittel sein, das auf angenehme Weise ihre Bildung fördert und unsere Abende kürzt.« Er suchte unter den Büchern seiner seligen Mutter. Sein Blick fiel auf eines, das er fast am Vorabend ihres Todes gelesen – o, mit welchen Entzückungsschauern gelesen! – gekauft, verpackt und ihr gesendet hatte. Sie war schon tot, als es anlangte; das Buch lag noch unberührt; Josephs Hände zitterten, als er danach faßte. Aus der Überschrift dieses Kapitels weißt du, lieber Leser, daß es der ›Werther‹ war, in jenen ersten achtziger Jahren noch immer das Buch aller Seelen.

Wie auf Flügeln eilte er hinüber; seine Wangen waren hochgerötet. Mutter und Tochter bezeugten eine freudige Erwartung: »Nichts ging ihnen über eine hübsche Geschichte,« wie sie sagten, »zumal, wenn man sie nicht selber zu lesen brauchte.«[283]

Als Joseph just das Buch aufgeklappt hatte, klopfte es, und herein trat Vater Haller, der in einer häuslichen Angelegenheit den Rat der Witwe einzuholen kam und nun auf die dringende Einladung der beiden Frauen gern versprach, mit einem freundschaftlichen Warmbier und den ›Leiden des jungen Werther‹ bei ihnen den Abend über fürliebzunehmen.

So sehr sich Joseph auf die Vorlesung gefreut hatte, er hätte dieselbe für heute nun gern aufgegeben; er erlaubte sich sogar ein Gesellschaftsspiel, schwarzen Peter oder Rapuse in Vorschlag zu bringen; da der Vater aber sich entschieden für den ›Werther‹ erklärte, hob er seinen Vortrag an.

Anfänglich mit Unmut. Bald aber hatte er, wie neulich über dem Flötenspiel, alles um sich her vergessen und lebte in einer anderen Welt; er war nicht mehr der Joseph, dessen Braut an seiner Seite spann; er war der elende Wilhelm, der sich in Glut um eines anderen Mädchen verzehrte, er rang die Hände, er zitterte, er schluchzte laut.

»Halten Sie ein, Herr Sohn!« unterbrach ihn die gute Mutter; »um Gottes willen halten Sie ein! Die Geschichte greift Sie allzusehr an.«

»Das dumme Zeug greift Sie an, Herr Joseph?« fragte Lenchen, hinter ihrem Spinnrad hell auflachend. »Ach, das ist ja wohl ganz und gar unmöglich. Aber meinetwegen, lassen Sie's gut sein und uns lieber ein bißchen diskurieren. Solche Hansnarren wie diesen Werther kann ich nicht ausstehen.«

Joseph schlug das Buch zu und maß seine Braut mit einem Blick, vor welchem sein Vater erschreckte. So wenig ich annehmen kann, daß mein Urgroßvater mehr als sein künftiges Schwiegertöchterchen Geschmack an dem unglücklichen[284] Werther gefunden hat, so versuchte er um Josephs willen es doch mit einem einlenkenden Wort: »Mit dem jungen Menschen, dessen Geschichte so natürlich klingt, daß man sie für erlebt halten möchte und auch von dir, mein Sohn, wie ein Erlebnis vorgetragen worden ist, mit dem armen, jungen Menschen hat es gewiß kein gutes Ende genommen,« sagte David. »Du solltest derlei Bücher meiden, Joseph. Man lernt nicht aus ihnen, was man im Leben braucht.«

»Man lernt das Schöne lieben,« entgegnete Joseph.

»Aber nicht das Rechte tun.«

»Und was ist das Rechte, Vater?«

»Hier, wie überall, die Treue ehren und die Versuchung fliehen. Des Jünglings Leidenschaft kann das liebenswürdige Mädchen in die Irre führen.«

»Wenn das Mädchen dieses Jünglings wert wäre, müßte sie seine Leidenschaft erwidern und – –«

»Ihr heiliges Verlöbnis brechen? Joseph, Joseph!«

»Ach lieber gar!« rief Lenchen dazwischen; »der brave Albert hat Lotten gewiß zehnmal besser gefallen als dieser trübselige Lehnerich. Was wird denn am Ende aus dem langweiligen Menschen?«

»Er stirbt.«

»Er stirbt? Ach lieber gar! An was denn?«

»An seiner Liebe. Er schießt sich tot.«

»Ach, der gottlose Mensch! Nein, so was Schlechtes hätte ich ihm gar nicht einmal zugetraut. Von dem will ich nun kein Wort mehr wissen; den wollen wir in der Hölle braten lassen und noch eine Partie schwarzen Peter spielen.«

Joseph war so auffällig verstimmt, daß der Vater den[285] schwarzen Peter ausschlug und mit dem Sohne aufbrach. Auf dem Wege sagte Joseph:

»Magdalene ist sehr unreif; ohne jedes höhere Streben. Von wahrer Liebe hat sie keine Ahnung. Wir werden uns niemals verstehen lernen.«

»Joseph, Joseph!« entgegnete der Vater, eine bittere Wallung niederkämpfend, »lerne erst du dieses reine Kinderherz verstehen und verschone es und dich selber künftighin mit einem Zeitvertreib, der alle Zucht und Gottesordnung auf den Kopf stellt.«

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 279-286.
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