Dreizehntes Kapitel

Lenchen im Trauerspiel

[286] Ich habe nicht umhin gekonnt, mehrere Kapitel hindurch meinen Großvater zum Helden von meines Urgroßvaters Geschichte zu machen und diesen vortrefflichen Mann ungebührlich in den Hintergrund treten zu lassen. Erleben wir es denn aber nicht alle Tage in Palästen und Hütten, wie das Schicksal von Söhnen und Töchtern allmählich zu dem der Eltern wird und diese guten Seelen wenig Freuden oder Leiden mehr erfahren als die ihrer Kinder und Kindeskinder? Nur die, welche wir in keinem Palast und auch in keiner eignen Hütte zu suchen haben, die armen Allerärmsten unter uns, sie lösen ihren Nachwuchs halbschürig wie die Brut des Feldes von sich ab und bleiben die Helden ihrer eignen Geschichte bis zum Ende am Bettelstab oder Altenspittel. Gottlob! zu diesen armen Allerärmsten gehörte mein Urgroßvater mit seinem treuen Vaterherzen und seinem reichen Vaterhause nicht; und nur noch ein einziges Kapitel Sohnesheldentum Geduld, so werden wir den vortrefflichen[286] Mann wieder gebührentlich in den Vordergrund treten sehen.

Joseph ging nun nicht mehr alle Abende zu seiner Braut. Der ›Werther‹ hatte seine Bücherlust wieder angefacht; er ließ sich von Leipzig das Neueste kommen. Eine reiche Auswahl, buntfarbig und heißsprudelnd wie in deutschen Landen noch keine gesprudelt hatte; Tag und Nacht saß er über den herrlichen Schätzen wie gebannt; die Poesie weckte auch die Schwester Musik, und diese beiden Gefährtinnen brachten ihn sogar, glimpflicher als sein Vater gefürchtet hatte, über die schmerzlichsten Erinnerungstage hinweg, denn es wurde jetzt jährig, daß seine Mutter starb.

Kein Wunder daher, daß auch die Lebenden über Ritter-, Räuber- und anderweitigen Dichtergestalten ein wenig verabsäumt wurden. Zum Frühling, meinte er, wenn er mit der Geliebten im Freien sein, Wald und Flur mit ihr allein durchstreifen könne, dann werde ihm in ihrer Nähe wohler werden als jetzt in der engen, heißen Stube, neben der geschäftigen Mutter und den lärmenden Knaben.

Aber der Frühling kam, und die Spaziergänge blieben aus. Die Witwe Kellers, des Sonderlings, war eine vorurteilslose Frau und Mutter; sie hielt ihrem künftigen Eidam Unerhörtes zugute: den täglichen Besuch, das Du und manche andere Vertraulichkeit, die in ihrem eignen Brautstande nicht stattgefunden hatte; ihre Tochter aber mit dem jungen Manne allein in der Irre herumschweifen zu lassen, nein, das hätte sie doch nicht zugestehn dürfen, selber wenn ihr Lenchen ein Verlangen danach gespürt. Das liebe, verständige Kind sah jedoch nicht im entferntesten ein, was für ein Vergnügen es gewähren könne, so sonder Zweck noch Ziel querfeldein zu laufen, sich nur die[287] Kleider staubig zu machen und die Schuhe auszutreten. Ja, dann und wann einmal aufs Schießhaus oder in eine Schenke über Land, wo man Kaffee trinkt und gute Freunde findet, das wär ein anders Ding; aber mutterseelenallein in die freie Natur, nein, das war nicht nach Lenchens Geschmack.

So gewöhnte Joseph sich denn wieder an seine vorjährigen Streifereien, nur daß er heuer von seinen lieben Büchern begleitet war, und zu seiner Braut kam er nur noch selten. Sein Vater war verstimmt, und als er eines Tages Lenchen und ihre Mutter in Tränen schwimmend fand, weil sie den Treulosen länger als eine Woche hindurch nicht mit Augen gesehen hatten, fühlte er sich erbittert. Ja, zum ersten Male im Leben fühlte David Haller sich gegen einen Menschen erbittert, und dieser Mensch war sein Sohn. Er sparte keinen Vorwurf, forderte mit Strenge einen tatkräftigen Entschluß und drang auf einen festen Termin für seine Verheiratung.

Joseph hatte sich noch niemals unsanft angefaßt, nie einem Widerstande gegenüber gesehen; und nun in unbilliger, engherzigster Weise wie ein Schulbube gescholten zu werden, nur weil er gerne las und spazieren ging? Gab es denn genügsamere Neigungen oder unschuldigere Freuden? Er zeigte sich verhärtet, ja verstockt und erklärte endlich kurz und barsch, daß er sich noch zu jung fühle, sich schon jetzt fürs Leben zu binden, auch nicht nötig zu haben glaube, sich mit widerstrebender Arbeit abzuquälen, da das Erbteil seiner seligen Mutter für seine mäßigen Bedürfnisse ausreiche.

Nach dieser heftigen Begegnung sah der Vater ihn nur noch am Mittagstisch und auch da nicht regelmäßig. Davids[288] Blut kochte, seine Galle schwoll bei jedem Anblick, bei jedem Gedanken an den Ungeratenen; und doch mußte er an sich halten, mußte ihn schonen um seiner seligen Mutter willen und gegen seine Braut ihn sogar entschuldigen. Seine – des Vaters nämlich, nicht des Sohnes – Scham und Verlegenheit den beiden betrübten Frauen gegenüber wuchs von Tage zu Tage. Er sann und sann auf kleine Linderungsmittel; besuchte sie niemals ohne ein Naschwerk oder Geschenk für das Töchterchen; berichtete haarklein über die Fortschritte, welche die Einrichtung für das junge Paar in seinem Hause machte, und freute sich dann immer, wenn er das liebe Gesicht sich erhellen sah und das der Mutter mit dem ihren wie Bild und Spiegelbild.

Eines Nachmittags jedoch wollten keine Beschwichtigungsmittel anschlagen, weder das begütigende Wort, noch die schön gestickten Manschetten und gebrannten Mandeln, die er in seiner Tasche mitgebracht; ja, die Nachricht, daß der nankingfarbige, rotgeblümte Kattun, den der Vater zum Möbelbezug für die künftige Wohnstube aus Leipzig verschrieben hatte, angelangt und bereits dem Sattler übergeben sei, machte das Leidwesen nur ärger. Die Mutter weinte still vor sich hin, und Lenchen schluchzte laut. Ach, wer werde denn den Genuß von all dem schönen Hausrat der seligen Frau Mutter haben, den der gütige Herr Vater für das junge Paar aufpolstern und frisch polieren ließ, und manches neue Stück obendrein? Lenchen, das arme Lenchen, ach, gewißlich nicht! Nicht nur, daß Herr Joseph seit Wochen nicht mehr nach seiner Braut gefragt hatte, er grüßte nicht einmal mehr nach ihrem Fenster, wenn er aus dem Hause ging; und die freie Natur war es auch nicht mehr allein, in welcher er seine Zeit hinbringe, denn er sitze[289] jeden Abend in der Komödie, die seit zwei Wochen so wunderschön im ›Scheffel‹ gespielt werde, und zu seiner Braut hatte er nicht ein einziges Mal gesagt: »Komm mit!« Es sei ja offenbar, daß er sie im Stiche lassen, daß er Schimpf und Schande bringen werde über eine arme Familie, die ihm nichts, auch gar nichts zuleide, aber alles, was sie gewußt, zuliebe getan hatte.

Mein Urgroßvater saß während dieses Klageliedes wie auf Kohlen. Es war ihm klar, daß ein letztentscheidender Kampf mit dem Sohne nicht verzögert werden dürfe, und sein innerstes Wesen drängte zu diesem Kampfe; zuvörderst aber galt es, die beiden jammernden Frauen stillezumachen, und Lenchen selber hatte ihm das Mittel dazu an die Hand gegeben.

»Ich bin eigentlich gekommen,« so hob er nach einem kleinen Räuspern an, »die Frau Schwester« – (seit der Verlobung ihrer Kinder nannten sich David und Christiane Herr Bruder und Frau Schwester) – »die Frau Schwester und Jungfer Lenchen einzuladen, mich heute abend in das Theater zu begleiten. Es soll ein ausnehmend lehrreiches Stück gegeben werden, wie ich just von der Frau Postmeisterin gehört habe, welche den Theaterbesuch keinen Abend versäumen.«

Ja, das wirkte; wirkte so erhellend wie ein Sonnenstrahl am Novemberhimmel. Eine Komödie! Die beiden Frauen konnten sich gar keine Vorstellung von einem dergleichen Wesen machen, das Komödie hieß; sie hatten noch nie eine Komödie gesehen, nicht einmal eine Puppenkomödie; nur die Mordtatsbilder am Jahrmarkt; es mußte etwas Wundervolles sein, so eine Komödie. Mein Urgroßvater besaß natürlich mehr Erfahrung in diesem Kunstgebiet. Er hatte[290] während seiner Leipziger Meßreisen wiederholentlich und nicht ohne Vergnügen das Theater besucht, vornehmlich wenn ein heiteres Singspiel gegeben ward. Das ›Donauweibchen‹ war sein Lieblingsstück, und ich erinnere mich noch, wie fröhlich ihn meine Mutter machte, wenn sie ihm vorsang: »In meinem Schlößchen ist's gar fein« oder:


»Ich bin vom Kopf bis auf die Zeh

Die kleine muntre Salome.«


In seiner Heimatstadt aber, wo alle Welt ihn kannte, würde sein großbürgerliches Anstandsgefühl sich dagegen gesträubt haben, sich durch die Faxen verlaufenen Gesindels, wofür Komödianten, zumal bei wandernden Truppen, doch ohne Ausnahme galten, unterhalten zu lassen.

Indessen, wir wissen es ja schon, einer Pflicht zuliebe wußte David Haller nicht nur seine Neigungen, sondern, was schwerer ist, seine Abneigungen zu überwinden; und so begab er sich gegen Abend, obgleich es ihm in Kopf und Herzen von Vorhaben und Vorsätzen rumorte, an jedem Arme eines seiner Frauenzimmer, zur Aufführung in die Scheune des Goldenen Scheffels, die in ihrer leeren Zeit vor der Ernte für den gegenwärtigen Zweck kunstmäßig täuschend in einen Saal verwandelt worden war. Der Räumlichkeit hatte mein Urgroßvater demnach sich nicht zu schämen, und auch an den Kunstgenuß durften hohe Ansprüche erhoben werden, denn es war ja die Hofgesellschaft einer unfernen Residenz, die während des Sommers in einem Badeorte gespielt hatte und vor Eintritt der Wintersaison so bei Wege unsere Stadt beehrte, nicht zum Nachteil ihrer Kasse, heute abend wenigstens. Kein Apfel konnte mehr auf die Erde, als die Meinen die für sie belegten Plätze[291] auf der vordersten Reihe einnahmen, und noch immer rollten die Equipagen der adligen Rittergutsbesitzer der Umgegend in den Hof; die Musik mußte ihre Bänke dem Publikum überlassen, alles drängte sich, ein Stück zu sehen, das, wie die Zeitungen verkündet hatten, in ganz Deutschland mit allen Schauern des Unerhörten aufgenommen worden war, und in diesem Stück eine Liebhaberin als Gast, die als ein Wunder von Genie und Schönheit gepriesen wurde. Das Stück, von einem jungen Feldscher, namens Schiller, abgefaßt, hieß ›Die Räuber‹, und die schöne Liebhaberin – nein, deren Namen behalte ich für mich.

Es ist mir sehr zweifelhaft, daß der Held des Trauerspiels und seine Kommilitonen in höherem Maße als an jenem Winterabend der unglückliche Werther nach meines Urgroßvaters Geschmack gewesen sein würden. Aber mein Urgroßvater blickte gar nicht auf die edlen und unedlen Missetäter vor den Kulissen; er hörte kein Wort von ihren packenden Reden, und selber das lautschluchzende Interesse seiner Nachbarinnen erweckte ihm keines. Seine Augen verfolgten nur immer mit Entsetzen den jungen Mann, den sie an der entgegengesetzten Seite des Saales nur allzu deutlich erkannt hatten. Ganz vorn in die Ecke gedrückt, die Arme übereinander gekreuzt, eine Fieberröte auf den Wangen, unverwendet auf die Bühne starrend, so stand Joseph unbeweglich, und nur wenn Amalia, die hohe, herrliche Amalia, mit ihrem wildfliegenden Haar und losen Busentuch seines Vaters Augen ein Greuel, in die Szene trat, wurde er Feuer und Flamme, klatschte wie ein Besessener in die Hände und schrie »Bravo!« länger und lauter als irgendein Junker im Saale. Sooft aber der Vorhang gefallen war, öffnete er die kleine Tapetentür,[292] die dicht an seiner Seite auf die Bühne führte, verschwand hinter derselben und kam erst wieder zum Vorschein, wenn ein neuer Akt begann. Wo ging er hin? Was machte er hinter den Kulissen, kannte er das Komödiantenvolk? Oder gar – –? Der Vater konnte den Gedanken nicht ausdenken, das Herz im Leibe wendete sich ihm um. Er hätte den Sohn bei den Haaren zurückziehn, mit ihm dem wüsten Spektakel entfliehen mögen und durfte doch kein Aufsehn erregen, mußte still sitzen und tun, als wär er mit Blindheit geschlagen.

Er hatte derartig Platz genommen, daß sein breiter Rücken den beiden Frauen als Schirm gegen die herzbrechende Entdeckung dienen mußte, hätte diese Fürsorge aber sparen dürfen, denn Lenchen und ihre Mutter waren, während der Vorhang offen war, dermaßen mit den Augen und, wenn er gefallen, dermaßen mit den Zungen bei den Gebrüdern Moor, die so ganz anders waren, als man sich regierende Grafensöhne vorgestellt hatte, daß ein Bürgerssohn Joseph Haller weder im Saale noch auf der Welt für sie existierte.

In der höchsten Aufregung, entschlossen zu einem Strafgericht, langte David in seinem Hause an. Sein Sohn war noch nicht zurückgekehrt. Er legte sich nicht und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Von Stunde zu Stunde trat er in die Kammer des Hausmanns, um nach Joseph zu fragen. Allemal vergebens. Er erfuhr auf diese Weise, daß der junge Herr schon wochenlang immer erst gegen Morgen heimzukommen, dann aber bis gegen Mittag zu schlafen pflege. Welch grausamere Entdeckung hätte ein Vater, wie dieser, machen können? Sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Der Morgen kam, aber Joseph auch am Morgen nicht. Und wie es Unheilstage gibt, an[293] denen sich alles gegen uns verschworen zu haben scheint, so wurde dem aufgebrachten Vater auf Schritt und Tritt Öl in die Flammen gegossen. Es kam der Barbier, es kam der Friseur; es kam die Frau Postmeisterin und machte ein Ständerchen vor der Ladentür, an welcher David Haller ungeduldig nach seinem Sohne ausschaute, es kamen noch andere Kunden sei nes Tuchgeschäfts. Alle waren voll von der gestrigen Aufführung. Und heute werde sie wiederholt; aber nicht im ›Scheffel‹, sondern auf dem Gute eines reichen Barons, der nach einer lustig verzechten Nacht die gesamte Gesellschaft hinaus auf sein Schloß habe fahren lassen. Die flottesten Junker der Umgegend mitten darunter. Und nicht Junker allein, auch ein gewisser Jemand, ein Stadtkind, solle sich dem Zuge angeschlossen haben und für Demoiselle N. N., die schöne Räuberbraut von gestern abend, lichterloh in Flammen stehn.

David Haller, ein Feind städtischer Klatschereien, hatte ähnliche Anspielungen in den jüngstverflossenen Tagen arglos außer acht gelassen; heute fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und gleich einem Flammenzeichen brannte das öffentliche Ärgernis in sein Vaterherz. Hier tat rasche, gewaltsame Hülfe not.

Die Zeit drängte; es war Freitag; spätestens übermorgen war er genötigt, zum Abschluß eines Gutskaufs, der kühnsten und stolzesten Spekulation seines bisherigen Geschäftslebens, eine Reise anzutreten, die ihn wohl eine Woche hindurch vom Hause fernhalten konnte. Er warf sich vor, daß diese Angelegenheit seine Aufmerksamkeit von des Sohnes lästerlichem Treiben abgelenkt habe. Was geschehen sollte, mußte heute und morgen geschehen. Das Nächstliegende war Josephs Entfernung während des nur noch kurzen städtischen[294] Aufenthalts der Komödianten. Joseph sollte den Vater auf der Reise begleiten.

Der Tag verging unter beschleunigenden Anordnungen für den Hausstand des jungen Paars. Joseph kam nicht, er kam auch nicht während der Nacht. So blieb denn keine Wahl als Handeln auf eigne Hand kraft der väterlichen Autorität.

David Haller ging zum Superintendenten, seinem vertrauten Seelsorger und Freund, entlud vor ihm sein schweres Herz und fand des würdigen alten Herrn vollständige Zustimmung zu seinem Rettungsplan. Morgen, am Sonntag, sollte Josephs und Magdalenens erstes Aufgebot von der Kanzel verkündet werden; das dritte, mit dem zweiten vereint, acht Tage später erfolgen; der Vater selber wollte die Erlaubnis zu diesem abkürzenden Verfahren auf der Durchreise bei dem geistlichen Konsistorium in Leipzig erwirken. Einer stillen Trauung unmittelbar nach der Heimkehr stand auf diese Weise kein Hindernis im Wege; die Flitterwochen, nach Belieben ausgedehnt, würden auf dem neuerworbenen Gute zugebracht werden und bei der Heimkehr der jungen Eheleute, will's Gott! Gras über den ärgerlichen Anstoß gewachsen sein.

Erst nach vollbrachter Abmachung mit dem geistlichen Freunde eilte David zu der Witwe und deren Tochter, um deren Zustimmung einzuholen. Der Vater fühlte es selber am tiefsten, welch eine peinliche Neuerung in der Plötzlichkeit und Heimlichkeit dieser Präliminarien lag, in des Bräutigams Entfernung unmittelbar vor dem feierlichen Akt und der des jungen Paares nach demselben; auch das Opfer einer großen Hochzeit mochte Lenchen schwer genug fallen; wie oft hatte sie sich dieselbe stattlich und vergnüglich ausgemalt![295] Bei alledem aber dankten Mutter und Tochter meinem Urgroßvater mit Freudentränen, sie nannten ihn den Retter ihrer Ehre und ihres Glücks. Die schwere Frage blieb nur, ob Meister Liebezeit das Hochzeitkleid, dessen Stoff Vater Haller bereits auf der Ostermessen eingekauft hatte – es war von maigrüner Farbe, Davids Leibcouleur –, in den acht Tagen fertigbringen werde.

Spät am Abend kehrte der Vater in sein Haus zurück. Joseph war noch immer nicht heim, kam auch nicht in der Nacht, nicht am frühen Morgen. Nie in seinem Leben hatte David Haller solchen tobenden Aufruhr in sich empfunden als in dieser Nacht, selber in jener nicht, wo er, es war jetzt fast jährig, mit allen Ängsten um das Leben des einzigen Kindes rang, und nicht in der darauffolgenden, in welcher er einen Traum von Jugendglück dem Jugendglück des Sohnes opferte. Er versuchte es nicht einmal, ein Auge zu schließen, ging seit einundzwanzig Jahren zum ersten Male morgens nicht in die Metten und seit Sophiens Tode nicht zu ihrem Grabe; ja, zum ersten Male stieg in ihm der Vorwurf auf, daß sie, Sophie, nicht bloß er selbst, schuld an des Sohnes Entartung trage.

Er hatte die äußerste Stunde zur Reise herankommen lassen. Sein Fuhrwerk stand seit dem Morgengrauen angeschirrt. Durfte er sich entfernen und Joseph in seinem Verderben zurücklassen? Sollte er den anberaumten Termin versäumen, den so heiß erstrebten Besitz aufgeben? Das schöne Gut einem Mitbewerber zuschlagen lassen? So schwankte er hin und her, und schon läuteten die Glocken zur Kirche und zum ersten Aufgebot, schon war er im Begriffe, auch dieses letzte Opfer zu bringen und auf die Reise zu verzichten – als Joseph in das Haus trat.[296]

Übernächtig erschöpft, wollte er an dem Vater vorüber und die Treppe hinauf in sein Zimmer schlüpfen. Der aber packte seinen Arm, zog ihn in die untere Stube, schloß die Tür hinter sich ab und – und was hier zwischen Vater und Sohn vorgegangen ist, das ist als Geheimnis von beiden in die Grube mitgenommen worden. Ich weiß nur, daß der Sohn anscheinend ruhig, aber noch fahler als vorhin, ja einer Leiche gleich, hinauf in das Zimmer seiner Mutter wankte; der Vater hochrot, flammenden Blicks, mit gewaltsam kämpfender Brust, so wie kein menschliches Auge vorher oder nachher ihn gesehn hat, ohne Wort noch Gruß für seine in der Torfahrt versammelten Leute, in den Wagen gesprungen und fortgefahren ist.

Sonnabend nacht kehrte er heim. Das Geschäft war nach Wunsch zu Ende geführt, ein reicher Zuwachs an Ansehn und Wohlstand ihm geglückt, mein Urgroßvater war Rittergutsbesitzer geworden. Doch stand nichts von Freude in seinen Zügen geschrieben, und nur das Wort: »Mein Sohn?« entrang sich seinen angstvoll zitternden Lippen. Die Antwort lautete, daß der junge Herr am nämlichen Tage wie der alte das Haus verlassen habe und bis heute nicht zurückgekehrt sei.

Halb besinnungslos taumelt der Vater in sein Zimmer; ein Brief von des Leipziger Oheims Hand fällt in seine Augen; seine Glieder fliegen, indem er ihn erbricht und nach einer Inlage faßt, die Josephs Schriftzüge trägt und vom Tage der Abreise noch aus seinem Hause datiert ist.

»Vor Ihnen,« – so liest der Vater mit flimmernden Augen, – »vor Ihnen, dem nächsten Verwandten meiner unvergeßlichen Mutter, meinem eignen väterlichen Freunde, rechtfertige ich einen Entschluß, den nur der verzweifelnde[297] Kampf um die höchsten Lebensgüter als äußerste Notwehr zu fassen vermag. Der einzige Sohn verläßt das Haus seines Vaters, seiner Mutter Grab, eine Braut am Altar, Besitz und Heimat für immer; er irrt in die Fremde, weil er – weil er, wenn er bliebe, wie in einem vorzeitigen Grabe ersticken müßte; weil es eine Stimme gibt im Menschenherzen, die lauter fordert als die des Blutes und der sogenannten Pflicht. Sagen Sie meinem Vater ein ewiges Lebewohl. Er konnte nicht anders, aber ich konnte es auch nicht. Möge er mich als einen Gestorbenen betrachten und sich unter Fremden einen Sohn suchen, der nach seinem Gesetz und nach seinem Rechte zu handeln versteht. Alles, was er in seiner Umgebung für das Meine halten möchte, sei sein. Verfüge er darüber nach seinem Ermessen. Mir bleibe nichts als die göttliche Freiheit, das Schöne zu lieben und ihm zu dienen mit jeder Lebenskraft. Wollen Sie mir eine letzte Wohltat erweisen, so schreiben Sie mir jedes Jahr am Geburtstage meiner seligen Mutter, ob die Rosen auf ihrem Grabe blühn und ob mein Vater lebt und glücklich ist. Ich werde Ihnen regelmäßig den Ortsnamen bekannt machen, nach welchem Sie unter dem Namen Freihold poste restante Ihre Briefe zu adressieren haben.«

Diese Abschiedsworte klangen David Haller wie ein Todesurtel seines Sohns und seiner selbst. Ja, hätte Gott, der Herr, durch einen Strahl vom Himmel an seiner Seite das einzige Kind zerschmettert, der Schlag würde ihn nicht so harsch getroffen haben. Aber Ehre und Treue, Zucht und Tugend, alles was David Haller höher achtete als die vergängliche Menschenhülle, aber Gottes Ordnung ihn mit Füßen treten sehen, die Liebe seines Vaters, das Glück seiner Braut, seines Hauses Ehre opfern sehen, kalten[298] Herzens opfern der Sünde, das war härter, härter als der Tod. Sein Sohn ein Landstreicher, sein Sohn ein Komödiant, sein Sohn in den Netzen eines buhlerischen Weibes! – O, niemals hat ein Vater bitterlicher um ein Kind gelitten als David Haller in dieser jammervollen Nacht.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 286-299.
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