Fünftes Kapitel

Lebewohl, liebes Christelchen!

[219] Wie der junge Mann diese Nacht hingebracht hat, brauche ich keinem meiner Leser zu beschreiben. Wer hätte nicht einen ersten, goldenen Traum verschwinden, oder gar einen langen, heißen Wunsch zu Grabe tragen sehen? Aber diese Wolke, welche die Erstlingsblüte seines Herzens überschwemmte, war sie segenverheißend oder niederschmetternd für sein Gemüt? Er konnte es nicht entziffern, die kalte Flut war allzu jählings über ihn losgebrochen. Die ganze Nacht hindurch saß er regungslos am Fenster seines Kämmerchens, nahm von Zeit zu Zeit einen Anlauf, sich seine Lage klarzumachen, und konnte doch niemals zum reinen Abschluß kommen. Scheute er sich, so früh seine Freiheit aufzugeben, ein Mann zu werden, ehe er ein Jüngling gewesen, und ein ernstes, gesetztes Leben zu führen vor der Reifezeit? – O nein, er scheute sich nicht. Alle seine Vorstellungen waren die eines gesetzten, ernsthaften Mannes, und noch vor einer Stunde hatte er mit Jubel daran gedacht, sich seiner Freiheit zu entledigen. – Bangte ihm vor der Last der Pflichten, die er auf sich nehmen sollte? – O nein, ihm bangte nicht; hatte er doch im guten Vertrauen auf Gottes Hülfe vorhin so freudig ja gesagt, als der Vater die ernste Frage an[219] ihn richtete. War die erkorene Braut ihm zuwider? – Hier stockte er – aber nein, nein, beileibe nicht zuwider; er konnte nur nicht an sie denken; er fühlte nur immer von neuem den letzten Blick aus Christianens blauem Auge, den leisen Druck ihrer warmen, weichen Hand; er mußte nur immer wieder in der mondhellen Nacht seinen Kopf hinüber nach dem Fensterchen wenden, hinter welchem das liebe Kind seine Sternkönigsfreude verträumte. Ja, das war's, das war's! Darum zitterte er und schauderte er!

Und doch in wenigen Stunden sollte er sich erklären. Er sann auf Umwege, auf Vorbehalte. Er wollte dem Vater alles geloben, alles, nur nicht dieses eine, wollte sich Aufschub, Zeit zur Prüfung erbitten. Wenn er sich nun aber erinnerte, daß gerade dieses eine der Kern und Stern von seines Vaters Beruhigung war, wenn er sich vernünftigerweise eingestehen mußte, daß der Vater recht habe und eine wohlhabende Frau zur Einlösung seines Wortes notwendig sei; wenn er zurückdachte an jene qualvolle Nacht, wo ihm kein Opfer so groß schien als der Schmerz, seine kleinen Geschwister schutz- und hülflos in der Welt zu wissen; wenn des alten Mannes Todesahnung auch ihn beschlich, seine verfallende Gestalt mahnend ihm gegenübertrat, dann wurde er wieder unruhig, schwankend und ratlos. Sein Kopf glich einem Schattenspiel, in welchem die widersprechendsten Bilder sich drängten und scheuchten. Keines vermochte er zu halten, keines zu bannen, was sollte er tun?

Der Morgen graute. Er meinte, im Freien werde er klarer werden, und ging in den Garten, der sich terrassenartig hinter dem Hause den Schloßberg hinanzieht. Hier hatte er vor acht Tagen jenes erste Vergißmeinnicht gepflückt, das jetzt bei »Jesus meine Zuversicht« vertrocknete.[220] Heute blühten alle Frühlingsblumen frisch und bunt – ach, er hatte keine Lust eine Blume mehr zu pflücken!

Die Sonne stieg auf, ein tägliches Schauspiel für den fleißigen Jüngling. Ob er aber in diesem kurzen hehren Augenblicke schon oftmals etwas anderes empfunden hatte, als die Lust des Erwachens und das Verlangen, zu schaffen? Ich glaube es nicht. Heute sah er die Sonne aufgehen, nicht nur als den leuchtenden Tagesstern, heute sah er und fühlte Gottes Auge, das seine Welt überstrahlt, vor dessen Blick kein Hehl ist und ein jeglicher unsträflich wandeln soll.

Unsträflich wandeln, was heißt das? Davids Enkel, vielleicht schon seinem Sohne, würde es geheißen haben: Folge deiner Neigung, deinem Herzen; das ist Freiheit, das ist der Gottheit Wille. Für David hieß es: Halte Gottes Gebot; ehre Vater und Mutter, tue deine Pflicht.

Mit entblößtem Haupte und gefaltenen Händen blickte der junge Mann hinauf, bis die Sonne voll und klar am Himmel stand, und er zerdrückte die letzte Träne, als er langsam die Terrassen niederstieg. Ruhig und freundlich, nur etwas blässer als alle Tage, trat er an seines Vaters Bett, faßte seine Hand und sprach:

»Mein Vater, ich werde Ihren Willen tun, so wahr Gott mir helfe.«

»So wird der Segen deines Vaters dir Häuser bauen auf Erden und eine Hütte im Himmel,« erwiderte der alte Andreas.

Und noch an selbigem Morgen zog der alte Andreas das gestickte, rhabarberfarbige Sonntagshabit an und ging zu seinem guten Freunde, Meister Hans Adam Vogel, für seinen Sohn David um die Hand seiner Tochter Sophie anzuwerben, und da er ein redlicher Mann war, Meister[221] Andreas, so bat er seinen alten Freund, der Tochter in seinem Namen reinen Wein einzuschenken in betreff der schweren Obliegenheiten, die sie voraussichtlich mit ihrem Ja zu übernehmen haben werde.

Am andern Morgen erschien Meister Hans Adam Vogel im Hallerschen Hause gleichfalls im Sonntagshabit, aber von hechtblauer Farbe, und erklärte dem Mosjö Haller in Gegenwart seines Herrn Vaters, daß seine Tochter Sophie ihr feierliches Jawort gebe und daß es ihr heiliger Wille sei, ihrem künftigen Ehegatten eine treue Gehülfin zu werden in Anbetracht der Obliegenheiten, welche er seiner Familie gegenüber übernehme.

So war denn mein Urgroßvater ein Bräutigam und schon für den nächsten Johannistag, an welchem Tage er sein achtzehntes Jahr zurücklegte, seine Hochzeit anberaumt.

Vom nächsten Sonntage ab ging David Haller nicht mehr in den großen Morgengottesdienst, sondern früh um fünf in die Metten. Die ganze Woche hindurch war er mit doppeltem Eifer tätig; – was galt es in einem Hause nicht alles zu beschicken, in welchem binnen wenigen Wochen eine junge Frau ihren Einzug halten sollte! – Ja, es fällt mir schwer, von meinem frommen Ahnherrn zu berichten, was ihm in den Augen manches guten Christen, an dessen Achtung mir für ihn gelegen wäre, Eintrag tun wird; daß er nämlich selber an Sonn- und Festtagen nach den Metten sich keine Ruhe gönnte, sondern unermüdlich beschäftigt war, die Korrespondenz seines Vaters zu führen und seine Bücher in Ordnung zu bringen.

Er sah und hörte auf diese Weise keinen fremden Menschen mit Ausnahme des Sonntags abends bei seinem[222] Schwiegervater, wo er immer einen zahlreichen Kreis von Verwandten und guten Freunden versammelt fand, und es war auf diese Weise durchaus nichts Auffälliges, sondern ganz in der Ordnung, daß er am Hochzeitstage noch nicht ein Wort unter vier Augen mit seiner Braut geflüstert und ihr, auf Ehre! noch nicht einen einzigen Kuß gegeben hatte. Gleichermaßen war es der ganzen Stadt wohl begreiflich, daß die Jungfer Vogelin vor Freude über den schmucken, jungen Bräutigam wie ein Röschen aufzublühen begann, dahingegen der Mosjö Haller, im Drange seiner vielfältigen Anstrengungen, sichtbarlich blaß und mager wurde.

Der reiche Meister Vogel ließ es sich nicht nehmen, die Hochzeit großartig auszurichten; denn mit einer stillhäuslichen Trauung, wie sein Fiekchen sie im Sinne hatte, nein, mit solchem Verstoß gegen Verwandtschaft und Freundschaft fängt man einen gesegneten Ehestand nicht an. Drei Tage wurden für die Festlichkeiten festgesetzt, vom wohledlen Magistrat beide Rathaussäle zum Zweck von Schmaus und Tanz hochgeneigtest preisgegeben, eine Gesellschaft von mehr als hundert Personen aus Stadt und Umgegend eingeladen. Sogar ein Ratsherr aus Leipzig, ein reicher Lederhändler und Geschäftsfreund Meister Vogels, stellte sein Erscheinen in Aussicht und erschien wirklich.

An jenem hochwichtigen vierundzwanzigsten Junius stand der junge Bräutigam schon vor Tagesanbruch am Fenster seines Kämmerchens. Er wäre gern in den Garten gegangen und hätte wieder die Sonne aufsteigen sehen wie an seinem Verlobungstage. Aber er durfte nicht vom Platze weichen, denn er wartete auf den Friseur.[223]

Dieser vielgeplagte Mann hatte seit gestern mittag keinen freien Augenblick gehabt; er war ein Meister in seiner Kunst, und keiner wollte bei solcher Gelegenheit von einem geringeren bedient sein. So saßen denn manche der Gäste die halbe, ja die ganze Nacht hindurch aufrecht, ohne sich zu rühren, um das Kunstwerk auf ihren Häuptern nicht aus der Ordnung kommen zu lassen, und es ist mir nur lieb, daß der einsichtige Mann für meinen Urgroßvater eine Morgenstunde bestimmte, denn ein Hochzeitstag hat doch manche Strapaze, und ein paar Stunden nächtlicher Ruhe mögen dem jungen Bräutigam wohlgetan haben.

Jetzt blickte er hinaus auf den Markt, dessen abgebrannte Häuser zum großen Teil neu aufgerichtet standen und mit Gewinden von Kornblumen und Rosen geschmückt waren. Es war ja Johannistag heute; da hing in jedem Fenster, da lag auf jedem Grabe ein Kranz zu Ehren des Täufers. Regnete es in der Nacht oder fiel ein starker Tau und tropften am Morgen die Blumen, so hatte St. Johannes getauft, und es bedeutete Gedeihen für Haus und Stadt. Überhaupt ist Johanni ein Segenstag; was man an ihm unternimmt, gelingt; heilsame Kräuter, an dem Tage gepflückt, heilen kräftiger und schneller. Und Johanni war gleichzeitig David Hallers Geburts- und Hochzeitstag; wie hätten sein Leben und Ehestand nicht gesegnete sein und bleiben sollen!

Obendrein fiel dieser sein Hochzeitstag just auf einen Dienstag, das glücklichste Omen nach seines Vaters Meinung und Erfahrung. »Davidchen,« hatte er wohl zehnmal gesagt, »machst du einmal Hochzeit, laß es ja nur an einem Dienstage sein. Ich habe drei Ehefrauen begraben und mit einer jeden gelebt wie im Paradiese; aber ich[224] habe sie auch jedesmal an einem Dienstage heimgeführt.« Wäre Johanni auf einen Mittwoch oder Freitag gefallen, die Tage des Verrates und Todes unseres Herrn, Meister Andreas hätte den Segen des Täufers drangegeben und die Hochzeit seines Sohnes auf nächsten Dienstag verschoben, vorausgesetzt, daß hinter dem Datum kein Krebszeichen im Kalender stand.

Kurzum: alle Vorbedeutungen waren die günstigsten für meinen Urgroßvater, als er ein Viertel nach neun in die haushohe, gelbe, blumenbekränzte Gevatterkutsche, die einzige Staatskarosse des Städtchens, stieg, um seine Braut zur Kirche abzuholen. Es würde wohl keinenfalls schicklich für einen Bräutigam gewesen sein, sich allein in der Hochzeitskutsche mit seiner Braut zu unterhalten. Natürlich tat es mein Urgroßvater auch nicht. Aber wenn es sich nun auch ge schickt hätte, ja wenn es erforderlich gewesen wäre, was in aller Welt hätte er wohl sagen sollen? Die Situation war gar zu neu für ihn. Die Braut sprach selbstverständlich auch nicht; beide saßen stumm, mit niedergeschlagenen Augen nebeneinander, erst in der Kutsche, dann in der Sakristei, in welcher sie die sich nach und nach versammelnden Gäste erwarteten. Die Vornehmsten wurden im Brautwagen abgeholt, andere mit geringeren Vehikeln befördert, etliche in Sänften getragen; die jüngeren Männer gingen zu Fuß, und so dauerte es denn eine gute Weile, ehe der Zug sich ordnete.

Im Schiffe der Kirche, wie auf den Emporen, stand es Kopf bei Kopf; noch bei keiner Gelegenheit hatte man die Kirche so voll gesehen. Die Traurede war lang und erhebend. Selbst der Ratsherr aus Leipzig versicherte, selten entsprechendere Worte vernommen zu haben. Allgemeines[225] Aufsehen erregte insbesondere eine Stelle, welche der Herr Superintendent zum gerechten Ruhme des Brautpaares anbrachte. »Ihr schließt eueren Ehebund«, so lautete sie ungefähr, »aus Gott wohlgefälligen Gründen, nicht aus vergänglichem Gelüste schließt ihr ihn. Du, vielgeliebte Braut, achtest nicht auf Rang noch Reichtum und solche Schätze, welche Motten und Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen; und du, teuerster Bräutigam, fragst wenig nach Jugend und Schönheit des Leibes, oder solchen Gaben, die da schneller verwelken als Gras oder verblühen wie die Blume des Feldes« usw. usw.

Ja, das war treffend und schön ausgedrückt! Auch mag die ernste, an diesem Tage wieder sehr blaß aussehende Braut diesen geistlichen Ruhm wohl noch tiefer als alle anderen empfunden haben, denn die Frau Postmeisterin, welche ihr gegenübergestanden und sie aus purer Teilnahme nicht aus den Augen gelassen hat, will bemerkt haben, daß sie bei der Stelle von Jugend und Schönheit purpurrot geworden und mit der Hand nach dem Herzen gefahren sei.

Nach der Trauung fuhr man gleich auf das Rathaus, um vor der Tafel noch die Glückwünsche und Geschenke der Gastfreunde entgegenzunehmen. Die junge Frau wurde von allen Müttern und Töchtern auf das herzlichste umarmt und geküßt, auch von den verheirateten Männern, nur natürlich nicht von ihrem eignen. Derselbige war eben fertig mit allen Verbeugungen und Händedrücken an jung und alt und stand in einer der tiefen Fensternischen des Saales zagend und ungewiß, was nunmehro von ihm verlangt werden könne, als eine kleine, zierliche Gestalt, die ihren Glückwunsch noch nicht gestammelt hatte, ganz leise[226] auf ihn zugetrippelt kam. Christiane in ihrem schwarzen Abendmahlskleide!

David hatte während der gesamten Feierlichkeit seine Augen so wenig vom Boden erhoben, daß er sie heute zum ersten Male gewahr wurde, eigentlich zum ersten Male seit jenem glücklichen Sternkönigsabend. Er fühlte sein Herz zusammenbeben, ihm war zumute wie einem Verbrecher. Sie hatte wie alle anderen sagen wollen: »Gottes Segen zu Ihrem Ehebunde, Herr Haller!« Aber Tränen erstickten ihre Worte; sie reichte ihm nur stumm die Hand und hielt die andere vor ihre tropfenden Augen. Aber David verstand ihre Absicht, er drückte ihre Hand und flüsterte:

»Lebe wohl, liebes Christelchen!«

Und zwei große Tränen rannen über seine Wangen.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 219-227.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Geschichte meines Urgroßvaters
Die Geschichte meines Urgroßvaters

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Zwei späte Novellen der Autorin, die feststellte: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon