[269] Das Geheimnis ist enthüllt. Ihr wißt jetzt, meine Freunde, wer August Müllers Mutter gewesen ist und welches Verhältnis mir die Lippen band, als die Welt mich dafür genommen hat. Was weiter nach außen hin an mir und durch mich geschehen ist, liegt zutage, die Geschichte dürfte zu Ende sein.
Weil aber jede Geschichte eine Pointe haben soll, das heißt: weil jedes Schicksal nicht nach außen, sondern nach innen hin gipfelt, und weil, ist nur einmal der erste Strich getan, es ein besonderes Vergnügen gewährt, den Grundriß seines Lebensbaues vor lieben Menschen zu entfalten, so will ich den meinigen weiterführen von Stock zu Stock, bis zu der Spitze, die sich vor Euch enthüllen wird, nachdem Ihr den Richtspruch vernommen habt.
Die Schwäche, mit welcher ich jahrelang Dorothees Heimlichkeit geduldet und gewahrt, hatte mein Gewissen frei gelassen. Nun aber, da eine untilgbare Schuld gegen einen anderen daraus erwachsen war, drückte sie mich wie ein Alp. Es gab jetzt einen Menschen, dessen ehrenwehrten Namen ich nicht hören konnte, ohne zu erbleichen; einen, vor dem ich in der Erinnerung die Blicke niederschlug, den ich belügen oder in seinem innersten Heiligtum vernichten mußte, wenn er mir unter die Augen getreten wäre mit der Frage: »Handeltest du rechtschaffen und ehrenhaft gegen den Vertrauenden?« Die Dämonen des Lebens: Unruhe, Zweifel, Furcht und Scham, sie, die ich mehr gefürchtet hatte als Verlassenheit und Armut,[269] jetzt lernte ich sie kennen. Der Stolz der Unschuld war vernichtet, alle Sicherheit des Gefühls gebrochen, seitdem die Nachgiebigkeit gegen ein Gefühl mich so weit von meinem Grundwesen vertrieben hatte.
Von Dorothee hörte ich nichts. Ich hatte nicht erwartet, daß sie mir schriebe, und würde ihr nicht geantwortet haben. Ob sie mit dem Propst in Verbindung geblieben, mochte ich nicht wissen, bezweifelte es aber. Wir waren fertig miteinander.
Auch zu dem Propst hatte mein Verhältnis sich abgeschwächt, seitdem seine Schlaffheit, wie ich es schalt, mir eine Gewissensschuld aufgebürdet. Ich suchte ihn auf, sooft ich im Elternhause verweilte, unterhielt eine Art Zusammenhang zwischen ihm und seiner alten Gemeinde, folgte nicht ganz ohne Anteil seinen Bestrebungen in der Gegenwart; von unserem gemeinsamen Geheimnis aber war niemals die Rede.
Niemals jedoch, sooft ich ihn besuchte, unterließ er es, mir seinen besonderen Schützling vorzuführen und meine frühere Teilnahme für ihn wieder anzuregen, denn – und das war wohl der häßlichste Umschlag meiner Stimmung –, denn der Knabe, an dem ich mit so viel Wohlgefallen gehangen hatte, und der sich gleichmäßig schön und kraftvoll entwickelte, war seit jener Mitternacht, wo ich ihn hinter der Klosterpforte verschwinden sah, meinem Herzen ein Greuel. Ich erblickte in ihm nicht mehr das Ebenbild seines Vaters, der die Lust und das Leid meines kurzen Lenzes, nicht mehr das Schmerzenskind seiner Mutter, die meine einzige Gespielin gewesen war; er erinnerte mich nur noch an den Mann, der durch meine Mitschuld um das Glück betrogen wurde, das Pfand einer reinen[270] Liebe an sein Herz zu drücken. Ungerecht, wie ich war – auch gegen mich selbst –, grollte ich des Knaben stürmischer, schwer zu zähmender Natur; er wurde mir zum Wildling Muhme Justines, zu dem verlorenen Kinde der Sünde, und vergeblich suchte der alte Freund aufzuklären und zu entschuldigen. »Er lügt niemals, und er ist beherzt vor allen anderen,« sagte der Freund; ich aber sagte: »Er ist eine Range vor allen anderen,« und wenn August Müller zwanzig Jahre später erzählt hat, daß das Bild Fräulein Hardines sich ihm durch eine drastische Manipulation eingeprägt habe, so erinnere ich mich dieser Tatsache wahrscheinlich nur darum nicht, weil mir nicht einmal, sondern hundertmal zu solchem Korrektiv die Hände zuckten.
Alles war mir verleidet, alles vergällt, zumeist der Aufenthalt im Elternhause. Denn das Haus war die Stätte des Verrats, der mich mein Selbstgefühl gekostet hatte, und vor den ehrlichen Augen der Eltern, die nur durch meine Schuld Mitschuldige an demselben geworden waren, konnte ich nicht bestehen. Ich langweilte mich in dem ohne mich ausgefüllten häuslichen Getriebe, und der gesellschaftlichen Plattheit hatte ich mich in dem freien ländlichen Wesen meiner Reckenburg bis zum Widerwillen entwöhnt. Denn die Natur, auch in ihrer einfachsten Form, spricht immer neu und geistvoll zu einem, der nicht bloß eine beschauliche, sondern eine wirkende Stellung in ihrem Bereiche eingenommen hat.
Der Besuch in der Heimat verkürzte sich daher von Jahr zu Jahr; in den letzten bis auf wenige Tage. Meine Gegenwart in Reckenburg wurde immer unentbehrlicher; freilich auch immer undankbarer und gebundener. Alles stockte, allem drohte der Verfall unter der wahnsinnigen[271] Goldsucht der Greisin. Die bewährten Diener und Gehilfen versagten ihren Dienst; ich mußte kämpfen um jeden Taler, den ich aus den Erträgen den gierigen Händen vorenthielt, ja ich mußte zur Täuschung, zum offenbaren Betrug meine Zuflucht nehmen: heimlich Korn verkaufen, um die Arbeiter zu bezahlen, daß die Äcker nicht brach liegen blieben; heimlich Holz fällen lassen, um die Forstwärter zu besolden, daß das überhandnehmende Wild nicht Saaten und Schonungen vernichte.
Wenn ich diese dämonische Selbstzerstörung, die Entartung der trefflichsten Anlagen vor Augen sah, oder die von Geschlecht zu Geschlecht wachsende Verwilderung der Gemeinde, welche seit jenem Brande selber des schützenden Daches über dem Gotteshause entbehrte, wenn ich ihre Reden erhaschte von dem Beelzebub, dem das Gespenst im Goldturm seine Seele verschrieben habe, Reden, vor deren Logik die Gegenrede verhallte wie leerer Wind, da fragte ich mich oftmals mit höhnendem Grimm, warum nicht in jedem Tollhaus eine Station für Geiznarren errichtet sei? Und noch öfter kämpfte ich mit der Versuchung, eine gerichtliche Kuratel für meine unzurechnungsfähige Verwandtin zu beantragen.
Aber ich kämpfte sie nieder. Die Frau, die so kraftvoll gelebt hatte, um so kümmerlich zu versiechen, stand in ihrem zehnten Jahrzehnt, und nicht auf das Zeugnis hin der Letzten, die ihren Namen trug, sollte sie in den Registern ihres Landes als eine Törin verzeichnet stehen. Noch war ich stark genug, gegen die Verwüstung standzuhalten, bis ein zögernder Naturlauf die Verwalterin zur Herrin ihres heimatlichen Grundes machen oder sie für immer von demselben vertreiben mußte.[272]
Jahr um Jahr schlich dahin in diesem Zustande äußerlicher und innerlicher Latenz, wie der Arzt ein lähmendes, lastendes Siechtum nennt, und der Krise harrt, die seinen Patienten, sei es im Tode, sei es zu einem verjüngten Leben, befreit.
Und dieses heimlich lauernde Elend verspürte das einsame Mädchen in dem Waldwinkel von Reckenburg, mehr noch als an sich selber, an dem gesamten Wesen seiner vaterländischen Zeit. Mit dem geschärften Sinn eines unbeschäftigten Gemüts sah es, über die eigene Leere hinaus, die schwankenden Bewegungen von Schwäche zu Schuld, sah die Kraft seines Volkes, hier überschraubt, dort versumpfend, einer Katastrophe entgegenschleichen, die es zerreißen oder aufrütteln mußte zu einer erneuernden Tat.
Ich weiß, was Ihr sagen wollt, meine Freunde, oder mindestens, was Ihr sagen dürftet: seis um das lauernde Siechtum der deutschen Welt, wenngleich du auch darin vielleicht die nachträgliche Erfahrung oder etwa den Kontrast deines rohen Reckenburger Völkchens mit dem zarten Literaturfreunde im Kloster als Zeichen der Zeit deinem Spürsinne zugute geschrieben hast. Nun seis darum. Was aber das Pathos deiner persönlichen Latenz betrifft, Fräulein Ehrenhardine, das war wohl schwerlich ein anderer als der unbehagliche Zustand jedweden Jüngferchens, das allmählich aus den Zwanzigern in die Dreißig hinüberschreitet. Warum heiratest du nicht? Du warst nicht schön und lieblich, wie wir dir glauben wollen; aber du warst tüchtig und respektabel, und was mehr bedeutet, du warst voraussichtlich die Erbin des »grünen Röckleins« deiner Reckenburger Flur. So ein[273] Röcklein aber ist kleidsam auch ohne Venusgürtel. Fehlte es dir an Freiern oder spieltest du die Amazone?
Keines von beiden, meine jungen Querulanten. Fräulein Ehrenhardine war sattsam ernüchtert, um auch sonder Sehnsucht und Neigung eine verständige, anständige Heirat für ein besseres Korrektiv ihres Siechtums zu halten, als selber den Heimfall ihrer Reckenburg. Was aber die Schar ihrer Freiwerber anbelangt, oho! eine väterliche Schwadron hätte sie mit ihren Kavalieren füllen können. Alt und jung, bekannt und unbekannt, von fern und nah meldeten sie sich, durchdrungen von den Reizen und Tugenden der letzten Reckenburgerin. Sobald diese Letzte aber wahrheitsgemäß Reize und Tugenden als das einzige verbriefte Kunkellehn der Reckenburgs in Erwägung stellte, da sah sie jenen Zustand der Latenz sich plötzlich auch über die flott avancierte Ritterschaft verbreiten. Männiglich dämpfte sich die Leidenschaft zu einem rhythmischen Tempo gleich dem der Menuett in der choreographischen Schule Eberhards von Reckenburg: Cavaliers à droite, à gauche, en arrière! nicht einen ganzen Pas, kaum einen halben, und jederzeit mit tiefer Reverenz und graziösem Portebras, – doch so langatmig, wie das Leben in dem Goldturme der Reckenburg.
Als aber – um vorderhand mit dem matrimonialen Kapitel abzuschließen –, als aber jenes langatmige Leben endlich dennoch ausatmete und die Reize und Tugenden der letzten Reckenburgerin in dem grünen Röcklein ihrer Heimat strahlten, da wußte sie Besseres zu tun, als die Blöße eines harrenden Ritters unter seinen Falter zu verbergen. En arrière cavaliers! hieß es nun ihrerseits; en arrière au galop![274]
Und das Herz hat ihr nicht geklopft bei dieser Freierscheuche. Denn zu ihrem Glück oder Unglück hatte sie früh nach großen Maßen messen gelernt, und ein verführerischer Antinous, ein Charakter wie Mosjö Per-sé zählten nicht zu ihrer späteren Klientel.
Die Herbstereignisse von 1806 trieben mich eilends und voraussichtlich für längere Zeit in das Elternhaus zurück. Der Kurfürst hatte sich in letzter Stunde für den Krieg entschieden, und mein alter Vater mußte zum zweitenmal unter preußischem Banner zu Felde ziehen.
Die Mutter, deren Gesundheit sich seit jenen Trennungsjahren nicht wieder erholt hatte, brach bei diesem zweiten Abschied ohne Widerstand zusammen. Heute ahnte sie den Todesstreich, den sie damals nur gefürchtet hatte, und als der ehrliche Purzel seinen alten Trostspruch wiederholte: »Gnädige Frau, es passiert ihm nichts, und wenn ihm doch was passiert, da komme ich gleich und melde Post,« da versuchte sie kein Lächeln, und ihr starres Auge sagte: »Ich weiß, daß du kommst.«
Ich teilte diese apprehensive Stimmung nicht. Die Kampagnen Napoleons waren nicht von der Dauer der Rheinfeldzüge; die gegenwärtige spielte sich voraussichtlich in unserer Nähe ab, und warum sollte man von vornherein an Gottes Schutz verzweifeln, wenn man denselben schon einmal mit so viel Dank empfunden hatte? Ich hoffte, den teuren Mann wiederzusehen, bald wiederzusehen.
Desto unbezwinglicher war mein düsteres Vorgefühl des allgemeinen Loses. Wie einsame Hirten oder Jäger Wolken- und Sternenlauf verstehen lernen, so, ich sagte es schon, hatte in meiner geistigen Vereinzelung ich mich gewöhnt, die Blicke aufmerksam auf den umzogenen Horizont[275] unseres Zeitwesens zu richten, und es waren drohende Wetter, die ich aufsteigen sah. Nun kam ich heim. Unser Städtchen glich einem preußischen Feldlager. Der größte Teil der Armee, von der ich Bruchstücke schon während der vorjährigen Mobilmachung hatte kennen lernen, zog durch unsere Straßen, dem unfernen Hauptquartier entgegen. Mit natürlichem Scharfblick für alles Praktische und als Soldatenkind mit manchen militärischen Bedürfnisfragen vertraut, mußten mir während dieser Eindrücke Bedenken aufsteigen, welche die Folgezeit nur allzu deutlich gerechtfertigt hat.
Mehr aber als diese aktuellen Anschauungen war es eine nachschleichende Erinnerung, welche sich unheilweissagend zwischen den bunten Wechsel drängte. Ich sah und hörte die cavalière Laune unter den Epigonen aus Friedrichs Heldenschule, die einzige Stimmung, welche öffentlich zur Schau getragen ward und welche die weniger heißblütigen sächsischen Bundesgenossen häufig genug verletzte; – nun, man konnte sie belächeln. Ich wechselte, in flüchtigem Begegnen, ein Wort mit dem heldenmütigen Prinzen, der mich, wenn auch mit genialischerem Gepräge, so lebhaft an den Betrauerten von Valmy erinnerte; ich verneigte mich vor der Huldgestalt der Königin und las die stolze siegerische Zuversicht in dem schönsten Frauenauge: – nun, jenes Wort und dieser Blick hätten das Vertrauen beleben dürfen.
Aber ich sah auch an der Spitze der Armee wieder den halbschlüssigen Feldherrn von Zweiundneunzig, wo Friedrichs Ruhmesfahne sich zu senken begann; heute ein Greis, von Greisen umgeben, und gegenüber nicht einer Rotte von Sansculotten, sondern einer siegestrunkenen Armee[276] unter einem Kaiser Napoleon. Und jener Autorität der Erinnerung sah ich wieder einen König von Preußen freiwillig unterstellt, einen nüchternen, schüchternen Herrn, in dessen ernsten Augen – von allen allein! – ein Spüren der Katastrophe zu lesen war, ein Ahnen aller Leiden der Zeit, die er zu spät verstehen lernte.
Die Armee hatte sich seit fast zwei Wochen westwärts den Fluß entlang gezogen. In der Stadt war keine Besatzung zurückgeblieben, eine bängliche Stille dem lauten Treiben gefolgt: die Stille vor dem Sturm. Von Stunde zu Stunde erwartete man die Nachricht eines Zusammenstoßes, niemand aber ahnte, wo der gefürchtete Sieger von Austerlitz, der nach der letzten Kunde, Anfang Oktober, in Würzburg angekommen war, diesen Zusammenstoß suchen oder ihm begegnen werde. Auch die Armee ahnte es nicht, wie uns ein erster Brief des Vaters angedeutet hatte.
Die letzte Nachricht über ihn brachte uns der Propst, dessen Sohn in seinem thüringischen Pfarrhause den Freund seines Vaters gastlich beherbergt und ihn wohlbehalten und wohlgemut gefunden hatte. Der Hauptteil der Sachsen stand bei dem Hohenloheschen östlichen Flügelkorps; unser Reiterregiment an der oberen Saale bei den Vorposten, welche Prinz Louis Ferdinand führte. Noch war jedermann im Dunkel, ob das Korps dem Feinde entgegen auf das rechte Flußufer rücken, oder ob es sich näher an die Hauptarmee bei Erfurt ziehen werde. Dieser Brief, datiert vom 8. Oktober, erreichte uns erst am Nachmittage des 11. Die Mutter hörte den beruhigenden Inhalt ohne Glauben und fast ohne Anteil. Sie saß in sich versunken in einem zehrenden Fieber. Mich durchzuckte ein Ahnen,[277] daß auch ohne vernichtenden Schlag sie diese Prüfungszeit nicht überdauern werde.
Am anderen Morgen durchliefen beunruhigende Gerüchte die Stadt, Gerüchte, wie sie in solchen Tagen in der Luft zu schwirren scheinen: keiner sucht und erfährt ihren Herd. Ich las sie in den Mienen der Vorüberstürzenden, fing sie auf aus ihren halben Worten, wenn ich auf einen Augenblick die Mutter zu verlassen und auf die Straße zu treten wagte. Reisende wollten schon gestern französischen Truppenzügen begegnet sein, die sich auf dem rechten Ufer saalwärts bewegten: man sah die verbündete Stellung umgangen, sah in ihrem Rücken den Feind sich im Kurfürstentum festsetzen; man glaubte sich keine Stunde mehr sicher, dachte ans Bergen seiner Habseligkeiten, an Verproviantierung, an Flucht.
Die Aufregung wuchs, als gegen Mittag die Sage von mehreren für die Verbündeten unglücklichen Vorpostengefechten, die schon am 9. stattgefunden und die Kavallerie hart mitgenommen haben sollten, verlautete; sie stieg zum höchsten, als einige Stunden später – wie? durch wen? ja, Gott weiß es! die unheilvollste Kunde von Mund zu Mund lief. Eine Schlacht – so hieß es – hatte stattgefunden, der Feind den Übergang auf das linke Ufer gegen den preußischen Prinzen und demnach auch gegen unser städtisches Regiment erzwungen. Die Verluste wurden ungeheuer genannt, unter ihnen sogar der Name des heldenmütigen Prinzen.
In dieser Spannung des Lauerns und Horchens neigte sich der Tag. Die Frankfurter Post traf ein, zwei Stafetten folgten sich rasch auf den Straßen nach Halle und Leipzig. Immer dichter wurden die Gruppen vor dem[278] Posthause uns gegenüber, immer angstvoller die Gebärden; mir war, als ob aller Blicke nach unserem Hause gerichtet seien. Ich ertrug es nicht länger.
Die Mutter saß unbewegt auf dem Schlafstuhle am Fenster; sie blickte starr auf das Gedränge, aber sie fragte nach nichts. Ich ließ sie unter Obhut der Magd. Es dunkelte bereits. Ich lief hinüber nach der Post; es waren kaum hundert Schritte, in wenigen Minuten konnte ich zurück sein.
Und in wenigen Minuten war ich zurück, die Botschaft im Herzen, die, ich wußte es, dem einzigen geliebten Wesen, das mir auf Erden geblieben war, wie ein Todesurteil klingen mußte. Der teure Mann war dahin! gefallen an der Spitze seines Regiments während jenes letzten unglücklichen Reitersturmes, der auch dem fürstlichen Führer zum Verhängnis werden sollte. Wie starrte ich, wie grauste mir, als ich die Schwelle überschritt, die, so lange ich denken konnte, zu einer Stätte beglückten Friedens geführt hatte. Es waren nur wenige Minuten – und ich fand sie in eine Sterbekammer umgewandelt.
In ihrem Stuhle am Fenster, da, wie ich sie verlassen hatte, lehnte die unglückliche Frau mit schlaffen Gliedern und gebrochenem Blick, einer Leiche gleich. Zu ihren Füßen lag händeringend die Magd, und vor ihr, noch atemlos keuchend, laut schluchzend, mit Blut und Kot bespritzt, den Arm in der Schlinge, stand der Schreckensbote, der mir zuvorgekommen war.
Der ehrliche Purzel hatte Wort gehalten. Als von allen Seiten die Feinde immer dichter und dichter schwollen, als ringsum die Freunde zu wanken begannen, jetzt auch, nach einem letzten mutigen Angriff, die Schwadronen seines eigenen Regiments auseinanderstoben; als er den Prinzen,[279] der sie vorgeführt hatte, sein Pferd wenden und im nämlichen Augenblicke auch seinen Herrn zu Boden stürzen sah: da hatte er keinen Gedanken mehr, als ihn zu retten, und da er ihn tot fand, rettungslos tot, ihn seitab in einem Busche zu bergen, dann aber kehrtzumachen, der arme Wicht, von dannen zu jagen, als sein Pferd zusammenbricht, zu laufen, atemlos, fast Tag und Nacht, bis er »sein Haus« erreicht und seine Frau, der er Post versprochen hat; der erste Flüchtling, welcher die Kunde des ahnungsschweren Vorspiels von Jena in die Heimat trug.
Das mörderische Wort war nicht über seine Lippen gekommen; ein erster, einziger Blick auf die eintretende Gestalt hatte das kranke, weissagende Herz gebrochen. Ohne Zögern wurden die Mittel angewendet, die bei schlagartigen Lähmungen geboten sind; sie fristeten das leibliche Leben auf unberechenbare Zeit, das der Seele war tot und blieb es. Die unglückliche Frau hat keinen Laut mehr vernehmen lassen und, ich hoffe es, keinen unserer Schmerzenslaute mehr vernommen.
Das ist der wühlendste Schmerz, welchen eine gleich große Sorge im Banne hält. Die lange Nacht hindurch saß ich und zählte mechanisch die matten Schläge des Pulses, der jeden Augenblick erlöschen konnte. Mit grauendem Tage drängten sich Teilnehmende und Neugierige herbei; ich sah und hörte sie kaum. Ich saß starr und stumm.
Aus diesem betäubten Zustande sollte ich erlöst werden durch eine Freundestat, die wie keine andere, vorher und späterhin, mein Herz gerührt hat. Was es heißt, Treue zu ernten, wo die Väter Liebe gesät, ich hätte es in diesen Tagen lernen können. Und doch habe ich zwanzig Jahre nach ihnen hingelebt, ohne ein gleiches Samenkorn auszustreuen.[280] Freilich hatte ich keinen Erben, dem es Frucht getragen haben würde.
Es war um die Mittagsstunde, als ich einen Wagen in unsere Torfahrt lenken hörte, – hörte, ohne es zu beachten. Ein Wink des alten Soldaten rief mich von dem Bette der Mutter; er zitterte und weinte wie ein Kind, und der, vor welchen er mich führte, zitterte und weinte wie er. »Fräulein Hardine,« stammelte Christlieb Taube, »ich bringe Ihnen, was von dem gütigsten Menschen, der auf Erden gelebt hat, zu retten war.«
Seinen Leichnam. Er hatte ihn in dem bergenden Gebüsche entdeckt, als er mit seinem Prediger, des Propstes Sohn, das nahe Kampffeld nach Verwundeten durchsuchte, hatte ihn darauf im eilig aus rohen Brettern gezimmerten Sarge zwischen die letzten Eichenblätter des Jahres gebettet, im Gotteshause priesterlich einsegnen lassen und ganz allein im leichten Korbwägelchen, Tag und Nacht fast ohne Aufenthalt, ihn als letzten Trost den Menschen zugeführt, die er seine Wohltäter nannte.
Und da lag er nun, der Mann mit dem braven Herzen, wie ich ihn so oft im Leben hatte schlummern sehen; das gute, kräftige Gesicht durch keinen Zug der Qual entstellt. Noch hielt er den Säbel fest in der geballten Faust, und nur eine kleine durchbrannte Öffnung im Kollett bezeichnete die Stelle, wo die Kugel in das Herz gedrungen war. So starb er einen raschen, rühmlichen Reitertod, im Bewußtsein eines gerechten Kampfes, vor den Tagen der Schmach, die jahrelang auf seinem Stande und Vaterlande lasten sollten, und deren endliche Sühne zu teilen seinem Alter wohl kaum gegönnt gewesen wäre. Mein teurer Vater, Gott hat es am besten gewußt, auch für dich![281]
Niemals im Leben habe ich so geweint, so die Wohltat der Tränen empfunden, als vor diesem Todesbilde. Als ich den Kopf von seinem Herzen erhob und die Hand des treuen Freundes drückte, der still betend am Fußende des Sarges auf seinen Knien lag, da fühlte ich den alten Mut und die gewohnten Kräfte wieder in mir aufgelebt. Es war, als ob ein Sonnenstrahl sich durch bleiernen Winternebel kämpft; nur eine Sekunde lang; bald umfängt uns wieder der nächtliche Schatten. Aber wir haben uns des unvergänglichen Lichtes dort oben erinnert.
Eine plötzliche Hoffnung durchzuckte mich. Ob der Anblick des geliebten Mannes nicht den erlahmten Sinn der Mutter wecken sollte? Der herbeigerufene Arzt zeigte kein Bedenken gegen den gewagten Versuch, aber auch keine Hoffnung auf sein Gelingen. So wurde denn der Sarg in das Zimmer getragen und an Stelle des Sofas, wo der Geschiedene so oft der Ruhe gepflogen, niedergelassen. Der Mantel bedeckte die steifen Glieder, der Kopf lag geneigt wie im friedlichen Schlummer.
Auf meinen Armen trug ich die Kranke wie ein hilfloses Kind aus der Kammer und gab ihr dem Sarge gegenüber einen Platz. Mit welcher Spannung ich in ihren Zügen forschte! Ach die starren Blicke richteten sich wohl mechanisch auf des Toten Gesicht, aber kein Zucken verriet eine Freude oder einen Schmerz, nicht das leiseste Zeichen, daß sie ihn erkannte, daß sie ihn nur sah! Das Herz war tot, vielleicht schon jenseits bei ihm; nur das Blut wallte noch in der entseelten Maschine. Wie lange Zeit, ob Stunden, ob Jahre! Der Arzt zuckte schweigend die Achseln, als mein trostloser Blick ihm diese Frage stellte.[282]
Wir richteten nun die Kranke in meinem Dachzimmer ein, um die unteren Räume für den Toten frei und still zu halten. Peinvolle Verabredungen wegen der Bestattung mußten getroffen werden. Der alte Soldat hatte keinen Kameraden am Ort, der ihm das Ehrengeleit zu seiner Ruhestätte geben konnte, der letzte Reckenburg keinen Sohn, keinen Blutsverwandten, welcher die erste Handvoll Erde auf seinen Hügel rollen ließ. Seine Tochter aber sollte ihm auf dem letzten Gange nicht fehlen. Daß dieser Gang möglichst still und unbemerkt geschähe, wählte ich eine abendliche Stunde, und traf der gute Taube in diesem Sinne die erforderlichen Vorkehrungen. Er selber grub bis in die Nacht hinein mit dem ehrlichen Diener das Grab, für welches sich ein Raum neben der Faberschen Erbstätte gefunden hatte. Die alten Hausgenossen sollten auch unter der Erde beieinanderbleiben.
Erst nachdem dieser wehmütige Freundschaftsdienst beendet war, machte sich Taube auf den Weg, dem Freunde im Kloster die Trauerbotschaft zu bringen, bei ihm zu nächtigen und dann am Morgen sein altes Schuldorf wiederzusehen. Sobald er am Abend von der Begräbnisfeier zurückkehren würde, sollte dann die Heimfahrt angetreten werden, Freund Purzel ihn begleiten.
Der arme Schelm war, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, halb und halb zu der reumütigen Erkenntnis seiner Fahnenflucht gelangt. »Ich bin nicht ausgerissen, Fräulein Hardine,« sagte er schluchzend, »bloß versprengt. Und meine Wunde ist auch nicht zum Sterben, wie ich dachte, bloß ein Ritz. Nur meinen Herrn Major zur Ruhe, dann suche ich das Regiment und lasse mich totschießen wie er.«[283]
Taube hatte während der Herfahrt erkundet, daß die Vortruppen von Saalfeld sich nordwärts auf das Gros des Hohenloheschen Korps zurückgezogen und mit diesem Stellung bei Jena genommen hatten. Dort war demnach das Regiment aufzufinden. Mehrfältigen Aussagen nach hielten jedoch die Feinde bereits den Saalpaß bei Kösen besetzt, und so mußte man sich zu einem Umwege durch das Unstruttal entschließen. Welches unselige Verhängnis unserer Armee drohte, wenn jene feindliche Umgehung sich bewahrheitete, durch welche gröbliche Irrungen sie möglich geworden war, daran sollten wir nur zu bald jammervoll gemahnt merden; in jenen ersten Stunden persönlichen Schmerzes fehlte uns der Vorausblick in die allgemeine Lage.
Christlieb Taube hatte den Weg zum Kloster angetreten, die Magd, nach der Unruhe der verwichenen Nacht, früh ihr Bett gesucht; Purzel hielt Wache, das heißt, der arme, übermüdete Mensch schlief selbst wie ein Toter neben dem Sarge seines lieben Herrn. Im Hause herrschte Leichenstille. Ich saß allein am Bette der Mutter, ob minuten- oder stundenlang, ich weiß es nicht. Das Bewußtsein der Verwaisung war in dieser stillen Einsamkeit zum erstenmal deutlich in mir aufgetaucht. Der Verwaisung! Denn das Herz, das unempfindlich neben mir pulsierte, war ja nicht das einer Mutter mehr, und keiner ermißt die Ödigkeit dieses Bewußtseins, als der, welchem, wie mir, mit dem zurückleitenden Faden das einzige Band des Gemüts zerreißt. Ich war dreißig Jahre alt, ohne Geschwister, ohne Hoffnung auf ein kommendes Geschlecht, die Letzte meines Bluts und Namens, vor mir, neben mir, hinter mir alles leer – – ja in Wahrheit, ich war eine Waise.[284]
Und dann, ich war arm; wie auch die Zukunft sich gestalten mochte, im Augenblick bitterlich arm. Für meine eigene Person würde ich darin kaum ein Lebenshemmnis gefunden haben. Ich hatte meinen Posten auf Reckenburg, und mußte ich eines Tages von ihm weichen, »so gehe ich als Kolonistin in einen Hinterwald Amerikas,« hatte ich mehr als einmal lachend dem Propste geantwortet, wenn er in mich drang, die Gräfin an ihre Pflichten gegen mich zu erinnern. In meiner gegenwärtigen Stimmung würde ich leicht aus dem Scherze Ernst gemacht, jedenfalls in einer größeren ländlichen Verwaltung meinen Platz gefunden haben. Im Hinblick auf die Mutter, die ich in ihrer langsamen Agonie nicht verlassen konnte, wurde die Armut zu einer drückenden Sorge.
Die Veränderung meiner Lage war indessen zu neu und erschütternd, als daß ich sie mit klaren Gedanken hätte durchdringen mögen. Nur wühlend und brütend schlichen die Vorstellungen an meiner Seele vorbei. Die Lampe glimmte dunkel umschirmt; das Krankenzimmer mußte kühl erhalten werden; mich fröstelte, wie es auch den Kräftigsten nach großen Aufregungen in einem Sterbehause fröstelt. Seit zwei Tagen hatte ich keinen Augenblick geruht, und so überfiel mich jener bleierne Druck, welcher zwischen Schlaf und Wachen die Mitte hält, und in welchem wir uns vergeblich zu besinnen suchen, ob die wechselnden Erscheinungen wirklich vor offenen Augen oder ob sie im Traum an uns vorüberziehen.
In diesem Zustande war es mir plötzlich, als spüre ich das Streifen eines lebenden Wesens; ich sah eine verhüllte Gestalt sich über das Krankenbett beugen, lange in das Gesicht der Mutter blicken und endlich zwischen ihr und[285] mir zu Boden gleiten. Dieses Geräusch, diese Berührung scheuchten den Alp. Es war kein Traum: diese rätselhafte Erscheinung lag zu meinen Füßen. Ich sprang auf, ergriff die Lampe und leuchtete in ihr Gesicht – Dorothee! Dorothee im Krampfe erstarrt, eiseskalt, stieren, glasigen Auges, die Zähne knirschend zusammengepreßt, die Hände in der Gegend des Herzens in das Kleid gekrallt, – das nämliche Schreckensbild, das die Mutter am Hochzeitstage verlassen hatte.
Alle Nebel des Geistes waren bei dem erschütternden Anblick geschwunden, das eigene Schicksal fast vergessen. Ich trug sie nach dem Sofa, öffnete das Fenster, flößte ihr von den belebenden Tropfen ein, welche für die Mutter bereit standen. Sie schien das Bewußtsein nicht verloren zu haben, und es währte nur wenige Minuten, bis die steifen Muskeln sich zu strecken, die Glieder sich zu erwärmen begannen. Der Puls wurde fühlbar, nur aus den Augen wich erst langsam der starre Ausdruck der Qual.
Sie war noch immer schön; dieselbe biegsame, jugendliche Gestalt, dieselbe Durchsichtigkeit der Haut in dem gerundeten Kinderangesicht. Die geschonten Hände, Haartracht und Kleidung, alles was ich sah, zeugten von Eleganz und Behagen; alles was ich kürzlich während der preußischen Besatzung über ihre gesellschaftliche Stellung gehört hatte, sprach von Sicherheit und Ehren: sie war ein geliebtes, ein glückliches Weib, und wie verlassen, wie elend hatte ich vor wenigen Minuten vor mir selber gestanden.
Und dennoch, – denn wer beschriebe jenen heimlichen Zug von Zwang, der gleich einem eisernen Stirnband die Unglücklichsten unter uns kennzeichnet? Oder gäbe es einen[286] wehe tuenderen Ausdruck, als den der Angst in einem Kinderauge? – und dennoch tönte eine Stimme aus meinem Innersten heraus: dieses schöne, gesegnete Weib ist elender, gottverlassener als du!
Und als hätte diese Stimme ein Echo erweckt, so flüsterten jetzt die bleichen Lippen: »Hardine, ich bin elender als du!«
Der Krampf war gelöst; sie atmete und bewegte sich frei; aber sie sprang nicht in die Höhe wie sonst; sie errötete nicht, senkte und hob nicht die Lider, schmiegte sich nicht an meine Knie, an meinen Arm, reichte mir nicht einmal die Hand. Sie ließ das müde Auge in dem meinen ruhen und erhob sich langsam, wie in gewohnter peinvoller Zurückhaltung.
Ebenso ruhig ließ sie sich darauf, meinem stummen Winke folgend, wieder nieder, und nachdem ich neben ihr Platz genommen hatte, erklärte sie, ohne meine Aufforderung abzuwarten, ihr überraschendes Erscheinen. Sie tat es mit klaren, knappen Worten, wie man berichtet, nicht wie man erzählt. Ihr Laut war reiner, der Ausdruck reifer geworden, aber der silberne Lerchenklang der Stimme drang wie durch einen Flor.
»Faber«, so sagte sie, »befand sich seit Wochen im Gefolge des Königs bei der Armee. Ich konnte ohne Entdeckung, und wenn entdeckt, ohne Aufsehen, eine Reise in die Heimat wagen, wegen der Zukunft des Knaben Verabredungen treffen, vielleicht ihn sehen. Von der letzten Station ab ging ich zu Fuße nach der Anstalt. Es war Abend geworden. Der Propst verweigerte es, mich heute noch, kurz vor Schlafengehen, einen Blick auf den Knaben werfen zu lassen. Es werde auffallen, Ahnungen, Erinnerungen, Entdeckungen wecken. Der Knabe dürfte nicht an[287] eine Mutter denken, die ihm weder einen Vater nennen noch ihn in ein Elternhaus führen könne.«
»Ich mußte mich seinem Willen fügen,« fuhr sie nach einer Pause mit fast eisiger Starrheit fort. »Niemals hätte ich das Herz, mich vor meinem Gatten als seine Mutter zu bekennen.«
»Und was fürchten Sie, wenn Sie es täten?« fragte ich. Sie stutzte, nein, ich glaube, sie seufzte leise bei dem »Sie«, das ich unwillkürlich gebrauchte. Doch schien sie rasch über unser verändertes Verhältnis klar geworden und antwortete mit dem Ausdruck reinster Wahrheit: »Nichts für mich. Wenn er mich verstieße, ich würde ihm meine Bettlerfreiheit danken; wenn er mich tötete, ich würde ihn für die Erlösung segnen. Sie ahnen es nicht, Fräulein von Reckenburg, was es heißt, die Natur verleugnet haben. Aber was ich fürchte, fragen Sie? Ich kann es deutlich nicht sagen. Ein unbestimmtes, vielleicht falsches Vorgefühl des Hasses, – der Rache, – da er den Vater nicht mehr erreichen kann, gegen den unschuldigen Knaben, der Feindseligkeit auch gegen – gegen – –«
»Gegen die Schuldgenossen,« ergänzte ich.
Sie neigte den Kopf. »Er ist ein gerechter, ein argloser Mann, und gütig, o viel zu gütig gegen mich,« fuhr sie fort, »aber denke ich daran, so blinkt es mir vor den Augen wie ein gezückter Dolch. Er würde es niemals vergeben, und dem Schuldlosen vielleicht weniger als mir, die er sich zu lieben gewöhnt hat. Alles das mag Selbsttäuschung sein; auch die Scheu, das ätzende Gift in eine vertrauende Seele zu gießen. Kann eine sich selber kennen, deren ganzes Leben eine Lüge ist? So sage ich denn einfach, ich habe nicht den Mut, die Wahrheit zu bekennen. Und dann: ich[288] habe nicht mehr die Kraft, es zu tun. Sooft ich reden will, überfällt mich der Krampf, dessen Zeugin Sie vorhin waren. Wollte ich schreiben, die Hand würde mir erstarren. Es ist keine Krankheit; es wird mich nicht töten; ich werde alt dabei werden, oder – oder –« Sie deutete auf die Stirn mit einem Ausdruck, der mich schaudern machte.
»Haben Sie Kinder?« fragte ich nach einer langen Stille.
Sie schüttelte den Kopf. »Gott ist gerecht,« sagte sie nach einer langen Pause. »Nein, er ist barmherzig. Ich würde keinem Kinde eine Mutter sein können.«
»Und Ihr Gemahl?«
»Vermißt sie nicht, oder zeigt mir nicht, daß er sie vermißt. Er ist sehr, sehr schonend gegen mich – und noch immer so besonders,« setzte sie hinzu, indem zum erstenmal etwas, das einem Lächeln glich, über ihre Züge lief. »›Du bist mein Kind, Dorothee,‹ hat er mir mehr als einmal gesagt. ›Kein Arzt wünscht einem geliebten Weibe das Martyrium und die Sorgen der Mutterschaft. Er sieht der Qualen genug außer seinem Hause.‹«
»Und haben Sie seine Liebe erwidern lernen?« fragte ich nach einer neuen Stille. Sie sah mich einen Moment groß an, als ob sie über eine wahrhaftige Antwort nachdenke. Dann sprach sie: »Ich glaube, daß ich meine kindische Scheu überwunden und ihn liebgewonnen haben würde, wäre ich sein eigen geworden, damals, als ich keine Ursache hatte, ihn zu fürchten. Heute aber, wo ich sie habe – lieben? – o nicht einmal wie einen Wohltäter, einen Bruder, einen Freund. Im Sklavendienst der Sünde erstirbt das Gemüt.«
»Und auch diesen Mangel fühlt er nicht?«
»Nicht, daß ich es jemals gespürt hätte. Meine kühle Zurückhaltung paßt zu dem Traumbilde, das er sich von[289] mir geschaffen hat. Ich glaube, daß meine ursprüngliche Natur ihm lästig geworden sein würde. Entweder, Fräulein von Reckenburg, ist die Liebe ein Rätsel mit vielen Auslegungen, oder dieser Mann ahnet nicht, was lieben ist.«
Wir saßen nach diesen Worten eine Weile schweigend nebeneinander, dann fuhr sie in der Mitteilung fort, die meine Frage unterbrochen hatte. »Der Propst beredete mich, die Nacht in der Stadt in meinem alten Zimmer zu verbringen. Dort wollte er mir am Morgen den Knaben unter irgendeinem Vorwande zuführen. Er begleitete mich nur bis ans Stadttor, da ich in seiner Gesellschaft nicht gesehen und vielleicht erkannt werden sollte. Weder er noch ich ahnten ja das Schicksal, das dieses Haus betroffen hat. Ich sah Licht im unteren Zimmer und fand die Haustür unverschlossen. Ich hätte mich still hinaufschleichen mögen. Aber konnte ich unbemerkt bleiben? So trat ich ein. Der alte Soldat schlief im Stuhle neben dem verhüllten Lager und erwachte nicht. Ich hob das Tuch und sah in das tote Antlitz des Mannes, den ich mehr als meinen eigenen Vater geliebt hatte. Ich stieg die Treppe hinan und beugte mich noch einmal über eine, die ich verehrt und die der Tod bereits erfaßt hat. Nun wollte ich mich ungesehen aus dem Hause entfernen, Ihnen meinen Anblick ersparen, heute und immerdar. Der Krampf überfiel mich. Vergeben Sie mir, Fräulein von Reckenburg.«
Ich kann es nicht mit Worten aussprechen, wie dieser Ausdruck dumpfer Resignation mir durch die Seele schnitt. Was mußte das bewegliche Kind gekämpft haben, um so seiner Impulse Herr zu werden, und was gelitten! Ich zog ihren Kopf an mein Herz, drückte ihre Hand und sprach: »Der Tote hat dich liebgehabt wie sein eigenes Kind[290] – laß die bösen Erinnerungen zwischen uns gelöscht sein, Dorothee.«
Ein Hauch, so rosig wie in ihrer glücklichsten Zeit, flog über das bis dahin schattenbleiche Gesicht. Sie beugte sich über meine Hände und warme Tränen rieselten auf sie herab. Die Wanduhr schlug eben Mitternacht. »O, Fräulein Hardine!« rief sie, »wenn das Ihr Ernst ist – und Sie haben ja niemals ein Wort gegeben, das Sie nicht wahr gemacht – o so betätigen Sie es auch heute, diese Nacht vielleicht zum letzten Mal, daß wir im Leben beieinander sind. Ruhen Sie und lassen Sie mich wachen bei der teuren Frau, noch einmal sie pflegen wie sonst. Sie brauchen Kraft für den morgenden Tag, und ich, könnte ich in seiner Erwartung ruhen? Gönnen Sie mir die Wohltat dieses Vertrauens, Fräulein Hardine!«
»Ja, wache bei meiner Mutter, Dorothee,« antwortete ich ohne Besinnen, »ich will in deinem Bette drüben schlafen.«
Wie auf ein Zauberwort war sie plötzlich wieder die alte Dorl, küßte meine Hand, fragte nach der ärztlichen Vorschrift, richtete geschäftig alles für die Nachtpflege ein, zündete dann Licht an und leuchtete mir hinüber in ihre Mädchenstube.
Unter der Tür stockte ihr Fuß; sie sah den Raum sauber in Ordnung gehalten, unverändert, wie sie ihn verlassen hatte. Im Fenster breitete sich ein Strauch von Rosmarin, den die Mutter aus einem jener Hochzeitszweige aufgezogen hatte.
Sie brach in einen Tränenstrom aus und barg das Gesicht hinter ihren Händen. »O daß ich niemals, niemals diese Schwelle überschritten hätte!« schluchzte sie. Bald[291] aber war sie wieder ruhig und gefaßt, ordnete mein Bett, half mir beim Auskleiden, mischte mir ein Glas Zuckerwasser, alles mit ihrer leise schwebenden Art, küßte dann noch einmal meine Hand und ging hinüber zur Mutter.
Ich aber, als hätte das liebliche Geschöpf mir einen Beruhigungstrank eingeflößt, schlief ungestört bis zum grauenden Morgen. Als ich das Krankenzimmer betrat, stand Dorothee am Fenster in einem weißen Morgenkleide aus ihrer Mädchenzeit, da sie durch die bunten Farben ihres Reiseanzuges nicht allzu grell gegen unsere Trauer abstechen wollte. Der reiche Haarschleier war der Zeitmode zum Opfer gefallen; die kurzen Löckchen ringelten sich natürlich um den feinen Kopf. Sie stand hinter der Gardine und starrte mit flammenden Augen und eine Fieberglut auf den Wangen hinaus nach dem Knaben, den sie nicht mehr ihren Knaben zu nennen wagte.
Wie sie aber auch starren mochte, der dichte Morgennebel – der Nebel des 14. Oktober! – wehrte jede Umschau. Sie sprach keinen Laut; ein leises Zittern durchflog die Gestalt, über welche die Leidenschaft der Erwartung den lebensvollen Hauch erster Jugend ergossen hatte.
Endlich hörte sie Schritte auf der Treppe und ich folgte ihr bis unter die Tür. Aber es war der Prediger allein, der die Schluchzende in seinen Armen aufgefangen hatte. »Mein Pflegesohn folgt mir in kurzem,« sagte er. »Diese erste Stunde gehöre unseren trauernden Freunden, liebe Dorothee.«
Damit trat er in das Krankenzimmer; auch einer jener stillgetreuen Balsamspender für die verwundeten Herzen, auch ein lange entfremdeter, wiedergefundener Freund.[292]
Er wurde uns allen ein Rater und Ordner an diesem unruhvollen Tage; zumeist aber hatte Dorothee, die in ihrer Erregung häufig die vom Freunde gebotene Vorsicht vergaß, ihm ihr gelungenes Inkognito zu danken. Christlieb Taube war bis zum Abend über Land, der alte Diener in Begräbnisangelegenheiten früh aus dem Hause entfernt, die Torfahrt für Besucher und Neugierige verschlossen worden. Der Magd durfte vertraut werden, sie war als Auswärtige mit der Vergangenheit des Hauses unbekannt und hatte in ihrer blöden Ehrlichkeit von den fremden Leidtragenden in dem Trauerhause kaum Notiz genommen.
Die Freunde hatten unserem Toten Lebewohl gesagt und mich allein an seinem Sarge in der Kammer zurückgelassen. Ein Geräusch unter der Tür weckte mich aus meiner Versunkenheit; es war der Prediger, der seinen Pflegling vor die Leiche führte, um der verborgenen Mutter seinen Anblick zu gewähren und zugleich seine Aufmerksamkeit von der heftig Erregten abzulenken. Wenn er darüber hinaus etwa einen vom Soldatenhandwerk abschreckenden Eindruck bezweckte, so brachte sein Plan, nach mancher weislichen Pläne Art, die entgegengesetzte Wirkung hervor; er hatte nur die Begierde, das Soldatenblut, in dem Knaben geweckt.
August Müllers Jugenderinnerungen haben Euch, meine Freunde, ein anschauliches Bild der nachfolgenden Szene gegeben. Laßt mich nur eins hinzufügen. Als der Knabe so frisch und fröhlich rief: »Ich möchte auch für das Vaterland sterben!« und jener markerschütternde Schrei sich dem Mutterherzen entrang, da fühlte ich meinen ungerechten Groll gegen den »Wildling« schwinden, ich sah[293] in ihm wieder den Sohn des Freundes, der die Betörungen der Jugend durch ein ritterliches Ende gesühnt hatte. Und so sollten denn diese schweren Prüfungstage nach allen Seiten hin zu einem friedlichen Abschluß führen.
»Ich werde ihn niemals wiedersehen, niemals!« Mit diesem Aufschrei war die unglückliche Mutter zusammengebrochen, als die Tür sich hinter ihrem Kinde schloß. Der gestrige Krampf hatte sie überfallen. Wir trugen sie in ihr Zimmer hinauf, und an dem Herzen, unter den Tränen des alten Freundes erwachte sie wieder zum Leben. »Gott ist der Vater der Fremdlinge und Waisen,« flüsterte sie, das gläserne Auge auf ihn gerichtet, »und du bist Gottes Priester auf Erden.«
Nach diesen Worten entfernte ich mich, die beiden zu einer langen Unterredung über des Knaben Zukunft beieinander lassend. Eine ansehnliche Summe für Lehrgeld und erste Einrichtung des künftigen Forsteleven ist seinem alten Beschützer bei dieser Gelegenheit eingehändigt worden. Mit mir sprach Dorothee bis zum Abschied keine Silbe mehr; sie hielt sich ausschließlich im Krankenzimmer und folgte demütig des Freundes Winken. Das eiserne Band, von dem sie sich für etliche Stunden befreit, drückte schon wieder auf ihre Stirn. Sie hatte sich von neuem unter die Wucht ihres Verhängnisses gebeugt, und hätte ich heute noch von ihr fordern dürfen: zerbrich es oder fliehe ihm?
Während dieser Vorgänge hatten sich die ersten dumpfen Gerüchte über die ungeheure Katastrophe dieses Tages in der Stadt verbreitet. Bauern, welche von den entfernteren westlichen Dörfern zum städtischen Markte kamen, wollten seit dem Morgengrauen unausgesetztes Kanonenfeuer[294] vernommen haben; Leipziger Kaufleute, die, von Frankfurt zurückkehrend, in Naumburg übernachtet hatten, sprachen mit Bestimmtheit von der gelungenen Umgehung Davousts und einem blutigen Zusammenstoß mit der Hauptarmee, der man gestern auf dem Marsche von Weimar nach Eckartsberga begegnet war. Man nannte sogar schon das Dorf Hassenhausen als den Punkt, wo der Kampf um den Saalpaß entbrannt war. Wer von unseren Bürgern ein Fuhrwerk oder ein Pferd auftreiben konnte, wagte sich eine Strecke in abendlicher Richtung voran, um die Wahrheit dieser Angaben und ihrer Folgen zu erkunden.
Wieder wogte es unruhig auf dem Markte durcheinander; aber nicht ein Auge von den vielen blickte hoffnungsvoll, nicht eine Stimme redete beherzt. Das tragische Vorspiel von Saalfeld hatte die düstersten Ahnungen verbreitet.
Keiner aber fühlte diese Vorahnungen drückender als die, welche in dem Hause der Trauer um das Opfer von Saalfeld den Tag des 14. Oktober in schweigendem Brüten dahinschleichen sahen, und wer möchte die wehevollen Stimmungen erschöpfend schildern, die binnen weniger Stunden sich unter dem einen Dach begegnet waren? Trauerspiel schob sich in Trauerspiel; das persönliche in das allgemeine, das vergangene in das zukünftige. Ein jeder fühlte im besonderen einen Kummer, eine Sorge, eine Angst und Qual; jeder einzelne teilte die des anderen, und über allen schwebte das Schicksal des Vaterlandes wie eine drohende Wolke.
So brach der Abend herein, und das Grabgeleit setzte sich in Bewegung. Obgleich ich es still, ohne fremde Zeugen gewünscht, hatte ich es nicht hindern können und wollen,[295] daß die Bürgerschaft fast ohne Ausnahme, Fackeln tragend, den Zug eröffnete. Ehrten sie doch den Tapferen, der für das Vaterland gefallen war, betrauerten sie doch einen alten, werten, langjährigen Heimatsfreund.
Hinter dem Sarge ging nur ich mit dem Propst, gefolgt von Christlieb Taube und dem alten Diener. Und so senkten wir den teuren Mann zur Ruhe, alle in Tränen, alle in düsterer Beklemmung in der verhängnisvollen Stunde, wo die gleichzeitig in zwei Schlachten vernichteten Armeen, keine der anderen Schicksal ahnend, in wilder Flucht aufeinanderstießen.
Die erste und noch unklare Kunde der Niederlage bei Hassenhausen – erst späterhin nannte man sie Auerstedt – traf uns, als wir von unserem Trauergange heimkehrten. Christlieb Taube mit seinem »Versprengten« beschleunigte daraufhin seine Abreise in der schon gestern angenommenen Richtung über Freyburg. Auch Dorothee wurde von dem Propste bestimmt, mit der Nachtpost die Rückreise anzutreten, denn wer hätte dafür bürgen mögen, daß nicht morgen schon ein wilder Troß von Freund und Feind die Gegend überflutete? So folgte dem ersten ewigen Abschied nun eine Trennung nach der anderen, und keine wohl ohne das Vorgefühl des Nimmerwiedersehens.
Der ehemalige Lehrer und Bewerber ahnte nicht, daß er mit der Gattin Siegmund Fabers unter einem Dach geweilt hatte. »Das treue Herz ist schwer zur Ruhe gekommen, beirren wir es nicht von neuem,« hatte der gemeinsame alte Freund gemahnt, und Dorothee sich verborgen gehalten, bis das Wägelchen von dannen rollte. Ich aber sollte Zeuge sein, daß das treue Herz noch keineswegs zur Ruhe gekommen war. Ich traf den guten Menschen,[296] nachdem er uns Lebewohl gesagt hatte, seine Tränen trocknend, auf der Schwelle von Dorothees Mädchenstube. »Die vergißt keiner, der ihr einmal angehangen hat,« sagte er mit gebrochener Stimme. Ein elegisches kleines Zwischenspiel inmitten so vieler Schreckensbilder!
Dorothee hatte ihre Reisekleider angelegt, und ich hielt ihre Hand zum letzten Lebewohl. Es war für uns beide ein Tag des Schweigens gewesen; jetzt bedrückte etwas ihr Herz, für das sie sichtlich um den Ausdruck kämpfte. »Darf ich reden?« fragte sie endlich mit niedergeschlagenen Augen, und als ich die Frage herzlich bejahte, sagte sie hastig:
»Sie werden eines Tages reich sein, sehr reich, Fräulein Hardine – bald vielleicht. – Aber für den Augenblick – bei der Verwirrung im Lande – wenn Sie vielleicht – vielleicht – –«
Ich schüttelte ablehnend den Kopf.
»Sie sollen das Darlehn nicht von mir annehmen, Fräulein Hardine, Sie würden es nicht, ich weiß es. Aber – von ihm. Er erwirbt so viel und achtet es so wenig. Er braucht so wenig. Sie würden ihn glücklich machen, Fräulein Hardine.«
»Nein, Dorothee,« – rief ich übereilt – »nein. Von dir dürfte ich ein Darlehn annehmen, eine Unterstützung, wenn ich ihrer bedürfte. Von ihm – nimmermehr!« –
Ich sah sie erbleichen und bereute die böse Mahnung, die mir unwillkürlich entschlüpft war. Ich zog sie an mein Herz, küßte sie zum ersten Mal im Leben, und wir trennten uns ohne weiteres Wort. Wenige Minuten später hörte ich den Postwagen vorüberrollen. Bei der allgemeinen Verwirrung hatte niemand in der verhüllten, schweigsamen[297] Reisenden die vielbeneidete einstige Mitbürgerin erkannt. Ihr flüchtiger Heimatsbesuch ist ein Geheimnis geblieben.
Auch der Propst konnte in dieser drangvollen Zeit seine Anstalt nicht länger ohne Obhut lassen. Nach den zwei unruhvollsten Tagen meines Lebens saß ich um Mitternacht wieder allein in dem totenstillen Krankenzimmer.
Wie nun in der nächsten Zeit das allgemeine Unheil, weit über alles Vorahnen hinaus, zutage trat; wie die überstolzen Sieger von der Stadt Besitz nahmen, die Landestruppen halb und halb als französische Verbündete zurückkehrten; wie die gefangenen Preußen, verhöhnt, des Notdürftigsten bar, in Kirchen und Schuppen gepfercht lagen, das stattliche Schloß, in ein verpestendes Lazarett verwandelt, von Freunden und Feinden ausgeplündert ward; wie aller Mut, alle Kraft, aller gute Wille daniederlag; wie alles staunend, geblendet, verwundert sich um den unüberwindlichen Kaiser drängte, als er an dem sieben Jahre später für ihn so verhängnisvollen 18. Oktober durch unser Städtchen gen Leipzig jagte; wie ein jeder nur noch Heil von der Gnade des Gottgesandten erwartete – von diesen Eindrücken des Grauens und Ekels laßt mich schweigen. Sie haben die Erinnerung durchwühlt, jahrelang nachdem das persönliche Herzeleid sich in Frieden gelöst hatte.
Zur Stunde freilich dämpften die persönlichen Nöte den Anteil an dem allgemeinen Geschick. Jenes feindliche Gefolge, das so häufig einem großen Schmerze nachhinkt und nach kleiner Tyrannen Art sich so hämisch an dem verachtenden Stolze rächt: die Sorge um das gemeine Dasein, die Unruhe um das tägliche Brot, schlummerlose Nächte an einem Siechenbett, Scham über die erlahmende Kraft, demütigendes Hoffen auf fremde Hilfe, Zweifel,[298] und wie sie ferner noch heißen mögen, die marksaugenden, kleinen – großen Erdenherren –, sie stiegen an meinem Horizonte auf. Flüchtig allerdings, nicht zu einem erschöpfenden Ringkampfe der Kräfte, vielleicht nur darum, daß ich sie kennen lerne, von Angesicht zu Angesicht kennen und anderer Notwehr würdigen lerne, sobald ich eines Tages stärker als viele gegen sie gerüstet sein würde. Ich lernte sie kennen; aber die Lehre habe ich bis nahe an das Greisenalter nicht beherzigt.
Das hilflose Hinsiechen meiner armen Mutter konnte sich jahrelang fristen: Unsere kleinen Ersparnisse reichten aber kaum auf Monate aus. Der bescheidene Gnadengehalt der Witwe, wenn er in diesen Zeiten überhaupt gewährt werden konnte, würde unsere mäßigsten Bedürfnisse nicht gedeckt, Arbeit von meiner ungeübten Hand schwerlich einen Abnehmer gefunden haben. Die Kranke hätte, nach des Arztes Ausspruch, ohne Gefahr nach Reckenburg übersiedelt werden dürfen; aber nicht einmal einer Antwort würdigte uns die Gräfin auf meine Anzeige des erlittenen Verlustes, auf des Propstes wiederholte Darstellung unserer Lage. Mit Recht hob dieser fürsorgliche Freund hervor, daß auch alle Aussichten für die Zukunft mir entschlüpfen würden, wenn ein anderer den von mir verlassenen Verwaltungsposten einnehmen und sich geschickt auf demselben behaupten sollte, und wieviel bedeutender, wieviel mächtiger lockend, als ich mir bis dahin eingestanden hatte, stellten diese Aussichten sich jetzt mir dar. Alles in allem: ich sah keine Flucht aus meiner Bedrängnis, und das Pförtchen, das sich mir endlich erschloß, das Pförtchen, welches heute, von dem Immergrün der Treue bekränzt, leuchtender vor der Erinnerung steht, als das[299] Portal zu dem Goldturme der Reckenburg: damals war es eng und drückend für den stolz gewöhnten Sinn.
Das Asyl, welches die reiche Verwandtin in ihrem leerstehenden Palaste verweigerte, die arme Dienerin eröffnete es in ihrer dürftigen Hütte. Muhme Justine erbot sich, ihre einstige Herrin aufzunehmen und zu verpflegen, während die Tochter in das Amt zurücktrat, das ihrer Gegenwart so dringend bedurfte. Die treue Seele drängte flehentlich zu schleunigem Aufbruch, sie schilderte ihren kleinen Notpfennig als eine unerschöpfliche Hilfsquelle.
Und ich zögerte nicht, die dargereichte Hand zu er greifen. In Eile wurde der Umzug eingeleitet. Die Übersiedelung der Kranken sollte noch vor dem Christfeste stattfinden.
Gott aber hatte es gnädiger beschlossen. Er ersparte mir die Scham, meine Mutter von fremder Hand gepflegt zu sehen, und er gönnte ihr eine Ruhestatt an der Seite des Mannes, den sie so lange und so beglückend geliebt hatte. Wenige Morgen vor dem zur Reise bestimmten fand ich sie sanft hinübergeschlummert, und so schloß mein heimatliches Leben mit einem zweiten Grabgeleit.
Aber nicht mit dem letzten dieses großen Zerstörungsjahres. Als ich früh am Weihnachtstage auf Reckenburg eintraf, lag die Gräfin in hoffnungsloser Qual. Sie zerriß sich Gewand und Haar, krallte sich mit Todesangst an den Leib der Wärterinnen, schrie um Hilfe, um Luft und Licht.
Ich öffnete die Fenster. Ein klares Sonnengold strahlte von der weißen Winterdecke zurück, ein erfrischender Strom drang in das lange verhüllte, luftlose Gewölbe; die Christglocken läuteten auf dem Turme, der unversehrt das geborstene Gotteshaus überragte. Der Kampf der Greisin beschwichtigte sich, ihr Atem wurde ruhig und frei. Hell[300] und scharf wie allezeit richtete sie den Blick – aber nicht auf die Geldtruhe neben ihrem Stuhl, sie richtete ihn auf mich, reckte die Hand nach mir zu einem kräftigen Druck und rief mit fast jugendlichem Klang:
»In Recht und Ehren!«
Es war ihr Sterbewort, und ich hatte seinen Sinn verstanden. In der letzten Stunde des Jahres 1806 senkten wir die sagenhafte Greisin zur Ruhe, und das Regiment der letzten Reckenburgerin begann.[301]
Ausgewählte Ausgaben von
Die letzte Reckenburgerin
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