Drittes Kapitel

Die schwarze Reckenburgerin

[104] Ich hatte übrigens nur kurze Zeit das glückselige Treiben unserer neuen Hauswirtin zu beobachten, denn auch mein eigenes Leben sollte in jenen Sommerwochen einen unvorhergesehenen Wechsel erfahren.

Ich habe schon zu Anfang der alten Gräfin als meines Vaters und meiner eigenen Patin erwähnt und hinzugefügt, daß keines von beiden sich jemals einer zeitgemäßen Pflicht- und Gunstbezeigung von seiten ihrer hohen Namensverleiherin zu erfreuen, sich einer solchen indes auch nicht von ihr versehen hatte. Anders vielleicht, wenn der letzte Sprößling des alten Stammes ein männlicher gewesen wäre. Aber ein Mädchen, die Tochter eines verarmten Seitenzweigs, wie hätte die »schwarze Häuptlingin« in ihrer fürstlichen Hoheit sich einer erinnern sollen, mit welcher der Name voraussichtlich in Dunkelheit erlosch? Wer auch immer die Erben der wunderlichen Greisin sein mochten, der bescheidene Rittmeister von Reckenburg und sein dürftig erzogenes Fräulein, wir wußten es, waren es nicht.

Groß, über allen Ausdruck groß war daher das Wunder, als im Laufe des Spätsommers ein eigenhändiges Schreiben der Gräfin, das erste seiner Art, die weiße Vetternsippe beehrte. Das Schreiben lautete, aus dem Französischen übersetzt:

»Wenn die Freifrau und der Freiherr von Reckenburg geneigt sein sollten, ihre Tochter Eberhardine der Gräfin von Reckenburg als Gast während des nächsten Winters zu überlassen, so wird die gräfliche Equipage die junge Dame – (Datum und Stationsort waren[104] genau bezeichnet) – zur Beförderung nach Schloß Reckenburg erwarten.«

So wenig einladend diese Einladung gestellt war, und so schwer den Eltern das wenn auch nur zeitweise Überlassen des einzigen, kaum erwachsenen Kindes in völlig unbekannte Hand vorkommen mochte, die Möglichkeit einer Ablehnung ist gar nicht in Betracht gezogen worden. Die Gräfin aber – nun, sie war eben die reiche Gräfin von Reckenburg und nahe dem achtzigsten Jahre. Das Fräulein von Reckenburg war aber ein blutarmes Ding, wenig begehrenswert für einen Freiersmann und, verlor es den Vater, schutzlos der Welt gegenüberstehend. Mancher mütterliche Sorgenseufzer mochte in dieser Aussicht innerhalb der vertraulichen Ratskammer laut geworden sein. Eine Aussteuer, ein Legat von dem Überflusse der einzigen Verwandtin, die heute zum erstenmal eine Art von Anteil bekundete, konnte nun allen Sorgen und Seufzern ein Ende machen.

Der Vater antwortete daher zustimmend, wenn auch in würdigster Haltung. Gunst und Vertrauen wurden erwiesen, mehr als empfangen; nicht die glänzender gestellte Verwandtin, die zu einem Wunsche berechtigte Patin war es, der man Folge leistete.

Längeres Bedenken erregte die Art der Beförderung. Das blutjunge Fräulein konnte nicht allein und nicht in der gelben Postkutsche reisen; der Vater, wie er es am schicklichsten gefunden haben würde, nicht die Begleitung übernehmen, da der Termin der Einladung mit dem einer kurfürstlichen Revue zusammenfiel, die Mutter aber kränkelte seit einiger Zeit, und der Arzt hatte ihr das Fahren strengstens untersagt.[105]

Die Verlegenheit wurde indessen bestens gelöst, da »Muhme Justine« sich freiwillig als Duenna und Reiseschutz erbot. Denn wenn auch hundert Meilen zurückzulegen gewesen wären, statt zwölf, und zwanzig Nachtquartiere zu halten, statt zwei, keinem Menschen auf der Welt würde die Mutter ihr Kind so zuversichtlich übergeben haben als unserer Muhme Justine.

Muhme Justine, Du Treueste der Treuen, so trittst Du denn auf dieser Reise zum erstenmal in den Rahmen meiner Geschichte, da Du doch schon beim ersten Schritt der Lebensreise gebührentlich hättest Erwähnung finden müssen. Du hast mich auf deinen Händen an das Licht getragen, hast mich geschaukelt, als die Mutterarme noch zu schwach waren für das »Hünenkind«, und niemals ist ein Pflegling mit zärtlicheren Blicken gehütet worden als die letzte Reckenburgerin von ihrer Muhme Justine.

Muhme Justine war als Witwe eines Wachtmeisters in den elterlichen Dienst getreten und hatte ihn, lediglich mit Aushilfe des Soldatenburschen, verwaltet, auch da die Pflege der Neugeborenen sie zum Range einer Muhme erhob. Alle Pflichten und Künste dieser ehrwürdigen Zunft hatte sie geübt und keine ihrer befreienden Befugnisse beansprucht. Erst als ihr »Dinchen« der Zucht einer Kinderfrau entwachsen war, vertauschte sie ihr lastvolles Amt mit dem wenigstens einträglicheren einer Wickelmutter, ohne aber auch dann sich aus dem Gesichtskreise ihres Pflegekindes zu entfernen, denn sie teilte mit der neuen Magd das Kämmerchen zwischen den Gemächern des Hofmeisters und Ehren-Purzels.

Sie hatte kein eigenes Kind gehabt und stand allein in der weiten Welt; so wurde die kleine Hardine ihr ein[106] und alles, und Gott verzeihs der großen Hardine, wenn die Liebe, die sie nicht in gleichem Maße erwidern konnte, sie späterhin manchmal wie eine Last bedrückt hat. Die kleine Hardine war ihr Augapfel, ihr Lebenszweck, ihre Hoffnung, ihr Stolz. Sie sah sie prophetisch unter den Großen der Erde, sie dereinst als Englein mit goldenem Flügelpaar vor Gottes Thron. Der übrigen Menschheit mag sie wohl dann und wann ein wenig bissig und neidisch und haberisch vorgekommen sein; aber bissig und neidisch und haberisch nur für die Rechte und Vorrechte ihres Fräulein Hardine; für ihr Fräulein Hardine sann sie und spann sie, sparte und darbte sie; Fräulein Hardine ist die Erbin der paar hundert Taler geworden, die sie kreuzerweis zusammengescharrt hatte.

Muhme Justine war fromm und bibelfest; aber die göttlichen Verheißungen genügten ihr nicht, wo es das Erdenlos ihres Herzblatts galt. Die geheimnisvollsten Wahrnehmungen mußten für sie ausgedeutet, dunkle Orakel befragt werden, und das Schlußbild sämtlicher Gesichte zeigte immer nur Glück und wieder Glück. Schon der Tauftag, der dritte des Lebens, war segenverheißend gewesen: Täuflingin hatte, während ihr das Mützchen gelöst ward, dreimal kräftig geniest: item, sie war ein Weltwunder von Geist und Gaben; sie hatte unter dem Träufeln des Taufwassers unbändig gestrampelt und gebrüllt: item, ihrer harrten der Erde Schätze und Güter. Seit dieser Weihestunde stand für Muhme Justine die gräfliche Erbschaft fest wie ein Evangelium, und es verging selten ein Tag, daß sie für ihr Goldkind nicht irgend etwas Herrliches in ihren Träumen oder Karten ausgespäht hatte. Ein Glücksbrief war angekündigt, wochenlang bevor[107] die Einladung der Gräfin die Insassen der Baderei so hoch überraschte.

Nur in einem einzigen Punkte wollten die geheimnisvollen Orakel seltsamerweise niemals mit den Herzenswünschen meiner alten Muhme stimmen. Sooft die hochwichtige Frage nach ›dem Zukünftigen‹ erhoben ward, zeigte die Seherin sich kopfhängerisch und kleinlaut, an ihr Fräulein aber erging die deutungsschwere Mahnung: »sich vor Schindern und Schabern in acht zu nehmen«. Auf einen Obsieg des Herzkönigs schien die Muhme nach manchen leidvollen Proben verzichtet zu haben; aber selber die vielverheißendste Konstellation des Grünkönigs wurde im letzten Augenblicke jederzeit von einem ausverschämten Schellenunter gekreuzt.

Wer war nun aber dieser unvermeidliche Schellenunter, der die Nachtruhe meiner alten Muhme so grausam störte? Eine Zeitlang hatte sie ein gar böses Auge auf den wortkargen, hochfahrenden Wirtssohn gerichtet; seit dessen plötzlicher Entfernung aber und dem veränderten Glückszustande seiner Braut waren die Gedanken in eine andere Bahn gedrängt worden. Der verhängnisvolle Schellenunter brauchte nicht notwendig eine Mannesperson zu sein; ja weit natürlicher war es ein Frauenzimmer, und dieses Frauenzimmer kein anderes als – unsere neue Wirtin Dorothee.

Muhme Justine war zwar keine leibliche, aber doch eine Namensbase der kleinen Dorl. Beide nannten sich Müllerin; da aber Muhme Justine ein Gemüt hegte, stolzer noch als das der Reckenburgs, hatte sie die Bevorzugung der kleinen Plebejerin von Haus aus mit unholden Blicken angesehen. »Gab es denn kein adeliges Kind Dinchen[108] zur Gesellschaft?« brummte sie anfangs, und späterhin: »Mußte es denn eine sein von einer besseren Couleur, wenn auch lange nicht so nobel und durabel wie Fräulein Hardine?« Die Schenkung und der blinkende Verlobungsring konnten natürlich keine humanere Auffassung bewirken; seit sich aber gar der bedrohliche Schellenunter unter dem Lärvchen der Schenkentrine enthüllte, hätte – abgesehen von den gesteigerten Erbschaftsaussichten in Reckenburg – der Muhme gar nichts Erwünschteres als meine zeitweise Entfernung von Hause widerfahren können.

Kaum hörte sie daher von den elterlichen Reisesorgen, so erklärte sie, daß sie sich die Begleitung nicht nehmen und ihrem Fräulein kein Härchen auf dem Wege krümmen lassen werde. Man traf seine Abrede, und unter allerlei Zurüstung gingen die Wochen im Fluge dahin.

An Dorothees Geburtstag, dem 29. September, langte die erste Sendung des fernen Bräutigams an: Brief und Schächtelchen. Sie öffnete das letztere hastig und jubelte hellauf bei dem Anblick der kostbaren Granatgehänge, die ihr als Angebinde verehrt wurden.

»Und was schreibt er?« fragte ich, nachdem sie vor dem Spiegel den großen Schmuck den kleinen Ohren eingehenkelt hatte. Sie überflog den Brief und reichte ihn mir mit den Worten: »Es steht nicht viel darin«.

Und es stand allerdings nicht viel darin. Herkömmliche Glückwünsche und eine ziemlich altmodische Redensart von ewiger Liebe und Treue und so weiter. Sie schien dem Schreiber nicht eben flott von Herzen gegangen zu sein. Eine Nachschrift brachte die Notiz, daß er alsobald von Berlin zur königlichen Armee nach Schlesien dirigiert und dort, nach Wunsch, dem Regiment Weimar zugeteilt[109] worden sei. Da die hohen Potentaten seitdem Versöhnung geschlossen, sei die kriegerische Aussicht zunächst verschoben; Schreiber aber habe in dem chirurgischen Institute zu Breslau förderliche Beschäftigung gefunden, eine Gunst, welche er nicht allein der gnädigen Verwendung seines durchlauchtigen Chefs zu verdanken habe, sondern mehr noch der eines erhabenen Geistesfürsten, bei welchem eine Empfehlung von Jena ihn eingeführt, und mit dem er eine über alle Maßen interessante Unterredung über die in das chirurgische Gebiet einschlägigsten Lehren gepflogen.

(Notabene: Jungfer Grundtext, welche die Stammtafel der sächsischen Fürsten am Schnürchen herzusagen wußte, von einem »Geistesfürsten« aber noch nie eine Silbe gehört hatte, zerbrach sich vergeblich den Kopf über Natur und Namen des Erwähnten.)

Nach in Bälde bevorstehendem Rückmarsch hoffe er, wieder durch Verwendung jenes außerordentlichen Herrn, einen längeren Urlaub zu erhalten und denselben in der Universitätsstadt Göttingen, als in der Nähe seines im Harz garnisonierenden Regiments, zu verbringen. Bis das Zeitwesen sich unvermeidlich wieder kriegerisch gestaltet haben werde, erfreue Schreiber sich sonach der fördersamsten Tätigkeit.

»Hast du Herrn Faber geantwortet?« fragte ich am Tage vor meiner Abreise Dorothee, die errötend das Köpfchen schüttelte.

»So tu es heute noch,« mahnte ich.

»Wenn ich nur wüßte, was!« sagte sie kläglich, setzte sich aber gehorsam nieder und begann ziemlich flink mit dem Dank für die wunderschönen Ohrgehänge. Nun jedoch stockte der Fluß. Sie kaute an der Feder, seufzte und rieb[110] sich die Stirn, auf welcher die hellen Angsttropfen perlten. »Helfen Sie mir ein bißchen, Fräulein Hardine,« bettelte sie endlich.

Das tat ich nun freilich nicht. Im Gegenteil, ich entfernte mich, hoffend, daß es in der Einsamkeit besser gelingen werde. Aber der Nachmittag verlief über dem sauren Werk und am Abend erst wurde das Blatt zur Durchsicht in meine Hand gelegt. »Fräulein Hardine sagt dies, Fräulein Hardine tut das,« so lautete es Satz für Satz. Aus dem eigenen Herzen und Leben kein Wort. Der wunderlichste erste Liebesbrief einer Braut! Indessen die Kleine dankte Gott, daß er fertig war, siegelte rasch mit einem Sechser und trug das Schriftstück eilig selbst nach der Post.

Der Abschiedsmorgen brach an. Eine Reise, und wäre es nur auf zwölf Meilen, eine erste Reise zumal, galt uns Kleinstädtern Anno 90 noch für einen halben Tod. Man schien sich so unerreichbar, wenn man sich nicht mehr mit Händen greifen konnte, man mochte gestorben und verdorben sein, ehe nur ein Hilferuf zu dem Verlassenen gedrungen war.

Wir saßen bei Kerzenlicht um den Frühstückstisch; keiner berührte einen Bissen, keiner redete ein Wort. Mama und ich, wir schluckten unsere Tränen tapfer hinunter, der ehrliche Vater aber ließ sie frank und frei laufen, und die kleine Dorl schluchzte laut. Der Tag begann zu dämmern, die einspännige Chaise fuhr vor; der eisenbeschlagene Seehundskoffer wurde aufgebunden, Kisten und Kober, mit Mundvorräten gefüllt, türmten sich, als ging es rund um die Welt. Vor den Türen lugten die Nachbarn in Pantoffeln und Nachtmützen; Mägde, die Wasserbütten auf dem Rücken oder den Semmelkorb am Arm, Kinder, die den[111] Betten im Schlafkittelchen entsprungen waren, drängten sich vor unserem Tor. Alle wollten Rittmeisters Fräulein, das zu einer uralten, steinreichen Erbtante auf die Reise ging, in die Kutsche steigen sehen.

Endlich erschien auch Muhme Justine mit aller Würde einer Duenna, in blendendweißer Flügelhaube und der Festschürze von grasgrünem Taft. Schon saß ich im Wagen und hatte sie den Fuß auf den Tritt gesetzt, als die Betglocke anschlug. An keinem Morgen, Mittag oder Abend hörte die Muhme die feierlichen drei Schläge, ohne zu einem Vaterunser auf die Knie zu sinken. Nur auf der Straße begnügte sie sich mit der dreimaligen Verbeugung, durch welche wir im Gotteshause dem Namen unseres Herrn und Heilandes Verehrung zollten. An dem heutigen wichtigen Tage aber beugte Muhme Justine auf offenem Markte ihre alten Knie. Der Vater nahm die weiße Zipfelmütze vom Haupte und aus dem Munde die Tonpfeife, der er bis dahin krampfhafte Wolken entlockt hatte; die Mutter, Dorothee und ich falteten die Hände zu einem stummen Gebet. »Unseren Ausgang segne Gott, unseren Eingang gleichermaßen!« rief die Muhme laut, indem sie sich von den Knien erhob. Sie kletterte in die Chaise und setzte sich geziementlich auf den Rücksitz, ihrem Fräulein gegenüber. Der Vater schloß den Schlag. Noch ein »Glückauf!« und dahin rumpelten wir auf dem holperigen Pflaster in eine neue, unberechenbare Welt.

Dank der resoluten Reisemarschallin ging die dreitägige Fahrt ohne Hindernis vonstatten. Auf der letzten Station harrte verabredetermaßen das »Spukeding« von Reckenburgs goldener Kutsche mit dem unsterblichen Schimmelzug und der gleicherweise unsterblichen Lakaienschaft.[112]

Ihr habt, meine Freunde, mich vor Jahren noch in dem schweren bronzierten Glaskasten dann und wann einen Ausflug machen sehen. Ich tat es, wie ich manches ererbte Unbequeme tat und erhielt – aus Bequemlichkeit. Es war einmal da, es genügte mir. Ich tat es aber auch mit der Absicht, das böse Ding allmählich seines gespenstischen Nimbus zu entkleiden. In diesem alten Gehäuse hatte die Gräfin ihren Einzug in Reckenburg gehalten, in ihm war sie in der ersten Zeit ihrer Herrschaft hinter von außen her verhüllenden Gardinen bei ihren Flurbesichtigungen vermutet worden. In ihm folgte ich, als einzige Leidtragende, ihrem Leichenzuge. Daß die Schimmel und Heiducken von 1750 und 1806 nicht die nämlichen waren, sondern nur von möglichst ähnlichem Kaliber und nur mit dem silberbeschlagenen Geschirr und der silberstrotzenden Livree ihrer sehr sterblichen Vorgänger behängt, brauche ich Euch nicht zu versichern.

Und wie mit der Unsterblichkeit der Schimmel und Heiducken, und wie mit der alten schwarzen Reckenburgerin selbst, wird es auch mit allen ihren übrigen Seltsamkeiten eine sehr natürliche Bewandtnis gehabt haben. Der Mensch, welcher sich aus Neigung oder Fügung dem Tagestreiben entzieht, verfällt eben dem Vergessen oder dem Märchensinn seiner Lebensgenossen.

Nun ja, sie hat in fast einem halben Jahrhundert ihre unzugängliche, dämmerige Klause nicht verlassen; aber das geschah, weil das Sonnenlicht ihre Augen blendete, und weil ein schlecht geheilter Knochenbruch ihr jede Bewegung empfindlich machte. Ja sie hat die Nächte ohne Schlummer in ihrem Stuhle aufrecht gesessen; aber nur, weil asthmatische Beschwerden ihr erst am Morgen ein[113] paar Ruhestunden gönnten. Ja sie hat sich lange Jahre fast ausschließlich von Grützbrei und Eicheltrank genährt; aber nur, weil der Magen keine kräftigere Kost mehr duldete. Nicht unerklärlicherweise trotz ihrer Diät, sondern erklärlicherweise wegen ihrer Diät hat sie sich das Dasein über das gewöhnliche Menschenmaß hinaus gefristet. Je einfacher wir, freiwillig oder gezwungen, unsere Funktionen beschränken, um so zäher wird ja das Leben. Menschen mit mangelnden Sinnen dauern gemeinhin länger als die mit völligen Sinnen. Geizige, das heißt Menschen mit verknöchertem Herzen, werden fast immer uralt.

Und so möge denn auch eingestanden sein, daß die seltsame Gründerin und Erhalterin der Reckenburg mit solch einem verknöcherten Herzen in die Grube gefahren ist. Wie sie aber von einem reichen Eingange zu diesem armseligen Ausgang gelangen konnte, das erkläre Euch ein Blick über ihren Lebenslauf, der sich auch vor meinen Augen erst nach ihrem Tode aus einer vorgefundenen Korrespondenz im Zusammenhange enthüllt hat.

Eberhardine von Reckenburg hatte von ihrem Vater nichts als die Trümmer seiner Stammburg in einem sumpfigen, verrufenen Waldwinkel überkommen. Mütterlicherseits aber war sie eine Erbtochter. In der Wiege verwaist, verdreifachte sich ihr Vermögen unter einer gewissenhaften Vormundschaft, da die Kurfürstin, ihre Patin, sie innerhalb ihrer eigenen Hofhaltung erziehen und später als Hoffräulein in ihren Dienst treten ließ. Bei ihrer Mündigkeitserklärung sah sie sich in einem Besitzstand, der ihrerzeit ein fürstlicher genannt ward.

Klug und ehrgeizig von Natur, besaß sie den Sinn, diesen Wert nach seinem Abstande von dem großenteils verarmten[114] Höflingsadel zu ermessen. Sie galt für schön, und sie galt sich selbst dafür; aber sie sah manche ihresgleichen sich und anderen mit noch größerem Rechte dafür gelten, und nach einem Karneval oder zweien, verdrängt, vergessen, von der Bühne verschwinden, sobald nicht eine andere Macht der Schönheit eine dauernde Unterlage gab. Daß von der Tugend als solcher Unterlage zu August des Starken Zeiten keine Rede war, braucht nicht erörtert zu wer den, aber auch der Adel gewährte sie nicht, denn die reinste Ahnenprobe führte eine abgeblühte Schöne bestenfalls in ein Fräuleinstift. Nur eine Goldtonne war ein zuverlässiges Piedestal. Zwischen Fest und Spiel, inmitten der gewissenlosen Herrschaft eines Brühl und seiner tollen Nacheiferer, gab es am Hofe von Sachsen ein junges Mädchen, das mit heimlichem Hohn die Schnüre seines Beutels fest in den Händen hielt und mit der nüchternen Berechnung eines Mannes seinen Schatz zu mehren verstand. Mochten die Kartenhäuser um sie her zusammenstürzen, sie stand sicher, sie durfte steigen.

Tag für Tag meldete sich ein Bewerber um die Hand der reichsten Partie des Landes. Keiner genügte ihrem hochstrebenden Sinn. Sie war dreißig Jahre alt geworden und wählte noch immer. »Der Rechte wird kommen!« sagte sie sich, wenn sie ihr Kontobuch zugeklappt und ein beredtes Schönpflästerchen auf die geschminkte Wange geheftet hatte, um ihrer Herrin – jetzt der Nachfolgerin der brandenburgischen Eberhardine – zu einem Feste des unerschöpflich erfinderischen, allgewaltigen Ministers zu folgen.

Und der Rechte kam noch zur rechten Zeit, bevor die letzte Jugendblüte gewelkt war. Was wißt Ihr, meine[115] Freunde, unter den ungezählten, länderlosen Fürstensöhnen des heiligen römischen Reichs deutscher Nation von einem Prinzen Christian? Und was braucht Ihr von ihm zu wissen, als daß er ein schöner Mann und nach den Begriffen seiner Zeit und Zone ein Genie gewesen ist: ein Genie, das heißt ein durchlauchtiger Libertin nach dem Schlage des Maréchal de Saxe – nur daß er sich auf kein Fontenoy und Rocour zu berufen hatte –, daß er an den verwandten Hof von Sachsen zurückkehrte, sei es, um nach allerlei abenteuernden Fahrten sich eine Ruhepause zu gönnen, sei es, um nach erschöpftem Erbteil sich neue Quellen aufzuschließen. Die fürstliche Sippe war der wiederholten Schröpfungen überdrüssig; das Suchen nach einer ebenbürtigen Erbin erwies sich als verlorene Mühe. Brühl glaubte daher einen Meisterzug zu tun, indem er die Blicke des unbequemen Schützlings auf das immerhin noch ansehnliche und im Ehrenpunkte untadelige Frei- und Hoffräulein von Reckenburg als eine der besten Partien in deutschen Landen lenkte.

Ob das vorsichtige Fräulein dem verführerischen Coqueluche der Damenwelt widerstanden haben würde, wenn er einfach ihresgleichen gewesen wäre, sei dahingestellt. Aber er war ein Prinz, berechtigt, um eine Kaisertochter zu werben, und diesem Zauber widerstand sie nicht. Ihr Kinder eines anderen Jahrhunderts habt keinen Maßstab mehr für eine Anschauung, welche auch den letzten Anhängsel eines Thrones hoch über alle menschlichen Ordnungen erhob und den Gesalbten des Herrn der Pflicht selber gegen die ewigen Gesetzestafeln entband; für eine Anschauung, welche einen verirrten Tropfen königlichen Blutes von höherem Adel achtete, als den, welcher in[116] den Kreuzzügen erobert worden war. Nach einer Ertötung ohnegleichen während der verheerenden dreißig Jahre hatte die Zeit über unserm Vaterlande gleichsam stillgestanden und das Säkulum der äußersten Verdumpfung des Bürgertums, des tiefsten Verfalls der Ritterschaft war noch nicht abgelaufen. Erst des preußischen Friedrich Schwert und Zepter hat die Uhr für eine neue Zeitrechnung aufgezogen.

Der Prinz von Geblüt hatte dem reichen und ahnenreichen Fräulein kein ebenbürtiges Bündnis anzubieten; sie durfte nicht seinen Namen führen; ihre Kinder – hätte er etwas zu sukzedieren gehabt – würden nicht sukzessionsfähig gewesen sein. Aber die Stellung einer fürstlichen Gemahlin auch nur zur linken Hand bot der zur »Reichsgräfin von Reckenburg« Erhobenen noch immer den ersten Rang nach den reichsunmittelbaren Geschlechtern; der Ehrgeiz sah kein erreichbar höheres Ziel, und so wurde die ursprünglichste Leidenschaft zu einem magnetischen Strom, der eine unstillbare Glut in dem so lange kalten Herzen entzündete. Die Hände, welche ein fürstlicher Gemahl mit galanter Inbrunst küßte, wie hätten sie fortan die Schnüre des Säckels ängstlich zusammenhalten mögen? Hoffart, die Herrin, hatte ihr Ziel erreicht; Klugheit, die Magd, wurde des Dienstes entlassen.

Bald war die Haushaltung in der Hauptstadt mit rangentsprechendem Glanze eingerichtet. Das junge Paar zählte zu dem Anhange der regierenden Kurfürstin-Königin und mit ihr zu den Feinden des allgewaltigen Favoriten. Am Hasse entzündete sich die Rivalität, und es war vielleicht der einzige Wermutstropfen in Eberhardines Honigbecher, daß sie ihren angebeteten Prinzen es nicht einem Emporkömmling[117] gleichtun lassen konnte, der sich Hunderte von Lakaien und eine eigene Leibgarde hielt, der, wie Friedrich der Große sagt, in Europa die meisten Pretiosen, Spitzen, Pantoffel und so weiter besaß, und mit den Narreteidingen eines verschmitzten Sklaven die träge Sultanslaune seines sogenannten Herrn bis an den Rand des Abgrundes gängelte.

War nun der Abstich schon empfindlich während der residenzlichen Winterzeit, um wie viel mehr, wenn der Sommer kam mit seinen ländlichen Festen, der Herbst mit der einzigen königlichen Passion, der Jagd. Da verging wohl kein Jahr, daß nicht der schöpferische Minister in einem eigenen neuen, aus dem Boden gestampften Prachtbau seinem Herrn ein Feenspiel oder eine Sauhetze bereitet hätte. Der Parvenü zählte seine Lustschlösser und Jagdgebiete nach Dutzenden; der Prinz von Geblüt erfreute sich keiner Handbreit eigenen Landes und auch das Vermögen seiner Gemahlin war nicht in Grundbesitz angelegt.

In dieser Verlegenheit gedachte man der alten, verwüsteten Reckenburg, und da romantische Naturschönheit so wenig wie fruchtbringende Bodenkultur in der Berechnung lag, fand man die erwünschteste Gelegenheit: in der Nähe eines schiffbaren Stromes ein Waldrevier mit einem Wildbestand, dessen die verzweifelnden Bauern trotz gewaltsamster Selbsthilfe auf ihren kargen Feldstücken sich nicht erwehren konnten. Man feierte zum voraus im Geiste die Gondelfahrten, Hetz- und Treibjagden, die auf diesem ältesten Reckenburgschen Grunde arrangiert werden sollten, sobald an Stelle der eingeäscherten Burgtrümmer ein Neubau, stolzer als alle Schöpfungen Brühls, sich erhoben haben würde.[118]

Allerdings erforderte dieser Neubau Jahre; Jahre deren sommerliche Hälfte in Ermangelung einer standesmäßigen Residenz auf Reisen verbracht werden mußte. Welche Verlockung nun aber, sich in den kunstfertigsten Ländern Europas mit den Erzeugnissen des Luxus und der Mode für die heimatliche Einrichtung zu versehen!

Endlich stand der heißersehnte Palast aufgerichtet; der letzte Marmorsims, das letzte Getäfel waren eingefügt; Stukkatur und Schnitzwerk, Gobelin und Brokat, vor allem das gräflich gekrönte fürstlich-freiherrliche Allianzwappen nicht gespart. Der junge Heckenwuchs des Lustgartens sproßte; Faunen und Amoretten sprudelten einen Willkommenstrahl; Keller und Speicher waren zum Übermaß gefüllt; eine Reihe von Festen sollte den Einzug des hohen Paares verherrlichen.

Da, in der letzten Stunde, enthüllte sich der Abgrund, in welchem mit der Fülle des Säckels die Treue des Geliebten versunken war. Ein Zufall lüftete den Schleier. Ob aber in Wahrheit der Taumel der Lust die scharfblickende Frau so lange verblendet hatte? Ob sie nicht freiwillig die Augen geschlossen, solange ein Tropfen in ihrem Freudenkelche übrigblieb? Ich glaube das letztere. Sie würde mit diesem Manne, sie würde für ihn gedarbt, ja sie würde seine Untreue geduldet haben, wenn er an ihre Seite zu bannen gewesen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen die alternde Schöne den verwöhnten Lüstling gefesselt hatte, sie sah sie geschmolzen. Kein Jahr mehr dieses schrankenlose Treiben, und sie war eine verlassene Bettlerin. So willigte sie denn in eine Scheidung als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz, sondern einfach ihre Existenzmittel zu retten. Der flottlebige[119] Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm gestattete, seine Wünschelrute nach einem neuen Glücksborn auszuwerfen.

Während er nun in Italien und Rußland, den beiden Pflegestätten prinzlicher wie plebejischer Abenteurer jener Zeit, das unstete Treiben seiner Jugendjahre erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, gestaltete die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um so stetiger. Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr schön und, nach ihrem Maßstabe, arm. Was Wunder, daß ihr die Welt verleidet, ja daß sie ihr verhaßt geworden war. So bezog sie denn das Erbe ihrer Väter mit dem Entschlusse, den alten Grund zu einer Fundgrube für die erschöpfte Schatzkammer umzuarbeiten.

Nach außen hin mußte der überkommene Rang behauptet werden, der gewohnte Glanz gehütet, die gehaßte Welt, und mehr als sie der noch immer geliebte Freund über den wirklichen Mangel getäuscht werden. Er sollte fühlen, welche Befriedigungen er so leichtfertig aufgegeben hatte. Daher die Marotte, die sie von einem soliden Harpagon unterschied, allen und jeden Besitz, den sie beim Einzug in ihren Neubau vorgefunden hatte, zu erhalten und beim Verbrauch zu ergänzen, auch wenn er ihrem persönlichen Leben überflüssig geworden war und, statt Zinsen zu tragen, Opfer forderte. Kein Menschenauge, am wenigsten das der Gräfin, erfreute sich des weitläufigen Ziergartens rings um das Schloß, aber Hecken und Pyramiden wurden regelrecht verschnitten, Pfade und Schnörkelbeete säuberlich gepflegt, Statuen und Ornamente von ihren Beschädigungen durch Wetter und Zeit geheilt. Man feierte keine Festgelage, empfing keinen Gastfreund[120] auf Reckenburg, aber die Fülle des Tafelgeräts, alle der zwecklosen Kostbarkeiten, die, veräußert, in jener klammen Zeit ein nicht gering zu schätzendes, zinstragendes Kapital abgeworfen haben würde, sie blieben, nur durch periodisches Reinigen vor Rost und Staub geschützt, unverrückt an ihrer Stelle. Ja selbst die massenhaften Vorräte in Speicher und Keller wurden schleunigst ergänzt, sobald ein Bruchteil davon in Gebrauch genommen worden, gleichviel, ob der Rest verhärtete, vergilbte, bei der genauesten Aufsicht nicht vor Wurm und Moder zu schützen war. Daher schreibt sich die Unsterblichkeit des nie mehr benutzten Schimmelzugs, die der prunkvollen Lakaienschaft. Die Rache der seltsamen Erhaltungskünstlerin hieß reich werden und reich scheinen, bis sie es geworden. Der angeborene kluge Sinn des Sammelns und Vermehrens, durch eine übermächtige Leidenschaft zeitweise verdrängt, trat wieder in seine Rechte.

Es war die Arbeit eines Kolonisten im Hinterwalde, welche ein einsames, in der Atmosphäre eines üppigen Hofes gealtertes Weib unternahm. Niemand ahnte, wie erschöpft ihre Mittel und wie geboten von Anfang ihre persönlichen Einschränkungen waren. Niemand hat daher auch in vollem Umfange die Klugheit, Kraft und Ausdauer gewürdigt, mit welcher sie ihr Werk ins Leben setzte.

Man freut sich heute der Kultur einer Gegend, die vor hundert Jahren ein bruchiger Waldwinkel war, und mit Scham höre ich mich häufig als deren Schöpferin gerühmt. Ich bin aber nur auf die Schultern meiner Vorarbeiterin getreten; die Grundlegung, die unsägliche Schwierigkeit der Urbarmachung ist ihr Verdienst. Sie[121] hat die Sümpfe ausgetrocknet und die Kanäle gegraben, Forsten reguliert, bequeme Transportwege, umfängliche Wirtschaftsbauten angelegt, auf verschlemmten Äckern neue Kulturen eröffnet, sie hat den umfänglichen Deichverband hergestellt, durch welchen unsere Flur gegen die häufigen Übertretungen des Stromes geschützt wird. Sie hatte die Mühe, ich Lohn und Dank, weil sie mich sicher genug gestellt hatte, um über das eigene Gebiet hinaus zu reformieren; sie erntete Spott und Grauen, ich den Segen, welcher von der Einzelarbeit auf die Gesamtheit, von der Gesamtarbeit auf den einzelnen zurückwirkt, jenen ersten Segen alles Schaffens, groß oder gering, der auch mir, dem einsamen Weibe, zu einem erfüllten Dasein verholfen hat.

Kaum hatte die unerschrockene Pionierin sich aus dem Gröbsten herausgewunden, kaum trieben ihre Saaten die erste Frucht, als der Krieg ausbrach, welcher auf wenige Gegenden unseres Vaterlandes härter gedrückt hat als auf diese. Was ich den einzigen Sommer von 1813 hindurch erduldet habe, das erduldete diese Frau sieben Jahre. Wo ich aus dem Vollen schöpfen durfte, sah sie den besten Teil ihrer Anlagen zerstört, und in einem Alter, wo andere sich zur Ruhe neigen, fing sie unverdrossen ihr Werk von neuem an.

Und welchen Mut, welche Entschlossenheit hat die alleinstehende Matrone gegenüber der Ungebühr der Armeen von Freund und Feind an den Tag gelegt; wie beherzt hat sie sich der Scharen der Marodeure und des einheimischen Raubgesindels, das noch lange nach dem Friedensschlusse sich in unseren Wäldern eingenistet hatte, zu erwehren gewußt. Es ist buchstäblich wahr, daß die schwarze Reckenburgerin,[122] ein geladenes Pistol in der Hand, ihre beiden riesigen Heiducken bewaffnet hinter sich, die Schwelle ihres Hauses gegen diesen wüsten Zudrang verteidigte.

Diese Heldentat kann als Keimsaat des abenteuerlichen Spukwesens betrachtet werden, das allmählich über die wunderliche Gräfin in Schwang geriet. Die gespenstische Gestalt wuchs, als die leibhaftige Gestalt, da wo sie bisher wenigstens gemutmaßt worden war – das heißt während ihrer Flurbesichtigung in der verhüllten goldenen Kutsche – plötzlich verschwand. Von der Zeit ab sah sie unser Volk im spanischen Habit, Tag wie Nacht, die Schätze ihrer Klause mit Drachenaugen hüten und mit feurigen Waffen verteidigen. Unermeßliche Schätze, je höher die Ziffer gegriffen, desto einleuchtender für das hungernde, lungernde Gesindel, das nur nach Hellern und Kreuzern zu rechnen verstand und niemals einen Heller oder Kreuzer aus der Hand der zähen Alten besehen hatte.

Ob die Gräfin von diesem fabelhaften Nimbus um ihre Person jemals Kunde erhalten hat, weiß ich nicht. Ohne Zweifel aber würde er ihr, anstatt widerwärtig, willkommen erschienen sein als sicherstellende Schicht gegen eine beschwerliche oder bedrohliche Welt. Sie hat mit richtigem Blick den östlichen Erkerbau des Schlosses zu ihrer Schlaf- und Schatzkammer ausersehen, weil er, von außen unzugänglich, auch von innen die größtmögliche Sicherheit bot. Handwerker, aus weiter Ferne verschrieben, hatten in die tiefsten Nischen feuerfeste Schränke mit kunstvollen Schlössern eingefügt. Nur durch eine maskierte Schranktür stand der »Goldturm« mit dem Zimmer der alten, vertrauten Kammerfrau und durch dieses mit dem Korridor in Verbindung, auf welchem die beiden abwechselnd Wache[123] haltenden Heiducken die Befehlsvermittler zwischen Turm und Wirtschaft wurden, während die Gebieterin hinter Schloß und Riegel ihr Kredit und Debet buchte oder Dokumente und Barschaften in den geheimen Eisenschränken barg. Sie kränkelte; die Arbeitskraft minderte und die Arbeitslast mehrte sich. Bald war kein Fortkommen mehr von der gewichtigen Stätte; denn wenn auch nicht in dem Wundermaße des Volksglaubens, die wohldurchdachten Anlagen trugen nach dem Frieden hundertfältigen Gewinn.

Sie hatte während des Krieges den größten Teil ihrer Juwelen in England veräußern lassen, da dieses Opfer einstigen Schimmers bei ihrer Lebensweise am wenigsten in die Augen sprang. Der Erlös davon, meine Freunde, das war der Grundstock ihrer vermeintlichen Wunderschätze! Ein bescheidener Sparpfennig, der aber zu einem Heckpfennig wurde in einer Zeit, wo der Bodenwert auf ein Minimum herabgedrückt war, wo Gemeinden und einzelne um einen Spottpreis das Besitztum verschleuderten, für dessen Bestellung Menschenhände und Saatkörner mangelten. Binnen eines Jahrzehntes hatte sich das Areal der Reckenburg verdoppelt, binnen eines zweiten vervierfacht. Konnte das Kapital auch nur ratenweise abgetragen werden, schon eine regelmäßige Verzinsung galt in jener goldarmen Zeit als eine vielgesuchte Gunst.

Und wie auch in anderer Weise das allgemeine Elend dem Gedeihen des einzelnen in die Hand arbeitete, das zeigt unter anderem die Hungersnot der siebenziger Jahre, wo der Scheffel Roggen auf zwanzig Taler stieg. Kalkuliert, wie da die strotzenden Speicher der Reckenburg – in Staat und Volk die Wirtschaftsmaxime einer schwer[124] beweglichen Zeit – sich leeren und die entleerten Geldtruhen sich strotzend füllen mußten. Wo Tauben nisten, flattern Tauben zu!

»Die ersten hunderttausend Taler kosten Schweiß. Wem aber die nächsten neunmalhunderttausend Schweiß kosten, ist ein Tropf!«

Als die Millionärin der Reckenburg in ihrem letzten Stadium, mit funkelnden Augen, mir dieses Geständnis ablegte, da war sie in Wahrheit die verknöcherte Mumie, deren Herz nur noch in der Wacht über ihre Schätze schlug. Zu der Zeit aber, als sie diese Schätze mühsam erarbeitete, und selber zu der noch, als sie mich zuerst in die Geheimnisse ihres Goldturms einweihte, da war sie die herz- und geistlose Mumie nicht, denn damals schaffte, darbte, sammelte sie für einen Zweck; richtiger: sie schaffte, darbte, sammelte für eine Person.

Und das ist der Grund, aus welchem ich vor Euren Augen, meine Freunde, zwischen den beiden letzten Reckenburgerinnen – längst nicht so genau, wie mich verlangt – die Bilanz gezogen habe. Ihr solltet wissen, was die Frau tat, die Eure Heimat urbar machte; was die Frau war, welche in keinem Menschenherzen, außer dem meinen, eine Spur und in der zähen Vorstellung des Volkes das Bild eines goldgierigen Dämons hinterlassen hat. Ihr solltet diese Frau in einem guten Lichte sehen, und in welchem besseren hätte ich sie glücklich liebenden Menschen zeigen können, als in dem der unwandelbaren Treue gegen den treulosen Mann, in jenem heimlichen Feuer, welches der Sporn ihres Treibens und Wühlens geworden war.

Sie hatte alle früheren Verbindungen harsch abgebrochen und nur mit einem alten Freunde, der am Hofe von Sachsen[125] eine vertrauliche Stellung einnahm, eine Korrespondenz unterhalten, um von dem Schicksale des Unsteten jederzeit in Kenntnis zu sein. Sie wußte daher, daß er schwelgte und schweifte, während sie sich keine Raststunde gönnte, im Eifer das wieder aufzurichten, was er zerstört hatte. Sie wußte, daß er ein verschuldeter Ärmling geblieben, während sie zum zweitenmal die reiche Reckenburgerin geworden war. Hätte er aber, wenn auch nur als Begehrender, sich dem Hause genaht, dessen Ansehen sie so peinlich bewahrte, sie würde, nach dem Triumph dieser Genugtuung, ihn mit Entzücken als Herrn willkommen geheißen, würde ihm noch einmal die Schlüssel ihrer Schatzkammer überantwortet und ihr Werk von vorn begonnen haben, um ihm, auch nach ihrem Abscheiden, eine fürstliche Herrschaft zu sichern.

Viele Jahre lang hatte die Hoffnung seiner Heimkehr sie bei ihrer einsamen Arbeit getragen, und sie war eine runzlige Matrone geworden, ehe sich dieselbe erfüllte. Endlich wußte sie ihn im Vaterlande – und die nächste Kunde, die sie über ihn erhielt, war die seiner Vermählung mit einer Ebenbürtigen! An der Grenze des Alters folgte er, so schien es, einer Wallung wahrhaftigen Gefühls, denn die junge Prinzessin war so arm wie er selbst.

Die Kraft, welche so vielen Gefahren und Anstrengungen widerstanden hatte, brach bei diesem unberechneten Schlage zusammen. Ihre Kammerfrau fand die Gräfin bewußtlos am Boden liegend, den verhängnisvollen Brief in der Hand. Ein Hüftbruch, den sie sich bei diesem Falle zugezogen hatte, machte sie für den Rest des Lebens zum Krüppel.

Dennoch, nach langer, qualvoller Niederlage, war ihr erster, klarer Gedanke wieder an den ungetreuen Mann.[126] Ja alle ihre Hoffnungen lebten kaum nach Jahresfrist wieder auf bei der fast gleichzeitigen Kunde von seiner Vaterschaft und Verwitwung. Nun mußte er ja kommen, seinem mutterlosen Sohne eine Heimat und eine Erbstätte bei ihr aufzusuchen.

Es war die letzte Hoffnung, die ihr der Geliebte täuschen sollte. Der nächste Brief brachte die Botschaft seines abermaligen Entfliehens, der übernächste die seines Todes. Unter den Fahnen Katharinas, seiner Gönnerin, war er in dem Krimfeldzuge von Einundsiebenzig geblieben.

Die Gräfin legte Trauerkleider an und niemals wieder ab. Sie war und blieb die Witwe eines Fürsten. Sie schaffte, darbte und sammelte nach wie vor. Von der Flamme, die ihr Leben durchleuchtet hatte, war noch ein Abglanz zurückgeblieben; sie schaffte, darbte und sammelte für ein armes, ungekanntes, für ein verlassenes Menschenkind.

Was sagt Ihr jetzt, meine Freunde, zu der gespenstischen Alten auf Reckenburg?[127]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 104-128.
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