Achtes Kapitel

Muhme Justines Pflegling

[211] Auf der letzten Station blieb Dorothee zurück. Der geistliche Herr und ich rollten in Reckenburgs goldener Kutsche unserem Ziele entgegen.

Die Gräfin schlummerte, als ich auf dem Schlosse anlangte. Ein böser Zufall, dessen Anlaß ich nur zu gut erriet, hatte ihre Kräfte härter denn jemals mitgenommen.

Es war die von neuem bewährte Leibwärterin, welche mir die Auskunft gab, und so konnte denn das, was mir zunächst am Herzen lag, gleich in der ersten Stunde seine Erledigung finden. Verschwiegenheit und Zustimmung waren mir zum voraus verbürgt, schon weil ich es war, die sie erbat. Im übrigen brachte die Pflege ein Stück Geld und die demütigende Abhängigkeit der »Jungfer Obenaus« einen erquickenden Kitzel. Von schweren, sittlichen Bedenken konnte bei einer Helferin ihres Zeichens füglich nicht die Rede sein.

Wir wurden daher ohne Markten handelseinig:

Die Muhme holte am andern Tage ihre Schutzbefohlene aus der Stadt ab, nahm sie in Kost und Pflege und ließ sie, wenn einer nach ihr fragen sollte – unwahrscheinlicherweise, da »Bauern nicht wie Stadtbürger wissenschaftlicher Komplexion sind« –, für eine Angehörige, die kürzlich Witwe geworden war, gelten. Vor allem anderen übernahm sie die Auseinandersetzung mit dem Prediger, dem die unbedingte Wahrheit gesagt werden mußte. Daß unser Übereinkommen gewissenhaft und mit dem besten Gelingen durchgeführt worden ist, sei zum voraus berichtet.[211]

Nicht ohne Bewegung ging ich nun dem Wiedersehen der Gräfin entgegen. Mir, der Jugendlichen, war ja nur ein Traum entwichen, ein flüchtiges Glück, das ich erst seit unserer Trennung hatte kennen lernen. Ihr, der Urgreisin, war der Bau eines langen Lebens in Trümmer gestürzt. Ich mußte auf eine tiefe Wirkung vorbereitet sein.

Was ich aber gewahren sollte, das war die Verwüstung eines sengenden Strahls, und Gott weiß, unter welchen Qualen ich lange Jahre hindurch in meiner stillen Reckenburger Flur gegen sein nachzehrendes Feuer gerungen habe. Schon bei diesem ersten Wiedersehen fand ich die Gestalt zusammengesunkener – die Bewegungen hilfloser, die Rede knapper; eine Spur innerlichen Lebens nur noch in dem kalten, stahlscharfen Blicke der Gier. Die Herrschaft war ausgestorben, und die Magd, die sich frühe und zähe in ihrem Dienste ausgebildet hatte, die Alleingebieterin in dem verödeten Hause.

Jetzt, das heißt seit der Stunde, in welcher die Todesbotschaft von Valmy sie erreicht hatte, jetzt war sie und wurde von Tag zu Tag mehr »die schwarze Reckenburgerin«, zu welcher die Volksphantasie die einsame Erhalterin seit einem Vierteljahrhundert ausgearbeitet hatte. Jetzt glich sie den dämonischen Märchenwesen, die Metalle hegen und hüten, lediglich um ihres Glanzes willen; die der Kupferheller schmerzt, welcher dem eigenen Bedürfnis geopfert werden muß. Ich sage Euch, wie ein Herkules habe ich um die Erhaltung der nutzbringendsten Anlagen gekämpft, und es war am Ende nur die achtzigjährige Gewöhnung, welche das Getriebe mechanisch und methodisch zusammenhielt.[212]

Die Korrespondenz mit Dresden verstummte; der einzige Festtag auf Reckenburg fiel aus, und niemals wieder hat der Name des erkorenen und verlorenen Erben der Greisin Lippen berührt. Sie dachte nicht mehr an Sterben und Vererben. Existierte aus früherer Zeit eine letztwillige Verfügung, und zu wessen Gunsten? Niemand wußte es. Die Testatorin aber würde keinen Federstrich getan haben, um sie zu widerrufen oder umzuändern. Ein Mensch war ihr so gleichgültig wie der andere; sie kannte keine Pflicht. Sie wollte leben, nur leben. Die Ewigkeit würde ihr nicht zu lang gedeucht haben, allein, neben ihrem funkelnden Schatz. Kam es aber eines Tages zum Ende, nun, wenn dann die Erde unter ihrem Goldturm sich geöffnet hätte, es würde ihr das rechte, das willkommenste Ende gewesen sein.

Vierzehn Jahre noch, die letzten der Jugend, sind mir hingegangen in Abhängigkeit von dieser Mumie mit dem einen überlebenden Sinn; und sicherlich nicht ohne haftende Spur. Wohl waren die Anlagen, die wir weibliche nennen, von Haus aus nur schwächlich in mir organisiert; die Stunden in dem Goldturm der Reckenburg aber, wenn auch nur wenige jeden Tag und durch Arbeit gefüllt, sie haben in mir die letzte Fähigkeit unterdrückt, einem häuslichen Wesen die anheimelnde Spur, eine Physiognomie einzuprägen, wie das bescheidene Erdgeschoß der Baderei sie doch so beglückend getragen hat. Die Nachwirkung jener Stunden hat auch den westlichen Turm der Reckenburg zu einer Klause werden lassen, und wenn ich, ihnen zum Trotz, die Grundrichtung meiner Natur durchgeführt habe, so danke ich es der Werkstatt unter Gottes freiem Himmel, die mir rings um ihn erschlossen blieb.[213]

Ihr seid noch zu jung, meine Freunde, seid, gottlob! zu beglückt durch Euer wechselseitiges Selbst, um zu ermessen, wie solch eine Werkstatt unter freiem Himmel einem Menschen zur Welt, ja zum Schicksal werden kann. Aber macht einen alten Bauersmann gesprächig, und Ihr werdet über seine Erlebnisse auf der armen Hufe staunen.

Nun jedoch eine Schöpfung, wie die der Reckenburg, so mühsam umgewandelt, so weithin angewachsen, so fruchtbringend schon heute, so segenverheißend für eine kommende, freiere Zeit, da wird jeder Findling des Feldes zu einem weiterfördernden Mittel, die kümmerlichste Pflanzung zu einem beseelten Wesen. Wir sehen die Ernte in dem aufgehenden Halm und in der absterbenden Stoppel die Befruchtung für eine neue Saat. Uns schmerzt jeder Baum, dessen Alter der Axt verfällt, und wir freuen uns jedes jung aufstrebenden Keims; wir führen fremde Kolonisten in die beschränkte Gesellschaft, die unserer Scholle von alters her entsproß, unsere Kenntnis wächst, die Erfahrung wird bunter mit jeder Färbung und Form.

Und wie befreunden wir uns mit der tierischen Kreatur; wie forschen wir nach ihren Trieben, Sitten und Gesetzen, lernen ihre Lebensart verbessern und ihre Gaben immer reichlicher verwerten! Seht Eure Herden Tag für Tag auf ihrer Trift, und Ihr unterscheidet an jedem einförmigen Schaf oder Rind ein Gesicht und ein Geschick.

Endlich aber, ganz zuletzt, die menschlichen Genossen in dieser abgeschiedenen, kleinen Welt. Es ist kein Paradiesesgarten, meine Freunde. Gleichgültiger als an der weidenden Herde geht der Fremdling an den stumpfen, entarteten Gestalten vorüber, schätzt sie niedriger als das Wild des Waldes in seiner unverkümmerten Schöne und dem[214] ungebrochenen Instinkt. Aber Schritt für Schritt schwinden Ekel und Langeweile, wächst der aufmerkende Trieb. Allmählich werden sie uns vertraut, die platten Gesichter, denen wir jede Stunde begegnen, deren mühseliges Tagewerk wir verfolgen von der Wiege bis zum Grabe. Wir schütteln die rauhe Hand, die mit uns arbeitet an der Umbildung unserer heimatlichen Scholle, dringen aus dem allgemeinen in das persönliche Leben zurück, forschen nach der Spur des göttlichen Ebenbildes in unserem Mitgeschaffenen, streben, sie ihm selber kenntlich zu machen und ihn höher zu fördern in der Reihe der Wesen, die einen Schöpfer ahnen und bekennen.

Solch eine kleine Welt war mir untergeordnet, mir zunächst, ja mir allein. Sie hatte ich zu schützen vor dem Verfall, welchem eine wahnsinnige Leidenschaft sie preisgab; sie der Zukunft zu erhalten, gleichviel, ob dieselbe mir oder einem Fremden zugute kam; und je schwieriger der Ringkampf um die Mittel, desto tiefer wurzelte die Neigung, desto hartnäckiger der Widerstand. Diese uneigennützige Liebe ist mein Verdienst um Reckenburg, weit mehr als die freie, beglückende Wirksamkeit in einer späteren Zeit.

Auf diesem meinem Arbeitsfelde ertrug ich denn auch leichter, als ich nach der traurigen Episode des Herbstes hätte ahnen sollen, den Schicksalswinter von dreiundneunzig mit seinem ätzenden Hohn. Als die Kunde des einundzwanzigsten Januar kannibalisch schreckend bis in unseren stillen Waldwinkel drang, da pries ich meinen jungen Helden selig, der in der letzten Hoffnungsstunde geendet hatte, während seine Kampfgenossen wie von einer Narrenfahrt zurückirrten und den königlichen Märtyrer, zu dessen[215] Erlösung sie den Kreuzzug erhoben hatten, unter dem Henkerbeile fallen sehen mußten.

Auch Dorothee hatte sich so friedlich eingelebt, als es in ihrer Lage möglich war. Der Herbst brachte noch heitere Tage, die in das Freie lockten; die Wunde verharschte in der Stille ländlicher Natur; die Schande drückte sie nicht, da sie keinem begegnete, der sie ihr vorgeworfen hätte, und an die Sünde – wenn sie die Sünde überhaupt jemals gefühlt – wurde sie um so weniger erinnert, da heuer auch der übliche Weihnachtsbrief Siegmund Fabers ausblieb.

Kehrte ich bei meinen Wanderungen durch den auch im Winter belebten Wald in dem einsamen Muhmenhause ein, so fand ich Dorothee flink und zierlich mit einer Handarbeit beschäftigt, wie sie die Sorge für ein junges Leben nötig werden läßt. Die Kinderlaune wachte in ihr auf, sie tändelte mit dem kleinen Gemäch wie zu der Zeit, wo sie unter meinen verwunderten Blicken ihre Puppen ausstaffierte. »Wie reizend!« rief sie dann wohl aus, indem sie ein Mützchen, mit bunten Glasperlen durchstrickt, auf ihren Fingern wiegte; »wenn da erst so ein Engelsköpfchen daruntersteckt! Ach wie freue ich mich. Ich habe Kinder immer so liebgehabt, Fräulein Hardine.«

An einem der ersten Frühlingstage, mit Störchen und Drosseln um die Wette, fand ich das neue Erdenkind in dem Muhmenhause eingeflogen. »Zu früh«, wie die bewährte Pflegerin versicherte, wenngleich das Männchen ein gar stattliches Ansehen trug und die junge Mutter sich heil und frisch fühlte wie ein Fisch im Wasser. Freudentränen träufelten auf das Kind in ihrem Schoß. »So schön, so wunderschön!« rief sie entzückt. »Ach wie habe[216] ich es lieb, wie bin ich glücklich, Fräulein Hardine! Niemals, niemals könnte ich mich von dem kleinen Engel trennen.« Bei welcher Entzückung Ehren-Justine freilich eine gar hämische Grimasse zog und mir beim Hinausgehen zuraunte: »Das wäre der erste Wildling, der eine dauerhafte Mutterliebe genösse! Was nicht im Ehebett geboren worden ist, das verfliegt wie Spreu.«

Indessen wußte sie, immer unter der Rubrik »zu früh«, schon anderen Tages eine häusliche Nottaufe einzurichten, bei welcher sie und ich Gevatterinnen wurden. Der Knabe erhielt den Vaternamen August und ist unter dem seiner mütterlichen Familie gesetzmäßig durch den Prediger in das Kirchenregister eingetragen worden. Niemand würde leichtlich diesen Namen in den Annalen unseres wüsten Walddörfchens gesucht und aufgefunden haben. Als aber etliche Jahre später der Blitz die Kirchenbücher in der Sakristei vernichtete, da gab es nur noch ein einziges Dokument über August Müllers Geburt, und Ihr werdet es an einer anderen Stelle diesen Blättern beigeheftet finden.

Solange Dorothee Bett und Zimmer hütete und ihren Knaben an ihrer Seite liegen sah, hegte sie kein Verlangen, als so lange als möglich in Reckenburg zu weilen und sich späterhin irgendwo häuslich mit ihm einzurichten. »Was kümmern mich die Leute!« entgegnete sie lächelnd den Einwänden der Muhme; »ich habe ja mein Kind!« Die Muhme aber blieb brummend bei ihrem Satz: »Schnickschnack Kind! Selber noch ein Kind! Die braucht einen Mann und nicht ein Kind!«

Ich schalt darüber heimlich und laut mit meiner alten Getreuen, zumal als sie auch nach Dorothees Herstellung[217] die Pflege des Knaben ausschließlich in ihrer Hand behielt und ihre Hintergedanken bei dieser Diktatur wenig verhüllte. Möglich allerdings, daß das »halbschürige Lamm, die Dörte«, für des kräftigen Knaben Ernährung sich zu zart erwies, und sehr wahrscheinlich, daß ihre von jeher unliebsame Gegen wart der Alten auf die Dauer lästig fiel. Ganz gewiß aber war, daß der unversöhnliche Schellenunter von neuem seine Streiche spielte. Sie ahnte ja nicht, daß er im verwichenen Sommer die Orakelweisheit bereits wahr gemacht hatte. Er lauerte noch immer, und jetzt doppelt bedrohlich, unter der Kappe der anrüchigen Dirne, zu deren Patronin ihr Fräulein sich erhoben hatte, und so ruhte sie denn auch nicht, bis sie die Gefährliche außerhalb des Weichbildes sah, das sie, seitdem sie selbst sich darin niedergelassen hatte, für ihres Fräuleins eigentliche Heimat hielt.

Dorothee aber, wie sie die Ernährung ihres Kindes einer Ziege und seine Wartung einem despotischen Willen überlassen mußte, wie sie müßig in dem dürftigen Waldhause unter dem schnöden Gebaren ihrer Wirtin gebannt saß, da merkte ich gar wohl, daß das Herz sich im stillen nach der Freiheit und dem Behagen des eigenen Heimwesens zu sehnen begann. Sie langweilte sich, sie wurde unruhig. »Was soll aus mir werden?« seufzte sie und klagte: »Ich bin doch recht unglücklich, Fräulein Hardine.«

Ich hatte in diesem Jahre den gewohnten Reisetermin vorübergehen lassen, weil die Stimmung der Gräfin und die mit dem Frühling wachsende Tätigkeit eine ununterbrochene Vermittelung zwischen Turm und Flur notwendig machten. Zwischen Saat- und Erntezeit gedachte ich auf etliche Wochen heimzureisen und hatte mich zum[218] voraus für eine Postfahrt entschlossen. Zählte ich auch erst achtzehn Jahre, so fühlte ich mich seit den Erfahrungen des vorigen Sommes selbständig genug, um getrosten Mutes eine Reise um die Welt ohne Begleitung anzutreten.

Schon im Mai wurde ich indessen durch einen aufregenden Zwischenfall in die Heimat zurückgerufen. Des Vaters Regiment gehörte zu dem Kontingent, das der Kurfürst zu dem Reichskriege gegen Frankreich gestellt hatte; der Vater selbst aber war bei den Depots zurückgeblieben, und wir alle, obgleich gewiß keine weichlichen Naturen, fühlten uns dessen froh. Was durfte nach den Erlebnissen des vorigen Herbstes von diesem Feldzuge erwartet werden? Wer hoffte denn noch auf eine rechtzeitige Rettung der unglücklichen Königin und ihrer Kinder, nachdem man den König geruhig hatte morden lassen? Für das bedrohte Königtum und den bedrohten König eines fremden Landes würden wir mit religiöser Freudigkeit unsere Teuersten sich haben opfern sehen – wir, sage ich, meine Freunde, und meine damit durchaus nicht bloß uns Frauen, sondern, mit etwaiger Ausnahme des Predigers, alle Männer, stattliche, brave Männer, des mir zugänglichen Kreises –, aber was kümmerte es uns viel, daß deutsches Recht verhöhnt, daß deutsches Land jenseit und selber diesseit des Rheins gebrandschatzt, verheert und dauernd in Besitz genommen wurde? Erst zwanzig Jahre später, nach einer ungeheuren Umwälzung der Gemüter, haben wir den Wert vaterländischer Erde auch außerhalb unseres heimatlichen Gaues schätzen lernen, und dadurch erst, nicht durch die Bezwingung eines Eroberers, der früher oder später seinem Despotenwahnsinn zum Opfer gefallen sein[219] würde, durch diese Schätzung erst sind die Befreiungskriege zu einem bleibend hochherrlichen Segen für unser Volk geworden.

Bei dieser Gleichgültigkeit gegen den Kampfeszweck traf es mich wie ein Unglücksschlag, als mein Vater plötzlich seinem dreißigjährigen Friedensdienste entrückt und mit Majorsbeförderung zu der Armee vor Mainz befohlen wurde.

Sobald ich diese Nachricht erhalten hatte, bereitete ich meine Abreise für den nächsten Morgen vor, und es blieben mir nur wenige flüchtige Minuten zum Abschied in dem Muhmenhause. Peinlich, trotz aller Aufregung, empfand ich die Notwendigkeit, Dorothee in der Heimat als krank zurückgeblieben aufführen und auf diese Weise mich der ersten buchstäblichen Lüge in meinem Leben schuldig machen zu müssen.

Sie sollte mir indessen erspart werden, denn zu meinem unaussprechlichen Staunen fand ich, als ich am Morgen vor dem Posthause eintraf, meine Schutzbefohlene, zur Rückreise gerüstet, meiner harrend – allein, ohne ihr Kind. »Es läßt mir keine Ruhe, ich muß dem lieben, gnädigen Papa zum Abschiede noch einmal die Hand küssen. Solch ein gütiger, herzlicher Vater von Kindesbeinen an auch für mich, Fräulein Hardine!« schluchzte sie und setzte dann hastig, mit niedergeschlagenen Augen, hinzu: »Der Kleine ist ja versorgt; die Muhme versteht es ja weit besser als ich, Fräulein Hardine, und zum Herbst nehmen Sie mich wieder mit zurück.«

In unverhohlener Entrüstung wendete ich mich ab. Fühlte ich doch das innerliche Behagen, mit dem sie eine Beschönigung ergriff, um von ihrem Posten zu desertieren.[220] Sie scheute das verräterische, längere Fernsein von der Heimat, sie sehnte sich nach häuslicher Gemächlichkeit, und gab ihr neugeborenes Kind einer Fremden preis, indem sie sich im eigenen Herzen mit der dankbaren Erinnerung an einen fernstehenden Mann entschuldigte. Ich würdigte sie keiner Erwiderung, und wir mögen während unserer Fahrt kaum zwanzig Worte miteinander gewechselt haben. Sie seufzte und bebte wie auf der Hinreise: mich rührte es nicht; sie sah bleich aus und die Augen waren von Tränen verschwollen: zum ersten und einzigen Male fand ich sie häßlich. Die Versündigung an Pflicht und Ehre hatte mich ihr nicht entfremdet; die Schwäche des Herzens machte einen Riß durch unser Leben. Ich habe mich zwar ihrem Einfluß auch späterhin nicht völlig entziehen können, wenn ich ihren Liebreiz vor Augen sah; war ich aber fern, da dachte ich ihrer mit der Geringschätzung Muhme Justines. Ich war ihre Freundin nicht mehr; das letzte Jugendband hatte sich gelöst, und ich zählte kaum achtzehn Jahre.

Der Trennungskampf von dem Vater war härter, als ich ihn vorausgefühlt hatte. Die grausigen Bilder des vorjährigen Rückzugs, deren Einzelheiten mir erst in der Heimat deutlich wurden, ließen ein Nimmerwiedersehen ahnen. Meine arme Mutter erlag fast der Anstrengung, sich als standhafte Soldatenfrau zu behaupten. Sie lächelte über den Trostspruch des ehrlichen Purzel – des letzten Purzel im Reckenburgschen Dienst –: »Nur guten Mut, gnädige Frau. Ich sorge schon. Es passiert ihm nichts; und passiert ihm doch was, dann komme ich gleich und melde Post.« Sie lächelte und bedachte das kleinste Bedürfnis, das einem Verwundeten oder Kranken dienen[221] kann. Aber ihre zarte Gesundheit hat sich von den Schmerzen und Sorgen der Trennungsjahre nicht wieder erholt.

Am Vorabend des Abmarsches ging ich zu Dorothee, die sich in ihrem Mädchenstübchen ganz wohlig wieder eingenistet hatte, und hob ohne Umschweif an: »Ich sehe ein, Dorothee, daß du zu einem freiwilligen Bekenntnis niemals das Herz haben wirst. Gestatte mir daher, dein Geheimnis meinem Vater anzuvertrauen. Die sächsische Armee steht mit der preußischen vereint in dem Lager vor Mainz. Siegmund Faber wird dort leicht aufzufinden, der Vater aber der zuverlässigste Vermittler und dir der mildeste Anwalt sein.«

Sie war bei diesen Worten wie vom Donner gerührt, und es dauerte eine Weile, bevor sie der kindlichen Beredsamkeit Herr geworden war, mit welcher sie meine Rechtsgrundsätze schon einmal aus dem Felde geschlagen hatte. »Tun Sie es nicht, Fräulein Hardine!« rief sie außer sich. »Um Gottes Barmherzigkeit willen, tun Sie es nicht! Vor der ganzen Welt, vor meinem eigenen Vater sogar eine verworfene, ehrlose Kreatur, nur nicht vor den Augen des arglosen, gütigen Herrn! und würde er es der gnädigen Frau Mutter verbergen können, verbergen wollen? Wie sollte ich vor ihr bestehen und fortan unter einem Dache mit ihr leben? Sie ist so streng, so stolz. Auch Sie würden von ihr zu leiden haben, Fräulein Hardine, Sie erst recht. Und weiß es erst einer, wirds ein Lauffeuer. Ich habe es ja nicht anders verdient, ich müßte es hinnehmen. Aber auch Sie bekrittelt zu sehen, Sie, die Sie mir ein Engel gewesen sind, von den eigenen lieben Eltern getadelt, ich ertrüg es nicht. – Und warum das alles?« fuhr sie nach einer Pause fort, während welcher[222] ich diesen unbeachteten Gesichtspunkt hin und her erwogen hatte.

Der Vater, wie ich ihn kannte, würde in der Tat ein erstes eheliches Geheimnis kaum über die Nacht und sicherlich nicht über den ersten Brief hinaus bewahrt haben. Sollte ich zu dem Herzeleid der armen Mutter noch diese neue Prüfung fügen? Das freundliche Verhältnis zu unserer Hauswirtin wurde gestört, das Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit der einzigen Tochter im Grunde erschüttert. Auch der nachsichtigere Vater würde den mütterlichen Auffassungen nicht widerstanden und bekümmerten Herzens von seinem pflichtlosen Kinde, vielleicht fürs Leben, geschieden sein.

»Und wozu uns allen diese Verwirrung?« fuhr Dorothee, durch meine sichtliche Bewegung ermutigt, fort. »Lebt er denn noch? Er hat den ganzen Winter nicht geschrieben.«

»Briefe erreichen in solchen Zeitläuften selten ihr Ziel,« versetzte ich; »die Nachricht seines Todes aber würden wir erhalten haben.«

»Und wenn er lebt,« entgegnete Dorothee, »in welchem entfernten Lazarett, in welcher neuen Stellung? Es ist ja ein so weitläufiger Kriegsplatz; Gott weiß, ob der Herr Vater jemals mit ihm zusammentrifft. Begegnet er ihm aber, und weiß ich erst den Ort, wohin ich mich zu richten habe, dann will ich ihm alles bekennen; ja, Fräulein Hardine, ich versprech es Ihnen, alles bekennen, und wie er es verordnet, so soll es geschehen. Nur stellen Sie keinen anderen zwischen mich und ihn.«

So war denn Fräulein Ehrenhardine wieder einmal die Besiegte der kleinen Dorl. Der Vater reiste ohne unser Geheimnis ab. Ja in der Furcht einer Entdeckung wagte[223] ich nur ganz schüchtern die Bitte, sich doch nach dem Faber umzutun und ausführlich über ihn zu berichten.

Dicke Tränen hingen dem guten Manne in den Augen, als er beim Abschied es noch mit einem Scherzworte versuchte: »Sage der lieben Dorl, meine Dine, daß ich ihren Mosjö Per-sé ganz gehörig ins Gebet nehmen werde.«

Und wirklich enthielt der erste väterliche Brief aus dem Lager vor Castel, in welchem die Sachsen mit einem Teil der Preußen vereinigt standen, einen ausführlichen Bericht über den seit dem Tage von Valmy Verschollenen. Er hatte alle Fährnisse einer pestilenzialischen Krankenpflege glücklich überdauert und stand, zum Regimentsarzt befördert, bei dem Belagerungskorps. Der Ruf seiner Unermüdlichkeit, Unerschrockenheit und seines großen Geschicks war durch das ganze Lager verbreitet; hoch und gering schätzte des noch so jungen Mannes bedeutenden Beruf. Die Genossen der alten Baderei waren bald aufeinandergestoßen und die heimischen Verhältnisse weidlich hin und her besprochen worden. Ob dem kleinen Musterbräutchen nicht ein wenig die Ohren geklungen haben sollten?

»Ihr müßt euch«, so schloß der väterliche Bericht, »unter dem Herrn Doktor Faber nun beileibe nicht mehr den steifen Feldschergehilfen vorstellen, der sich quasi immer einen Spiegel vorhielt, um ja keine angestammte Badereimanier durchschlüpfen zu lassen. Er ist degagiert wie einer, seitdem Generale und Prinzen so gut wie der gemeine Stückknecht unter seinen Messern und Zangen stillhalten müssen. Auch gemütlicher, aufgeknöpfter ist er geworden, nichtsdestoweniger aber doch noch immer der alte Per-sé, der alles anders anfaßt wie andere Leute, und besieht mans[224] bei Licht, allemal recht. Als ich ihn auf das Risiko hinwies, dem jungen, einsamen Bräutchen das eingegangene Verhältnis so selten in Erinnerung zu bringen, da versicherte er zwar, um die Weihnachtszeit sein regelmäßiges Carmen entsendet zu haben, und weil er es versichert, muß der Brief verloren gegangen sein. – ›Indessen,‹ – so setzte er hinzu – ›indessen wozu dieses leere Stroh?‹

Der Allerweltsdoktor wurde bei diesen Worten zu einer Konsultation bei einem schwer erkrankten General auf das linke Ufer abberufen. Ich hatte ihn gebeten, sich um ein paar in einem Vorpostengefecht Blessierte von unseren Husaren zu bemühen, und erhielt schon am andern Tage schriftlich eine beruhigende Kunde. Am Schluß derselben kam er denn auch auf die Herzensangelegenheit zurück, in der wir gestern unterbrochen waren. Ich schneide die betreffende Stelle zum Frommen meiner lieben Jungfer Grundtext aus seinem Brief und lege sie dem meinigen bei.«

»Über das Risiko, wie Sie es mit Recht nennen, mein Herr Major, über die Gefahr hinweg hilft kein mahnendes Wort. Und Beruhigung – wer schöpfte die auf hundert Meilen Distanz? Bevor ein Brief seinen Ort erreicht, hat die Szene gewechselt, und der, über dessen Wohlergehen man sich freut, modert vielleicht im Grabe. In beiden Fällen hilft nur Vertrauen auf einen guten Stern, oder von Haus aus Resignation in Bausch und Bogen. Briefe sind für Müßige oder für Gleichstrebende. Soll ich mein liebes Kind mit militärischen Evolutionen und diplomatischen Schachzügen unterhalten? oder soll ich ihm mit meiner ärztlichen Widerwart eine Gänsehaut erregen? Und Liebesschwüre, Liebesseufzer etwa? Ist es nicht der Superlativ aller Albernheit, das Heimlichste, Unsagbarste[225] der Menschenbrust, in einen Gemeinplatz umgesetzt, schwarz auf weiß durch die Welt zu jagen? Wie eingeschnürt sind die Kritzelfüßchen meiner kleinen Dorothee! Wie kann ich die Stunden zählen, in denen sie an ihrer Feder gekaut hat! Wo sind ihre Blumen und Vögel, ihr kindliches Tändelwerk? Wo ist eine Spur von dem, was in ihr und um sie wirklich lebt und webt? Da lobe ich mir das Täschchen und Beutelchen, die sie gestrickt. Sie sind mir stündlich zu Dienst, und sehe ich sie, so sehe ich auch die flinken Fingerchen in ihrem Bereich. Das sind Taten, weibliche Liebestaten, mein Herr Major, und da ich sie nicht mit solchen aus meiner Praxis erwidern kann, tue ich wohl, mich meiner zärtlichen Treue nicht zu rühmen.

Sie versichern mich, hochgeehrter Freund, der stillen Geduld des herrlichen Kindes, und ich kann Ihnen nicht aussprechen, wie es mich beglückt, mein schülerhaftes Experiment also gerechtfertigt zu sehen, ein Experiment, vor dem ich mich bei reiferer Erfahrung gehütet haben würde. Ich fühlte mich als Mann und sah in ihr das Kind, den einen vielleicht zu früh und das andere vielleicht zu lange. Im Grunde aber sah ich gemäß der Natur und gemäß der Vernunft. Denn wem, frage ich, möchte eine derartige Enthaltsamkeit ins Blaue hinein zugemutet werden, als dem Manne, der gewohnt ist, vor sich selber Schildwach zu stehen, oder dem Kinde, das, ohne zu träumen, im umfriedigten Nestchen schlummert, bis der vorbestimmte Erwecker es zur Freiheit ruft? Nun wohlan, mein Herr Major, der Mann wird Farbe halten. Das Weltwesen, das ich ahnete, als ich dieses Bündnis schloß, hat sich um zwei Jahre verzögert, und der Himmel weiß, wann und wo das Wirrsal enden wird. Überdauere ich[226] es aber, und wäre ich verschlagen worden bis ans Ende der Welt, so werde ich meinem anverlobten Weibe den väterlichen Trauring unentweiht vor Augen führen, und sehe ich den meiner Mutter an ihrer Hand, werd ich den Knabenglauben segnen, der sich bewährte, wo so mancher Mannesglauben zuschanden ward.«

Die experimentierende Resignation, welche meine arglose Mutter nicht vorsichtig zurückhielt, war Wasser auf die Mühle der bekenntnisscheuen Sünderin. Der seltsame Mensch verlangte ja gar keine Aufklärung, und bis er persönlich kam, dieselbe einzuholen – wenn er überhaupt wiederkam, ach, was konnte da nicht alles verändert sein! Ich aber wurde es müde, ein Mißverhältnis zu demonstrieren in die leere Luft. Schämte sie sich nicht, als Braut eines Mannes zu gelten, den sie verraten hatte, scheute sie sich nicht, mit seinem Treugut sich selber und dem Kinde eines anderen das Leben leicht zu machen: warum sollte ich mich dessen schämen und scheuen? War sie meine Schwester, meinesgleichen? Torheit über Torheit, der leichtfertigen Schenkentochter eine honette Gesinnung zuzutrauen! Kehrte Siegmund Faber zurück, dann lag es mir ob, mich, nicht sie, vor einem wahrhaftigen Ehrenmanne zu entschuldigen.

Zu Dorothees Gunsten, und um vorderhand mit ihrem philosophischen Liebhaber abzuschließen, sei indessen vorausgemeldet, daß ein späterer väterlicher Brief von einem rätselhaften Verschwinden des Doktor Faber berichtete. Während des Angriffs auf die feindlichen Lager bei Pirmasens, Ende September, war er in seiner beherzten, rastlosen Tätigkeit noch vielfach bewundert worden – seitdem spurlos aller Augen entrückt. Anfangs glaubte man[227] ihn, im Gefolge des Königs, der ihn persönlich hatte schätzen lernen, auf das vor kurzem so schmählich erworbene polnische Gebiet verpflanzt. Da diese Meinung aber sich als Irrtum erwies, sahen die einen ihn verwundet in Feindes Hand, die anderen ihn von erbitterten Gebirgsbauern abgefangen. Die Mehrzahl hielt ihn für geblieben, wenngleich sein Leichnam von den das Terrain innehaltenden Siegern nicht aufgefunden werden konnte. Alle aber beklagten die Lücke, welche durch des immer bereiten Helfers Fehlen entstanden war. Auch als mein Vater nach drei Jahren, wohlbehalten und mit dem Verdienstorden belohnt, aber kopfhängerisch wie alle Teilnehmer dieser unfruchtbaren Kampagne, zurückkehrte, wußte er keine Spur von dem Verschollenen anzudeuten. Bald war er unter seinen Heimatsbürgern ein toter, vergessener Mann, und niemand würde es seiner bräutlichen Witwe verargt haben, hätte sie, zugunsten eines anderen, über ihre begehrenswerte Person und das Anwesen der alten Faberei verfügen wollen.

Ich hatte in unserer bänglichen Stimmung meine Mutter während des Feldzugs nicht verlassen wollen und nur auf beider Eltern dringende Vorstellung mich zu der Rückreise nach Reckenburg entschlossen. »Bei des Vaters ausgesetzter Lage und unserer Mittellosigkeit,« so sagte die Mutter, »ist die Gräfin dein und auch mein letzter Anhalt. Verscherze ihn uns nicht, liebe Tochter. Dort kannst du wirken, mir nützest du nichts. Ich bin nicht krank, und stieße mir etwas zu, habe ich da nicht das liebe Kind Dorothee?«

Das liebe Kind Dorothee! Sie mir an einem Sorgenstuhle, an einem Krankenbette vorzustellen, mit ihrer freundlichen,[228] leise geschäftigen Art – wahrlich, es konnte mir nichts Beruhigenderes widerfahren, als daß sie im Ernst gar nicht mehr an die Rückkehr in das einsame Waldhaus dachte, und daß eine abzehrende Krankheit ihres Vaters ihr die Selbsttäuschung einer näher liegenden Pflicht gestattete. »Halten Sie Ihre Augen über meinem Liebling, Fräulein Hardine!« flüsterte sie beim Abschied in mein Ohr; »ich werde der gnädigen Frau Mutter helfen und dienen an Ihrer Statt.«

So schieden wir, und als gegen die Weihnachtszeit jene erste Kunde von Fabers Verschwinden eintraf, stand ich schon längst wieder auf meinem Reckenburger Posten und Dorothee saß – zu meiner innerlichsten Befriedigung! – ruhig daheim in ihrer Mädchenstube. Dort fand ich sie, wenn ich in den nächsten Jahren – immer nur auf etliche Sommerwochen – in der Heimat einkehrte, unverändert dieselbe, fleißig bemüht, durch zierliche Stickereien ihre Einkünfte zu verbessern, auf daß es ihrem Knaben an keiner Pflege, keiner Zierat gebrechen möge. Hatte sie am Abend Mützendeckel und Flitterschuhe beiseitegelegt, dann zeichnete sie kleine Kinderköpfe oder schnitzelte sie als Silhouetten aus schwarzem Papier, legte sie zwischen die Blätter ihres Gesangbuches und küßte sie als Gleichnisse ihres schönen Knaben. Sie fertigte ihm Röckchen und Wämschen, drehte Blumen aus den hellen Locken, die ich ihm jedes Jahr für sie abschneiden mußte, verflocht sie mit einem Goldfädchen ihres eigenen Haares, auch wohl mit einem anderen, das sie einem teuren Erinnerungszeichen entwand, und nannte sie ihre Sonnenblumen. Sie herzte jedes fremde Kind, sie jubelte vor Lust und weinte vor Weh, wenn sie des eigenen gedachte[229] – aber wiedergesehen hat sie den Pflegling Muhme Justines nicht. Auch als ihr Vater schlafen gegangen, als der meine heimgekehrt war, als sie, ledig jeder Pflicht, auf eigenen Füßen stand; daß sie, und nicht eine Fremde, zur Hüterin ihres Kindes berufen sei, daran dachte sie nicht.

Ich aber rüttelte nicht mit Gewalt diese Pflicht in ihrem Gemüte wach. Denn der Wuchs eines Menschen, wie der eines Baumes – ich hatte es allmählich begriffen –, er läßt sich in die Breite und allenfalls in die Höhe treiben; aber tiefer graben, bis zum nährenden Quell, lassen sich seine Wurzeln nicht. Wie die Natur uns gepflanzt hat, so müssen wir einander hegen – oder meiden. Im übrigen sagte ich mir auch, daß der vaterlose Knabe sich unter der rauhen Hand der Fremden natürlicher entwickeln werde als unter der tändelnden der Mutter. Und endlich hielt ich die eigenen Augen nicht auf ihn gerichtet?

Wie ich als Kind nicht mit Puppen gespielt hatte, so war ich auch späterhin nicht das, was man kinderlieb nennt. Dieser Knabe aber wuchs mir nahe ans Herz. Wenn ich auf dem Wege durchs Dorf die blöde, plumpe flachssträhnige Bauernbrut zwischen Hühnern und Ferkeln auf ihren Düngerhaufen hatte hocken sehen und nun vom Walde her die biegsame, kleine Gestalt in ihrem zierlichen Röckchen mir entgegensprang, da lachte ich wohl vor Lust, aber ich fragte mich auch mit Wehmut, ob nicht der Vater, an welchen mein Prinzchen so lebhaft erinnerte, sich in die natürlichen Schranken des Lebens gefügt haben würde, hätte er dieses Liebeskind zur Führung an seiner Hand gefühlt?

Wie früh und sicher er die Füßchen bewegen lernte, wie ausgelassen er sich im Walde tummelte, mit den[230] Hasen Wettlauf hielt, hellen Klangs die Vogelstimmen nachahmte, lange ehe er unsere menschliche Sprache zu reden verstand. Wie trotzig lachend er sich das Eichhörnchen zum Muster nahm, bis zum Wipfel der knorrigen Steineiche hinankletterte, während die alte Muhme mit ohnmächtiger Angst am Fuße drohend die Fäuste ballte! – So wurde dem Kinde der Natur die Natur eine frühe Bildnerin; frühe aber auch drängte das Bedürfnis sich auf, es einer strengeren Regel und dem Gesetze eines männlichen Willens zu unterstellen. Als der Knabe im fünften Jahre stand, erklärte die Muhme, den Wildling nicht über den nächsten Winter hinaus bändigen zu können, noch zu wollen.

Denn nichts Kurioseres und für mich nichts Ärgerlicheres, als der Zwiespalt der alten Seele gegenüber ihrem Ziehekind! Sie hatte ein Wohlgefallen an dem neckischen kleinen Patron, ja ein Herz für ihn; sobald sie ihn aber in meiner Nähe sah, überfiel sie eine so unwirsche Laune, daß, hätten noch Bären und Wölfe in unserem Walde gehaust, sie ihn unter die Bären und Wölfe in den Wald gejagt haben würde. »Es kommt Ihnen nichts Gutes durch den Wildling,« wurde sie nicht müde, mir vorzuhalten. Das landläufige Sprichwort von dem besudelnden Pech stimmte mit dem Geist, welcher geheimnisvoll aus einem Kartenspiel warnt, in dieser Mahnung zusammen, und, alte treue Justine, könntest du doch spüren, daß vierzig Jahre später die Erörterung der Frage, ob deinem Fräulein Gutes von dem Wildling gekommen ist? die Schlußbetrachtung ihres Lebens bilden wird.

Da half kein Zureden, der Junge mußte fort, fort aus Reckenburg; und eine Erwägung anderer Art gab diesem[231] Entschlusse Nachdruck auch für mich. Unser treuer Freund, der Prediger, hatte uns kürzlich verlassen, um als Vorsteher des Laurentiusklosters eine freiere, seinem väterlichen Sinne angemessenere Stellung einzunehmen. Der Dienst in der Gemeinde wurde während der Vakanz wechselnd von Nachbarpredigern versehen, die sich um örtliche Verhältnisse wenig bekümmerten. Wenn aber kommenden Sommer der neugewählte Seelsorger sich bekannt machte, konnte ihm das Auffällige unseres Schützlings schwerlich entgehen. War auch die Beglaubigung des Kirchenbuches zugrunde gegangen, dem Geistlichen durfte auf Befragen die Wahrheit nicht verhehlt werden; ein Mensch mehr wußte um Dorothees so ängstlich gewahrtes Geheimnis; neugierige Spürversuche, Fraubasereien, irgendein unberechenbarer Zufall leiteten auf die richtige Fährte, und der immerhin interessante Zusammenhang drang über unseren stillen Waldwinkel hinaus in der Leute Mund. –

Alles dies führte ich Dorothee zu Gemüte, sobald ich für etliche Herbstwochen im Elternhause eingekehrt war. Ich fand sie in nachdenklicher Stimmung, vorbereitet durch den Prediger, wie Seine Hochwürden, der nunmehrige Propst und Direktor, hier zum letztenmal genannt werden soll.

Niemals hatte Dorothee seit ihrem Unglück sich in jugendliche Kreise gemischt, niemals mit einem Blick oder Wort die Huldigungen der Bürgersöhne, wenn sie ihr zufällig begegneten, ermuntert und so die Bewerbungen, an denen es ihr nicht gefehlt haben würde, von vornherein abgeschnitten. Niemals aber auch hatte sie gegen mich den Namen des Einziggeliebten genannt. Dennoch,[232] sooft ich sie in der Einsamkeit überraschte, spürte ich an ihrem Wesen, an den in sich gekehrten oder sehnsüchtig schweifenden Blicken, daß der kurze Sommerrausch des Glücks nicht erloschen sei und jedes nüchterne Nachspiel dämpfe.


Und immer, immer sah sie doch an jeder Wand ein Bildnis noch

Von einem Menschen, der verschwand und ihr als Kind das Herz entwand.


Um so mehr war ich daher überrascht, als sie jetzt auf meine Frage: was sie über die Zukunft ihres Sohnes beschlossen habe? mit niedergeschlagenen Augen antwortete: »Wenn ich den Taube heiratete, Fräulein Hardine?«

»Unsern Hofmeister? Bewirbt er sich denn um dich?«

»Er hat mich seit meiner Kinderzeit liebgehabt und es mir vor wenigen Tagen gestanden.«

»Und du?«

Sie schüttelte die Locken mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Wehmut und stolzer Erinnerung. »Lieben, ich?« rief sie mit einem Schauder. »O niemals, niemals wieder! Aber,« setzte sie nach einer Pause gelassen hinzu, »aber ich würde friedlich mit ihm leben, und er würde meinem Knaben ein guter Vater sein.«

»So dächtest du, ihm dein Geheimnis zu bekennen, Dorothee?«

»Wie sollte ich nicht, Fräulein Hardine? Ich nähme ihn ja nur, um das Kind zu versorgen. Nur um des Kindes willen.«

»Auch schon ehe er dein Mann geworden ist, es ihm bekennen?«

»Wenn Sie es für Pflicht halten, auch schon zuvor.«[233]

»Und du glaubst, daß er dennoch dein Mann werden würde?«

»Ich glaube es, Fräulein Hardine.«

Ich schwieg eine Weile. Dorothee saß mir im Fenster gegenüber, die Hände über der Brust gekreuzt. Unwillkürlich fiel mein Blick auf den Verlobungsring, den sie noch immer am Finger trug. Sie bemerkte den Blick und sagte errötend, indem sie sich vergeblich bemühte, den Reif abzustreifen: »Er ist mir ins Fleisch gewachsen«.

Es war im achten Jahre, seit Siegmund Faber von hinnen gegangen, im fünften seines spurlosen Verschwindens; niemand zweifelte an seinem Tode. Lebte er aber selbst – und eine innerliche Stimme sagte mir immerfort: »er lebt!« –, lebte er und kehrte er zurück: dieser Mann konnte nimmermehr dieses Weibes Gatte werden. Welch mildere Täuschung aber hätte sich für ihn finden lassen, als die lange Getreue endlich einem natürlichen Berufe gefolgt zu sehen. Ich wußte demnach nichts Stichhaltiges einzuwenden, insofern sich wirklich ein Mann fand, der seine Ehre nicht durch die bewußte Unehre seiner Frau beleidigt fand.

Doch beschlossen wir, den Fall unserem treuen Gewissensrate vorzulegen, und machten uns auf den Weg nach dem Kloster.

»Ich spreche Ihnen, mein Kind,« so ließ der Propst sich vernehmen, »die Berechtigung zur Freiheit nicht ab, und ich für mein Teil würde den Mann nicht tadeln, der dem geliebten Weibe einen Fehltritt vergibt und mit ihr vereint sich bemüht, dessen Wirkungen auf andere in Segen zu verwandeln. Ich habe aber Grund zu glauben, daß unser hohes Konsistorium diese Auffassung nicht teilt.[234] Die Gegenwart des Knaben brächte voraussichtlich Ihr Geheimnis ans Licht, Ihr Mann würde aus seinem Lehramte scheiden müssen, dem einzigen, zu dem er gebildet und berufen ist.«

»Wir würden still auf dem Lande leben, und – ich bin nicht unbemittelt, Hochwürden,« stammelte Dorothee, den Purpur der Scham auf den Wangen.

»Hinreichend für Sie und allenfalls für Ihr Kind. Aber für eine zweite, vielleicht zahlreiche Familie? Und gesetzt den wenn auch unwahrscheinlichen Fall der Heimkehr Doktor Fabers: er würde seine Schenkung nicht zurücknehmen und er dürfte es nicht. Aber müßte es eine Natur wie die unseres Taube nicht zu Boden drücken, seine und der Seinigen Existenz von dem Treugute des Getäuschten abhängig zu sehen? Indessen, selbst diese beiden möglichen Zwischenfälle ungerechnet – kennen Sie das Leben eines Lehrers auf dem Lande, liebe Dorothee?«

Es hatte diese Besprechung auf dem Rückwege vom Kloster stattgefunden. Unmerklich aber waren wir von unserem Begleiter seitwärts durch ein Nachbardorf geführt worden und standen bei den letzten Worten vor einem Häuschen, dessen Bestimmung ein vieltöniger stockernder Chorus mit obligaten Donnerschlägen des Vorbeters verkündigte. Ein Schulhaus, und keines von den bescheidensten seiner Zeit, denn von den Schäden des Siebenjährigen Krieges ausgeheilt, stand es auch jetzt noch unversehrt unter Dach und Fach.

Dessenungeachtet, wir konnten es nicht leugnen, für ein idyllisches Stilleben war die Wohnstube, in welche wir vorüberstreifend blickten, doch ein wenig dumpf und kahl. Die kleine Dorl hätte mit der Hand an die Decke[235] reichen können. Die Fensterscheiben glichen Schiefertafeln, welche im Schulgebrauche blind geworden waren, und in dem Kachelofen brodelte, nicht eben sinnerquickend, das Runkelfutter für die Kuh. Wir setzten unsere Umschau fort und weilten in der Musterung der hartköpfigen kleinen Menschenherde und ihres kahlköpfigen treuen Hirten.

Keine Frage: das Lehramt hat seine Poesie. Schwerlich aber würde sie in unseren Augen zu kurz gekommen sein, hätte ein leiser Anflug der kindlichen Pausbacken auf dem hehren Antlitz ihres Hüters reflektiert; auch ein Ersatzstück für das, was eines Tages schwarzer Manchester auf seinem Leibe geheißen, würde von uns nicht als sträfliche Eitelkeit verlästert worden sein. Aufrichtige Bewunderung hingegen zollten wir im Weiterschreiten der musivischen Kunst, welche auf der Hauswäsche über dem Gartenzaun entwickelt war.

Diese Kunstleistung mochte unseren Führer verlocken, nach der Bekanntschaft mit dem Schulregenten uns auch die der Hausregentin inmitten ihrer privaten kleinen Herde zugute kommen zu lassen. Und wiederum ein Chorus mit obligaten Donnerschlägen lockte uns über den Hof auf ein Ackerstück, das sich den stolzen Namen »Garten« beigelegt hatte. Hier stand sie, die Heldin unseres Idylls! Eine klassische Gestalt, hoch geschürzt, die Schritte nicht durch zwängendes Schuhwerk gehemmt, das gestrige Haar durch keine Spiegelkunst verschnörkelt. Die fremden Eindringlinge störten sie nicht in ihrem Geschäft. Mit antiker Kraft und Ruhe hackte sie die Erdäpfel auf, welche eine nachwüchsige Schar in die Höhe buddelte. Das beiläufig ausgerodete Unkraut lieferte einen Leckerbissen für[236] die umkreisende Ziege samt ihren Zickelchen, die mit lustigen Sprüngen ihre Wollust an den Tag legten. Das kleine zweibeinige Publikum spendete dem vierbeinigen Beifall, die Arbeit stockte, und die Vorarbeiterin entfaltete die Macht ihrer Lungen und Gliedmaßen, um sie wieder in Gang zu bringen.

Jetzt aber griff ein tragischer Zwischenfall in das ländliche Bild. Unter der Hoftür lehnte die älteste Tochter, zugleich Kindsmagd der Familie und noch nicht nach mütterlichem Exempel stoisch geschult. Beim Begaffen der fremden Gäste entglitt das Wickelkind ihrem Arm und fiel – zum Glück in den Schlamm vor dem Schweinekoben. Mit erhobenen Händen stürzte die Mutter zu Hilfe und Rache herbei; die älteste Tochter heulte, das Wickelkind schrie, die Säue grunzten, die Zickelchen meckerten, im Stalle brüllte die Kuh. Die Buben balgten sich um die Beute einer gelben Rübe; die Heldenmutter tachtelte nach rechts und links; aufgescheucht durch die Gefahr, welche sein Teuerstes bedrohte, zeigte sich mit einem Weheruf, und umschwärmt von seiner tobenden Schar, die hehre Gestalt in weiland Manchester; wir aber, die wir diesen Sturm im Stilleben angestiftet hatten, entschlüpften leise über den Ackerrain.

»Ein respektables Weib! Für ihren Beruf ein Musterbild!« sagte nach einer langen Stille lächelnd der menschenkundige Freund. Dorothee ging schweigend mit gesenktem Kopf – und von einer Bewerbung Christlieb Taubes ist fortan nicht die Rede gewesen.

Meine nahende Abreise drängte endlich zu einer Entscheidung über die Zukunft des Knaben, und da war es denn der Propst, welcher das seiner Aufsicht unterstellte[237] Kloster in Vorschlag brachte. Von seiner ursprünglichen Bestimmung für Soldatenwaisen hoffte er eine Ausnahme zu erwirken, wenn gelegentlich einer Visitation des hohen Kurators der Anstalt ein Teil des Geheimnisses, die väterliche Abstammung, vorsichtig angedeutet ward.

Dorothee weinte vor Freuden in der Aussicht, ihren Knaben bald unter den Augen des gütigen Beschützers und in ihrer eigenen Nähe zu wissen, ohne sich selber einer schmachvollen Enthüllung preiszugeben. Sie bedeckte ihres Wohltäters Hände mit Küssen und Tränen, rief Gottes Segen auf ihn herab und stellte zum voraus den Betrag ihrer Hausrente für den Aufwand eines Halbpensionärs zu seiner Verfügung.

Mir hingegen bäumte sich die Seele bei der Vorstellung, das Liebeskind des Fürsten, dem das Erbe der Reckenburg zugefallen sein würde, in eine Armenanstalt eingeschmuggelt und für eine subalterne Lebensstellung herangebildet zu sehen. Was hatte ich doch Schicklicheres zu raten und zu bieten? Das Kloster war wohlberufen, wie die Mehrzahl unserer zu Schulzwecken säkularisierten sächsischen Abteien, war doch reich dotiert und stand unter der trefflichen Obhut des einzigen Menschen, der sich mit väterlicher Teilnahme zu dem Knaben gezogen fühlte. Mußte ich nicht schließlich eine höhere Fügung in diesem Wechsel der Verhältnisse verehren?

So trat ich denn die Rückreise nach Reckenburg an, mit dem Versprechen, im nächsten Frühjahr den Zögling Muhme Justines persönlich dem Waisenkloster zuzuführen.[238]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 211-239.
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