Der Kampf am Jugendhimmel

Und wieder ist nahezu ein Stufenjahr zurückgelegt; solch eine Spanne, in welcher die Knaben Jünglinge, die Männer Greise werden, die Greise ihre Augen schließen, und deren sachter Wandel in dem Pfarrhause von Werben nichts geändert hat, als daß nur noch zwei Kinder darin glücklich sind. Aus dem Röschen ist eine Rose geworden, die holdeste Blüte in Konstantin Blümels Töchtergarten; Bruder Dezimus, nach wie vor ein frisches Hirtenblut, ist fortgeschritten auf ebener Bahn und steht jetzt dicht vor jener hohen Schwelle, die aus der Vaterhut in die Freiheit führt.

Kurze Zeit nach der Gutsherrin Wiederabreise hatte der Propst an Pastor Blümel die Bitte gerichtet, seinen Pflegesohn den mathematischen Unterricht mit Martin, dem ältesten der Hartensteinschen Kinder und vier Jahr mehr zählend als Dezimus, teilen zu lassen. Der Vater machte kein Hehl daraus, daß dem Knaben alles Lernen ohne treibenden Sporn schwer falle. Sei nun bisher Schwester Lydia selber in alten Sprachen seine Studiengenossin gewesen, so müsse auf deren Teilnahme bei jener strengen Disziplin doch füglich verzichtet werden; und eben in ihr wäre eine bedeutendere Ausbildung geboten, da Martin sich für die militärische Laufbahn entschieden habe.

»Der Verzicht, ihn zu einem Diener unseres Amtes heranzuziehen, ist mir hart angekommen,« äußerte der Propst. »Leider aber hat er die schmiegsame Natur seiner Mutter geerbt, und was zu anderer Zeit paradox klingen würde, für die heutige gilt, daß der geistliche Stand mehr Energie erheischt als der des Soldaten. Der letztere schließt die Selbständigkeit aus, welche jener bedingt. Mein zweiter Sohn mit seinem lebhafteren Temperament wird, will es Gott, die Hoffnung erfüllen, die ich auf den ältesten gesetzt hatte. Ich hätte Martin nun gern bis nach seiner Konfirmation[239] unter der Zucht meines Hauses erhalten; schlügen Sie mir meine Bitte indessen ab, würde ich mich genötigt sehen, ihn schon jetzt dem Hannoverschen Alumnat einzureihen, in welchem er bis zu seinem Diensteintritt weitergebildet werden soll. Auf eine in äußerem Betracht sich ja empfehlende Erziehung in unserem Kadettenhause, wie meine Brüder und ich selbst sie genossen haben, muß ich aus Gründen, die zu erörtern überflüssig sein würde, verzichten.«

Pastor Blümel erspürte in diesem Anerbieten Fräulein Thusneldens nachwirkenden Einfluß, gab aber um so williger seine Zustimmung, da auf diese Weise die bedenkliche Lücke in seinem eigenen Unterricht ausgefüllt wurde. Und so hatte der Quatermillionenjunge an diesem Tage zum letzten Male auf Kantor Beyfußens Schulbank gesessen, um fortan als mathematischer Kumpan Martins von Hartenstein in dem suspendierten Magister Klein einen tüchtigen Lehrmeister zu finden.

Von den übrigen Schloßbewohnern sah er während dieser regelmäßigen Unterrichtsstunden wenig; in dem treuherzigen Martin aber fand er einen Freund für das Leben, und zwischen den Familien der beiden Freunde wurden teilnehmende Beziehungen angebahnt; vornehmlich zwischen Röschen und Martins beiden jüngeren Schwestern; das weiße Fräulein war und blieb für das frohmütige Pfarrtöchterchen zu still und ernst oder, wie Röschen selbst es nannte, zu alt und klug.

Als nach etlichen Jahren Martin in das strenglutherische Alumnat abging, war auch Dezimus reif für die höheren Gymnasialklassen geworden. Es würde seinem Pflegevater leicht geworden sein, ihm eine Freistelle in Schulpforta zu erwirken, sehr schwer dagegen, sich schon jetzt von seinem Sohne zu trennen. Nicht mehr aus Gewissenssorge wie[240] einst, aus reiner Vaterfreude wollte er ihn so lange als angänglich unter seinen Augen behalten und wenigstens der Repetent seiner Studien in den alten, lieben Heiden bleiben. Da das einstige Kloster, welches der baubeflissene Eidam räumlich umgeschaffen, sich auch geistig als eine lichtvolle Lehrstätte bewährt hatte, trabte Dezimus fortan jeden Morgen seelenvergnügt nach der Stadt und kehrte jeden Nachmittag seelenvergnügt heim in sein Dorf, rückte gesetzmäßig von Stufe zu Stufe, und alle Zeichen deuten darauf hin, daß er auch fernerweitig seelenvergnügt und gesetzmäßig emporrücken werde, wenn er zum nächsten Herbstsemester, ausgerüstet mit dem Werbenschen Stipendium, als Studiosus der Gottesgelahrtheit in die Stadt einzieht, in welcher er zum ersten und einzigen, aber hoffentlich nicht zum letzten Male den Sternenhimmel durch ein großes Rohr betrachtet hat.

Bei dem gelehrten Professor Zacharias wird er dort allerdings keine Kollegia hören können – was Vater Blümel nicht im entferntesten beklagt –, und in der Frau Professorin Zacharias wird er keine sorgliche Heimatsfreundin wiederfinden; was Mutter Blümel auf das tiefste beklagt, um ihres Sohnes willen, aber auch um der Frau Professorin willen. Denn die Gegenströmung, welche, wenn die alte Gutsherrin recht hatte, er selber deutlich vorausgewittert, hatte den freisinnigen Kritiker geheiligter Überlieferungen von seinem Lehrstuhl gescheucht – lange vor der Zeit, wo die reiche Erbstätte seiner Gattin ihm eine Zuflucht hätte bieten können und ohne daß von dieser einstigen Erbstätte aus ihm in der Gegenwart eine Nothülfe geboten worden wäre.

Johann Mehlborn wirtschaftete unermüdet weiter manches Jahr, nachdem der königliche Greis, als dessen[241] Stellvertreter er am Tauftische des Werbener Hirtensohnes gestanden hatte, in die Gruft gesenkt worden war; er erwirtschaftete sich sogar ein drittes Rittergut zu den beiden ersten; aber die einzige Erbin, für die er sie erwirtschaftet hatte, ließ er Mangel leiden, weil sie selbst und der Gatte, welchen sie sich erkoren, nicht Hand in Hand mit ihm wirtschaften wollten und konnten. Und doch nagte dieser Mangel schärfer an ihm selbst als an denen, welchen er ihn auferlegte. Es gab im weiten Umkreis keinen friede-und freudeärmeren Menschen als den reichen Johann Mehlborn. Wie ein grimmiger Höhlenbär trottete er brummend unter Gottes freiem Himmel umher, zwischen den unübersehbaren Feldgebreiten, die er sein eigen nannte.

Eine schweizerische Hochschule hatte den Professor Zacharias aufgenommen. Wie aber im monarchischen Vaterlande nicht gegen die Ungunst von oben, so vermochte er im republikanischen Auslande nicht gegen die Ungunst von unten seine Forschungen als Lehrstoff zu verwerten. Er lebte nur noch von schriftstellerischen Arbeiten und war Manns genug, keine seiner Konsequenzen zu unterdrücken, obgleich das Publikum – auch darin hatte die alte Harfenkönigin richtig vorausgespürt – ihm nicht mehr goldene Früchte ernten ließ.

Auch seine Gattin hatte um des lieben Brotes willen zu der Feder gegriffen und erzielte durch populärwissenschaftliche Elaborate, zumeist pädagogischen Inhalts, einen Ertrag, welcher der praktischen Frau eine leidlich bequeme Hausführung ermöglichte. In dieser gemeinsamen Beschäftigung, aus gleichem Grundquell und in gleicher Richtung, wennschon die Zielpunkte der Frau die Höhe der männlichen nicht erreichten, fühlte Frau Brigitte sich in ihrer eigensten Sphäre, und ihre zweite Ehe wurde in[242] Wahrheit eine Musterehe, – obgleich oder weil dieselbe kinderlos blieb.

Die kleine Sidi war bis heute bei der Großtante in Rom geblieben und schwamm in deren kühlem, klaren Element wie eine Forelle im buntumblühten Bach. Hätte ihr Mäxchen an ihrer Seite schwimmen dürfen, würde niemals ein glücklicheres Kind als dieses arme, verunstaltete Geschöpf zur Jungfrau herangewachsen sein. Jene einzige Herzenssehnsucht blieb ihr indessen ungestillt; sie hatte den Bruder nicht wieder gesehen, seitdem er als vorzeitiger Karbonari von der alten Harfenkönigin dem bräutlichen Hause seiner Mutter entführt worden war.

Er jedoch wie sie in eine ihm zusagende neue Welt. Da er weislich dem Gelüste entsagte, sich der in diesem geknechteten Jahrhundert einzig freien und dabei nobelen Menschengattung zuzugesellen, wurde das Experiment ihm erspart, das die alte Dame lachend gebilligt hatte. Er war nicht als verlorener Sohn reuig heimzukehren gezwungen, nicht durch Not zur Vernunft gebracht, und der Brotkorb ihm nicht allzuhoch gehängt worden; freilich aber auch Konstantin Blümels Liebesschule hatte er nicht kennen lernen. Ein kurzer Aufenthalt im Bereiche seines geistlichen Oheims, dessen gleichalteriger Sohn in Fassen und Wissen tief unter ihm stand, hatte genügt, eine Koststelle in einem adeligen Erziehungsinstitute Dresdens ihm äußerst anziehend erscheinen zu lassen; auch hinderten die republikanischen Antezedentien des Tertianers den nunmehrigen Sekundaner keineswegs, sich unter hocharistokratischen Kameraden recht von Grund aus wohlzufühlen.

So unangemessen den Grundsätzen der Mutter dieser Bildungsgang sein mochte, sie war für den Augenblick zu sehr durch ihre persönliche Lebenswendung in Anspruch[243] genommen, um sich nicht einen Ausweg gefallen zu lassen, der ihr nach der drängendsten Seite hin Freiheit gewährte. In ihrer Nähe konnte sie nach den kindischen Vorgängen den Sohn nicht halten, so gab sie in bezug auf ihn dem Rate der klugen alten Weltfrau nach, wie sie schon in bezug auf die Tochter demselben nachgegeben hatte.

Brigitte von Hartenstein war nicht eine zärtliche, aber auch keineswegs eine gleichgültige Mutter; so, wie sie zu lieben vermochte, liebte sie ihre Kinder und nur sie auf der Welt. Die Sorge für ihre Kinder war es zumeist, welche sie zu der Verbindung mit einem redlichen, geehrten und äußerlich wohlgestellten Manne bewog, und sie irrte nur, indem sie die kindlichen Bedürfnisse ihren eigenen gemäß erachtete.

Denn kein schwierigeres Verhältnis, in welches eine pflichtvolle Frau sich zu stellen vermag, ist auszudenken, als wenn sie ihren Kindern einen Stiefvater gibt; unberechenbar schwieriger als das, selber Stiefmutter zu werden. Hier hat sie sich der von Natur und Sitte gesetzten Autorität des Mannes zugunsten fremder Kinder zu unterwerfen, dort vielleicht zuungunsten ihrer eigenen. Nun war es Brigitten aber beschieden, in der Verbindung mit ihrem zweiten Gatten ihr volles Genügen zu finden; ein geistiges Ineinanderziehen, das in ihrem natürlichsten Verhältnis um so mehr eine Lücke entstehen ließ, als das, was Sehnsucht heißt, ihrem Gemüt ein fremdes war. Dazu der räumliche Wechsel und eine Lage, die ihr bald genug Beschränkung und konzentrierte Arbeit zur Pflicht machten, wenngleich die Arbeit zu einer genußvollen Pflicht.

Nur so ist zu erklären, daß das, was lediglich einen Übergang erleichtern sollte, zur dauernden Entfernung und wenigstens von der Kinder Seite zur völligen Entfremdung[244] werden durfte, und daß die Frau, welche ihr Mutterrecht so eifrig gewahrt hatte – die Anhängerin des kategorischen Imperativs, welche gelehrte Traktate über die Erziehungskunst veröffentlichte! –, die ihren Kindern angemessene Ausbildung fremden Einflüssen und fremder Unterstützung überließ. Sie vermochte zurzeit dem Sohne Hilmars von Hartenstein nur zu bewilligen, was sie dem Sohne von Thomas Zacharias bewilligt haben würde. Darüber hinaus sorgte die alte väterliche Verwandte, und die Mutter wußte vielleicht nicht einmal, wie weit diese Sorge ging.

Nachdem sie indessen durch innere wie äußere Notwendigkeiten sich zu diesem Abweichen von vernunftgemäßen Satzungen hatte drängen lassen, durften die Resultate dieser Inkonsequenz sie wohl zufriedenstellen. Beide ihre Kinder waren glücklich; daß sie es nicht durch sie waren, diese Kränkung – falls sie überhaupt als solche empfunden worden wäre – würde sie als Regung von mütterlichem Egoismus überwunden haben, und konnte ja wohl auch das Glück, welches einem verehrten Manne durch sie gewährt ward, sowie ihr eigenes Wohlbefinden dafür entschädigen. Die Zeugnisse ihres Sohnes priesen ihn als ein Genie. In einem Alter, wo andere erst die Prima erreichen, ging er zu juristischen und kameralistischen Studien ab nach der Universität; der aristokratischen Vorschule entsprechend, zu der am Rhein, welche man jenerzeit eine Prinzenakademie zu nennen begann. Es folgten ein paar Semester in der Hauptstadt, und das Doktorexamen, das mit Auszeichnung bestanden ward, krönte die flugartige Entwicklung.

Daß es der Krone aber auch nicht an einer modischen Perle fehle, entzündete dieser universale Wunderjüngling durch sprühende Liederfunken die vaterländischen Herzen,[245] die mehr denn jemals lyrisch empfänglich waren, so wie eine Flamme, bevor sie erlischt, noch einmal hell aufzulodern pflegt. Seltsamerweise indessen zündeten am lebhaftesten nicht die erotischen Ergüsse, für welche es dem Dichter, trotz seiner Jugend, doch keineswegs an Stimmung und Erfahrung gebrach, sondern die Hymnen stolzer Freiheit, für welche er an Stimmung und Erfahrung zwar auch keinen Mangel litt, aber doch vielleicht nicht in dem Sinne, in welchem er sie besang; ja sie entzündeten sogar das hohe Publikum seines Lebenskreises und vor allen dessen weibliche Hälfte.

Der Dichter von Hartenstein trug um diese Zeit, als freiwilliger Husar, eine der blitzendsten Uniformen der Armee. Aber keiner seiner loyalen Kameraden nahm Anstoß an seinem schwungvollen metrischen Barrikadenbau. Irgendeinen Gegenstand muß ja der Dichter zum Vorwurf haben, und so wußte man einen fiktiven Tyrannenhaß von einem effektiven zu unter scheiden. Ein junger Kavalier von altritterlichem Namensklang und neuritterlicher Lebensart, ein freiwilliger Husar, welcher der einzige Enkel eines Großgrundbesitzers ist und sich außerdem auf eine steinreiche und steinalte Erbtante berufen darf, erfreut sich nicht bloß in materiellem Betracht eines weittragenden Kredits; abgesehen davon, daß der Modestrom einem Lustrum gefällig macht, was einem anderen verwerflich dünkt.

Über die Richtung, welche er für die Zukunft einzuschlagen habe, war der junge Baron noch im Schwanken. Sollte er, der Tradition seiner Väter gemäß, die militärische Laufbahn fortsetzen oder, dem Rate der gelehrten Mutter und selber dem der alten Künstlerin gemäß, die staatsmännische erwählen, für welche seine Studien und Verbindungen ihn glänzend vorbereitet hatten? Am nächsten[246] lag es, in der Freiheit eines Gentleman und in ästhetischer Universalität der Jugend goldenen Tag zu genießen und unter frohem Wechsel zu erwarten, was das Glück seinem Günstling mühelos in den Schoß werfen werde.

Der klangvolle Tenor seiner Poesien hatte einen Widerhall gefunden selbst in dem unpoetischen Gemüt der Mutter. Nach so vielen Schönen, Tapferen, Lebensfrohen seines Geschlechtes gab es zum ersten Male, schön und lebensfroh auch er, einen Genialen, einen Dichter von Hartenstein, und dieser Auserwählte war ihr Sohn! Wie hätte ihr Herz nicht in stolzer Freude und Erwartung schlagen sollen! Wiedergesehen hatte sie ihn nur ein einziges Mal während einer schweizerischen Ferienreise und, wenngleich nur flüchtig, hinreichend lange wenigstens für sein Bedürfen. Auch waren seine Briefe nur seltene und kurz; um so länger und lehrreicher dagegen die ihren.

Auch »auf seinen Gütern«, wie er den Werben-Mehlbornschen Komplex nicht nur nannte, sondern allen Ernstes a priori betrachtete, hatte der junge Herr seit jenem unfreiwilligen Knabenaufenthalte sich weder sehen noch jemals von sich hören lassen. Hätten nicht Frau Zacharias und Fräulein Thusnelda in Briefen an Pastor Blümel seiner regelmäßig erwähnt, würde er dort, wo naturgemäß seine Heimat war oder doch eines Tages werden sollte, spurlos vergessen worden sein. Diese Briefe jedoch nährten in der Seele des ihm so ungleichartigen Hirtensohnes eine bewunderungsvolle Erinnerung, ja steigerten diese zu einem heroischen Phantasiegebilde, und wo wäre ohne solches Phantasiegebilde ein Knabe jemals zu einem tüchtigen Manne geworden? Max von Hartenstein war und blieb das glänzendste Gestirn an Dezimus Freys Frühlingshimmel, und wie er in der holden Venus, wenn sie im[247] Morgendämmer der Sonne vorleuchtete, sein fröhliches Röschen sah, und wenn sie im Abenddämmer der Sonne nachleuchtete, die treue Lydia, lange nachdem er wußte, daß es der nämliche Wandelstern sei, welcher die hohe Himmelskönigin umkreise, so sah er in dem herrlichen Jupiter seinen Max.

Aber noch in einem anderen ebenso ungleichartigen Gemüte hatte das schöne junge Menschenbild eine unverlöschliche Spur hinterlassen. Auch dem stillen weißen Fräulein hieß alles, was Freude weckt, Max. Sooft sie Dezimus begegnete, schlug sie den beiden so wohlklingenden Namen an. Sie tat es ruhig, auch vor Zeugen ohne künstliche Umhüllung, einfach, wie sie allezeit war. »Hat Frau Zacharias Maxens erwähnt? Schreibt Tante Thusnelda, wie sich Max in Bonn gefällt?« Oder auch: »Wissen Sie noch, Dezimus, wie schön Max diese Ballade deklamierte, jenes Volkslied sang?«

Und wenn Dezimus nun jeden Laut noch wußte, jeder Bewegung sich erinnerte, wenn er mit sonst ihm keineswegs eignender Geläufigkeit berichtete von den riesenmäßigen Fortschritten, den glänzenden Zeugnissen, den Erfolgen seines Idols, dann röteten sich leise der Hörerin bleiche Wangen, und die großen graublauen Augen färbten sich gleich den dunkelsten Hyazinthenblüten.

»Nicht wahr, Sie haben ihn auch lieb, Fräulein Lydia?« fragte Dezimus dann wohl, und: »Sehr lieb« antwortete Lydia in ihrer natürlichen Weise.

Durch dieses gemeinsam gepflegte Andenken hatte sich zwischen Lydia und Dezimus eine Art von Verhältnis gebildet, das sich aus der Kinderzeit in die der Erwachsenen hinüberzog und nur insofern eine Heimlichkeit war, als kein Dritter sich gläubig genug erwies, ihren Kultus zu[248] teilen. Wie auch Fernstehende sich Freunde nennen, wenn sie einen Helden, einen Dichter oder Künstler mit gleicher Inbrunst verehren, so machte das Traumbild »Max« das Fräulein und den Hirtensohn zu Freunden, indem es sie über den trennenden Unterschied der Jahre und Verhältnisse hinweghob.

Nun aber entpuppte sich aus dem Traumbild der Dichter mit seinen greifbaren Stanzen und Terzinen; Dezimus schwärmte für diese feuriger als für irgendeine Ode des Horaz, und wenn die Tiefe des Sinnes ihm mitunter unergründlich, der Schwung der Bilder ihm zu hoch bemessen war, so schlug der Rhythmus des Lautes doch wie Musik an sein Ohr, und er schmetterte ihn, ohne einer Melodie zu bedürfen, mit seinem sich just zum Baß umsetzenden Alt hinaus in die wonnige Frühlingsluft.

Die reifere Lydia dagegen wollte fühlen, was ihr klang, und was sie fühlte, wollte sie verstehen. Sie hatte nicht nur ein fein musikalisches Ohr, sondern mehr noch ein tief musikalisches Herz, dem schon für manches liebe Lied eine Melodie aufgegangen war. Die des liebsten von ihnen: »Wenn alle untreu werden« sang sie ihrem Vater jeden Abend an der kleinen Orgel im Ahnensaale vor. Wie sie aber auch sinnen mochte, für keines von Maxens Gedichten fand sie im Herzen oder auch nur im Ohr eine Melodie; und wenn ihr Vater dieselben mit einem seinem sangeskundigen Meister nachgebildeten Kraftworte »Sprühteufel« nannte, so tat ihr das zwar weh, aber sie widersprach ihm nicht, wie doch Dezimus es wagte, wenn sein Pastorvater sie lächelnd »Strohfeuer« nannte.

So lockerte denn bis zu einem gewissen Grade der Dichter den Freundschaftsbund, welcher über dem Traumbild geschlossen worden war; mehr denn jemals indessen nistete[249] in dem Freunde die Vorstellung sich ein, so ein Etwas, das man Kinderweisheit nennt, daß diese herrliche weltfremde Jungfrau zu diesem herrlichen weltstürmenden Jüngling notwendig gehöre wie, ei nun, wie etwa der standfeste Dezimus zu seinem neckischen Rosenschwesterchen oder, in seine Sternensprache übersetzt, wie ein Mond zu seinem Planeten gehört.

Lydia hatte bei neunzehn Jahren, in kaum merklichen Übergängen, sich zu einer Erscheinung entfaltet, so wie ein Zögling Konstantin Blümels, der niemals ein gemeißeltes oder gemaltes Bild gesehen hat, das Schönheitsideal sich träumt, der Leib der Seele Überguß. Für Konstantin Blümel selbst aber, den Greis mit dem Dichterherzen, wenn er die hohe, keusche Liliengestalt, den gebeugten Vater am Arm, langsam die Terrassen auf und nieder schreiten sah, nur für seine Schonung besorgt, ihr Blick nur an seinem hangend, das Bild der erfülltesten Kindesliebe, für Konstantin Blümel verwandelte sie sich in die Tochter des blinden Thebanerkönigs, von allen klassischen Heidengestalten ihm die rührendste.

Und wohl trug sie Antigones Los in diesen Frühlingstagen. Ihr Höchstes, Teuerstes, ihr Vater, litt schwer, seine Kraft war gebrochen, scheinbar plötzlich, aber aus altem Keim. Es krankte sein Herz, auch was der Arzt so nennt; jachen Erstickungskämpfen folgte Todesmattigkeit.

Der Wechsel im Regiment, auf welchen der eifrige Mann so zuversichtlich gerechnet, hatte sich seit Jahren vollzogen, ohne seine Erwartungen zu erfüllen; während Professor Zacharias der öffentlichen Wirksamkeit entsagen mußte, war von der seines Antagonisten der Bann, stillschweigend wie er auferlegt ward, genommen worden; aber als Duldung, nicht als Triumph, und gering auch nur war die[250] Zahl der Getreuen, welche die Satzung der Toleranz vorgezogen hatten. Herber hätte ein Mann wie Joachim von Hartenstein nicht enttäuscht werden können. Sollte er seiner stolzen Zurückgezogenheit entsagen, um ein Sektenpriester zu werden?

Dennoch würde er sich noch einmal in den Streit der Welt gewagt haben, wenn jenes zunehmende Körperleiden ihn nicht so empfindlich gehemmt hätte. Nun ergriff ihn eine Unruhe, die ihn heute vorwärts drängte, morgen zurück, und es war nicht der Aposteleifer allein, der in ihm rang, es war, wenn auch nur wenige es ahneten und nur die Tochter, seine vertraute Geschäftsführerin, bis zu einer gewissen Grenze es wußte, es war die Vatersorge.

Seine apologetischen Schriften hatten ihn noch weniger goldene Früchte ernten lassen als die kritischen des Professor Zacharias; nicht das gedruckte Wort, das gesprochene war seine Stärke. Von Jahr zu Jahr in der Zuversicht einer demnächstigen Rehabilitierung, hatte das Stilleben in Werben, so beschränkt es der Familie nach ihrem früheren Zuschnitt erschien, den Rest des mütterlichen Vermögens bis auf einen verschwindenden Bruchteil aufgezehrt, der berufene Ernährer aber sah sich alternd, krank, verlassen und von fünf Kindern nur den ältesten Sohn, der kürzlich Offizier in einem Infanterieregimente geworden war, notdürftig versorgt. Der stolze Mann, der nach seines großen Meisters Vorbild zeitliche Güter so gering geachtet hatte, nun wurde er um zeitlicher Güter willen »zwischen Tod und Hölle« hin und her geworfen und der Gedanke des Lebens wie des Sterbens ihm zu gleicher Marter.

In solchen zweifelhaften Zuständen schwebten, außerhalb des Pfarrhauses, fast alle Menschen, zu welchen Dezimus liebend und ehrerbietig in die Höhe blickte, ja schwebte in[251] gewissem Sinne auch er selbst, da er binnen kurzem aus der Heimat scheiden sollte, als unerwartet die Kunde von dem Ableben der greisen Gutsherrin in Werben eintraf.


Der junge Doktor von Hartenstein hatte die Todesbotschaft dem Justitiarius zukommen lassen, zum Zweck der Mitteilung an die Familie und der Maßnahmen für die demnächstige Beisetzung. Er selbst war im Begriff, nach Rom abzureisen, um seine Schwester heimzugeleiten. Über das Ende seiner Verwandtin berichtete er nur flüchtig, daß es ohne vorhergehendes Krankenlager, bei klarem Bewußtsein erfolgt sei. »Warum kann solch ein schönes Leben nicht von vorn angefangen werden!« wären ihre letzten Worte gewesen. Sie hätte für die Einbalsamierung ihres Leichnams und für den aufzulösenden Hausstand exakteste Vorschriften hinterlassen, wie denn auch schon bei ihrer kurzen Anwesenheit vor neun Jahren in dem Archiv des Schlosses die Anordnung ihrer Bestattung niedergelegt worden, von welcher nun unverzüglich Kenntnis zu nehmen sei.

Im Umkreis der Heimat hatten nur wenige die Abgeschiedene gekannt, keiner sie geliebt; und wie kleinlaut äußert sich denn überhaupt die Totenklage um einen Achtziger, auch wenn er gekannt und geliebt worden ist? Um so lebhafter beschäftigte man sich mit den äußeren Veränderungen, welche der Todesfall nach sich ziehen mußte. Konjektur über Konjektur bei hoch und gering; nur Pastor Blümel versenkte sich mit Innigkeit in das entschwundene Leben – schon um der Parentation willen, welche der Würde wie der Wahrheit gemäß abzuhalten er nicht nur als Pfarrer, sondern mehr noch als Vertrauensmann, den sie Freund genannt hatte, verpflichtet war.

Wie er aber auch sinnend ihre Spur verfolgen, wie er[252] ihre Briefe durchgrübeln mochte, es wollte ihm nicht gelingen, die Widersprüche dieser Natur zu einem Kettenschluß ineinanderzufügen: den scharfen Verstand und die Bizarrerien; das gütige Bezeigen und den Mangel an Liebe; den weichen Künstlersinn und die ätzende satirische Ader; die Unfähigkeit zum Glauben und das Bedürfnis, jegliches wahrhafte übersinnliche Streben zu ergründen und zu ehren; die unverwüstliche Daseinslust und die Bereitwilligkeit aufzuhören. Sooft Konstantin Blümel bei eines Menschen Tode die Magie seines Lebens erspürt hatte, hier fand er die Zauberformel nicht. Nun ja, ihr fehlte das Organ für den Schmerz. War es aber darum allein, daß die glückliche Harfenkönigin sich ihm nicht zu einem Dichtergebilde verklärte wie einst das elende Hirtenweib?

Indessen hatte in seinem Pfarrbereich ein lebhaftes Treiben Platz gegriffen. War die Kirche selbst von innen und außen schon vor Jahr und Tag säuberlich hergestellt worden, hatten selbst die ehrwürdigen schwarzen Herren am Altar sich eine Wäsche und einen aufmunternden Pinselstrich gefallen lassen müssen, so galt es nun schleunigst, die Gruft unter der Kirche zum Empfang des letzten Herbergsgastes würdig zu erneuern. Alle Hände voll waren zu tun, um den modernden, kellerartigen Raum in ein blaues Himmelsgewölbe umzuwandeln, es mit goldenen Sternen zu besäen, bunte Fensterscheiben einzulassen, den Fußboden mit Granitplatten zu belegen, die alten Särge aufzupolieren und, wo selbige mürbe geworden, in neue Gehäuse einzukapseln. Kein Pünktchen über dem I war in der eigenhändigen Vorschrift ausgelassen.

Sobald der Sarg in die Gruft gesenkt worden, sollte die goldene Harfe darauf befestigt und ihm zu Häupten[253] eine Marmorstatue aufgerichtet werden, welche, unter den Jugendzügen Thusneldas von Werben, die Muse der Tonkunst darstellte und, von dem ersten Meister der Zeit gefertigt, der Stolz des gastlichen Hauses in der Ostraallee, möglicherweise auch noch dessen am Monte Pincio gewesen war. Dies aber geschehen, sollte unverweilt, an Stelle der Falltür, die Gruft durch eine Steinplatte für alle berechenbare Zeit geschlossen werden.

»Denn,« so erläuterte die Verordnung, »kein Mensch von heute oder morgen hat ein Interesse daran, diese Stätte der Verwesung wieder zu betreten. Wenn aber nach Jahrhunderten vielleicht – durchaus kein beklagenswerter Schade! – der Oberbau in Trümmer gelegt sein wird, sei es durch verjüngende Barbarenhorden, sei es allein durch die verjüngende Barbarei der Zeit; und wenn, nach Jahrtausenden vielleicht, von den Forschern einer neuen Kulturepoche dieser Trümmerhaufe durchwühlt werden wird, dann soll das, was heute an die Vergänglichkeit mahnt, als ein Merkmal des Unsterblichen auf Erden entdeckt und gewürdigt werden.«

Die stärkste Spannung erregte das Testament, das vor der letzten Abreise nach Rom in Dresden niedergelegt worden war und vorschriftsmäßig jetzt von dort an das Patrimonialgericht ausgehändigt wurde. Als Termin für die Eröffnung war die alte Sitte einer Monatsfrist vom Tage des Todes ab auf die von dem der Bestattung hinausgeschoben worden. »Ein Schabernack, dem alten Spottvogel leichtlich zuzutrauen. Die erblustige lachende Sippe wird aus weiter Ferne auf den Trab gebracht und schließlich ihr ein Schnippchen geschlagen.« So legte nämlich der Judex Hecht, der selbst ein arger Spottvogel war, jene Aufschubsklausel aus, und zwar auf Grund der Aufschrift[254] des Testamentes, die folgendermaßen lautete: »Zu publizieren im Ahnensaale von Werben, durch den Justitiarius von Werben, in Gegenwart ad eins: der Mitglieder der Familie von Hartenstein, insofern selbige dem Geschlechte der Werben blutsverwandt oder verschwägert sind und Verlangen hegen, den letzten Willen der letzten Namensträgerin zu erfahren. Ad zwei: des Ortspfarrers von Werben, insofern am Tage der Publikation der jezeitige Herr Konstantin Blümel noch im Amte stehen oder aber dessen Pflegesohn Dezimus Frey ihm in diesem Amte nachgefolgt sein sollte.«

Nun, hinsichtlich dieses letzten »Oders« hatte die lebenslustige Testatorin ihre Dauerkraft freilich um viele Jahre überschätzt; in Mutter Hannas Herzen aber hatte das »Oder« den Johannissegen gewaltig ins Kraut schießen lassen. Sollte ihr braver Dezem bloß auf dem Testamente stehen und nicht auch darin? Ihr Konstantin belächelte den Aberglauben. Wollte es ihm auch nicht gelingen, den Kitt der einzelnen Seelenteile seiner weiland Patronin klärlich zu analysieren, das Totale, zu welchem die widersprechenden Teile sich so oder so verkittet, hatte er hinlänglich erfaßt, um zu wissen, daß sie nur einen Bluts- oder Kunstgenossen würdig erachtet haben werde des Erbes, auf welchem die heitere Freiheit ihres Lebens wesentlich beruht hatte. Aber einen Vertrauensakt sah er in der Berufung, mutmaßlich ein Bürgenamt für irgendwelches heikle Kommissorium. Und dieses ehrende Zeugnis von Herzenskunde galt Konstantin Blümel als das kostbarste Legat auch für den Jüngling, den er auf seinen Boden verpflanzt hatte.

In des Propstes Zustande trat seit Eintreffen der Todesbotschaft eine auffällige Besserung ein; seine Haltung hob[255] sich, vor den Blicken sank ein Nebel, die Schritte wurden elastisch wie einst.

»Niederschlagendes Resultat!« sagte Pastor Blümel mit einem tiefen Seufzer, »wenn unter dem Druck der Erdgewalten der Idealist dahin gelangt, von einem Lotteriegewinst den Frieden für sein Leben und Sterben zu erwarten.«

Die Beisetzungsangelegenheiten führten Herrn von Hartenstein wiederholt in das Pfarrhaus; er war mitteilsam wie noch nie; einmal äußerte er sogar, daß er seine Tage in der ihm liebgewordenen Stille von Werben zu beschließen gedenke, für den wahrscheinlichen Fall, daß dessen Besitz auf seine Gattin als nächste Erbin übergehe.

Lydia begleitete den Vater regelmäßig bei diesen Besuchen; in ihren Augen leuchtete ein Widerstrahl von seinem neuen Leben, und noch eine zweite Hoffnung zauberte auf ihre Wangen den einstigen Anemonenhauch. Ihr Bruder Martin war bereits zu der Bestattungsfeier eingetroffen; und durften denn nicht auch Sidonie und Max für sie erwartet werden, um voraussichtlich bis zur Testamentseröffnung zu verweilen? Ein voller Monat Freude!

Freund Martin strahlte im neuen Glück der Epauletten; er kam jeden Tag ein paarmal auf die Pfarre stolziert und machte natürlich, seiner Weltstellung entsprechend, Röschen den Hof.

»Ist die aber reizend geworden!« sagte er mit der Miene heimlichen Vertrauens, aber einer Stimme, als ob er seine ersten Rekruten kommandierte. »Dich nicht in die zu ver lieben! Dezimus, bist du denn von Stroh?«

»Ich liebe sie ja,« versetzte Dezimus stillvergnügt.

Röschen dahingegen sagte: »Ein guter Junge, dein Martin. Aber wie kommt es nur? Die Zeit wird mir[256] mit ihm greulich lang, und mit dir, alter Dezem, wird sie es doch nicht.«

»Das kommt: der Martin schwätzt, und Dezem hört dir Plaudertasche zu,« erklärte lachend Mutter Hanna. Denn unter vier Augen betrieben Röschen und Dezem ihre Schmeichelreden und Zärtlichkeiten nicht. Eifersüchtig auf den Leutnant konnte sonach der Primaner aber auch nicht werden.

Häufig brachte Martin seine beiden jüngeren Schwestern, Priszilla und Phöbe, mit; da wurde denn wie zu Kinderzeiten im Garten getollt oder auch in der Wohnstube ein Tänzchen gemacht. Peter Kurze gab den erforderlichen dritten Partner ab, und Peter Kurze war ein gewaltiger Springer vor dem Herrn, trotz eines Fettbäuchleins schon in Schülerjahren.

Und so ist denn die Reihe der Vorführung endlich auch an Peter Kurzen gekommen, der in der Geschichte eines Glücklichen nicht nur eine Rolle zu spielen haben wird, sondern auch selber ein Glücklicher war, zweifelsohne besser als der andere geeignet zur Heldenrolle in einer Geschichte, die in erster Ordnung doch unterhalten soll. Als jüngster Sohn des seligen Amtsbruders von Bielitz, daher Luischens Schwager, und als eine kreuzfidele Haut war er Dezems Intimus auf der Schule geworden, und die Pfarrtür von Werben stand allezeit gastlich vor ihm offen. Wenn sie ihm aber auch ungastlich vor der Nase zugeschlagen worden wäre, würde er durch die Hintertür wieder eingeschlüpft sein und gerufen haben: »Da bin ich, Peter Kurze, ich, ich, ich!« Denn blöde war Peter Kurze eben nicht. Wo er einen Schornstein rauchen sah, dachte er: Hier ist gut sein! Hatte Dame Fortuna just nicht splendid für ihn gesorgt, so sorgte er um so beflissener für sich selbst[257] und schob sich als armer Teufel äußerst vergnüglich durch die Welt.

Da er ein paar Jahr mehr als Dezimus zählte, war er heuer bereits als medizinischer Fuchs zu den Ferien eingesprungen und prangte nun erst recht in der Glorie der lustigmachenden Person. Daß er in seiner Manier nicht weniger als der Leutnant in der seinen dem Pfarrröschen »die Cour schnitt«, verstand sich, wie er selbst es ausdrückte, »am Rande«. Aber – glückselige Organisation für einen Primaner! – auch der Doktor in spe machte Dezem keine Herzbeklemmung.

Vater Blümel wollte freilich das Tanzen, in Erwartung einer Verwandtenleiche, nicht geziemend finden, seine Hanna aber sagte:

»Gönne doch den armen Dingerchen den ersten Luftzug der Freiheit, wer weiß, lieber Konstantin, wer weiß, wie bald ihn ein Trauerhauch verweht.«

Damit schlug sie einen Schottischen an, und die drei Paare hopsten seelenvergnügt rundum; am vergnügtesten die beiden Fräulein. Bei dem flinken Pfarrröschen aber hatte auf diesen ländlichen Bällen der Leutnant entschieden das Prä.

Lydia begleitete die Geschwister niemals. Sie ließ den Vater nicht allein. Ihr jüngster Bruder, Philipp, hatte das Scharlach gehabt, und die Mutter würde nicht um die Welt die Krankenstube vor den gesetzmäßigen sechs Wochen verlassen haben. Den siechen Gatten wußte sie ja unter der Tochter Augen wohlversorgt.

Eines Nachmittags, als das junge Volk im Pfarrgarten wieder einmal recht übermütig den Plumpsack walten ließ, kam Lydia aber dennoch ohne den Vater den Geschwistern nach, gegen ihre Art in ängstlicher Aufregung. Die Kammerfrau[258] der Tante hatte von dem Hafenplatze, wo die Ausschiffung der Leiche stattgefunden, geschrieben; da ihr Eintreffen in Werben binnen zwei Tagen erwartet werden durfte, wünschte der Propst, daß Martin bis zu der Station, wo die Eisenbahn verlassen wurde, ihr entgegenreise, um den Kondukt in die Heimat zu geleiten. Max und seine Schwester hatten bereits in Rom den Landweg eingeschlagen; die Kammerfrau vermutete sie längst in Werben. Und sie waren nicht angelangt, hatten keinerlei Nachricht von sich gegeben. »Wenn ihnen ein Unfall zugestoßen wäre?« schloß Lydia.

»Ach, gar ein Unfall!« widersprach Röschen lachend. »Sie werden sich unterwegs, wo es hübsch war, aufgehalten und gedacht haben: Was schadet es der seligen Tante, wenn sie ohne unser Beisein bei ihren Vätern den Einzug hält?«

Die Schloßgeschwister brachen auf; die Pfarrgeschwister, inklusive Peter Kurzens, begleiteten sie. Den Weinberg hinab, den Uferpfad entlang, die Terrassen hinan ging es in neckischem Fliehen und Sichhaschen. Keiner fragte danach, daß die tolle Jagd aus den Schloßfenstern beobachtet werden könne. Seit dem Eintreffen der Trauerpost aus Rom schien in dem klösterlichen Hause alles außer Rand und Band geraten. Nur Lydia und Dezimus gingen sacht hinterdrein; sie folgten Max auf seiner Alpenreise und langten am Fuße der Terrasse erst an, als die anderen längst im Schlosse verschwunden waren.

Jählings starrte beider Schritt, stockte beider Atem. Von oben herab kam einer ihnen entgegen, mit verwegenem Satz die letzte Mauerstufe hinunterspringend.

»Lydia!« rief Max, umfaßte sie mit beiden Armen und preßte seine Lippen auf die ihren.[259]

Sie war einen Moment von Purpur übergossen; im nächsten hatte sie sich ihm entwunden. Ein Schauer flog über ihren Leib; sie stand entfärbt, mit geschlossenen Augen wie in den Boden gewurzelt.

»Grüß Sie Gott, Dezimus! Himmel, was sind Sie groß geworden. Aber sehen Sie doch dieses Bild, dieses Göttermenschenbild!«

Sidonie war es, welche, langsam die unterste Terrasse niedersteigend, also sprach, indem sie die eine Hand Dezimus entgegenstreckte und mit der anderen auf die versteinerte Gruppe der beiden schönen jungen Verwandten deutete. Dann gegenseitiger Willkommenwechsel, Aufklärung und Mitteilung. Sidonie führte das Wort. Maxens Augen hingen mit gleichem Entzücken an Lydia wie die von Dezimus an seinem Jovisstern.

Aber auch die Verwandlung der kleinen Sidi machte ihn staunen. Eine langwierige orthopädische Kur hatte Wunder an ihr gewirkt; sie war bedeutend gewachsen, und wenn die Unebenheit des Baues auch nicht ausgeglichen werden konnte, der Kopf war nahezu schön; man sah es ihr an, daß nur ein äußerer Unfall die Mißgestalt verschuldet hatte. Das gemischte Blut der Hartenstein und Mehlborn strömte in ihren Adern so gesund wie in denen ihres herrlichen Bruders. Im übrigen war sie, wie schon als Kind, sich ihres Makels bewußt und brach ihm durch rüstigen Humor die Spitze ab. Lydia sprach an diesem Abend kaum ein Wort. Ihre Lider waren wie im wachen Traume gesenkt, sie schwebte einher, als ob ihr Flügel gewachsen wären.

Am anderen Morgen widerfuhr dem vom Glück erkorenen Johannissohne wieder einmal so unverdient wie unversehens eine außerordentliche Ehre. Während er sich mit seinem Vater in der großen Geschäftsangelegenheit[260] des Tages auf dem Schlosse befand, rollte der Wagen vor, in welchem Martin der seligen Großtante bis zur Bahnstation entgegenreisen sollte. Die Begleitung seines Vetters war als selbstverständlich angenommen worden. Fräulein Sidonie erklärte indessen rund heraus, ihr Bruder sei für solch eine ermüdende Partie von der Reise zu angegriffen.

Max lächelte bei den Worten, widersprach jedoch nicht; nur zu der ernstblickenden Lydia sagte er leise: »Ich halte es mit dem Tod, aber nicht mit den Toten.«

»Aber, du lieber Gott! ich ganz allein den weiten Weg hin und zurück, da muß ich ja vor Langeweile sterben!« sagte Martin im allerkläglichsten Ton. »Komm du mit, Dezimus, tu mir den Gefallen!«

Und so geschah es, daß Held Dezimus, wie er einstmals zu Füßen der blumengeschmückten Harfenkönigin eine rasche stolze Fahrt in einem Viergespann gemacht, nach Jahren als Leidtragender in einer Trauerkutsche und geziemend feierlichem Tempo dem stolzen Viergespann folgte, in welchem die nämliche Harfenkönigin im kunstvoll gemeißelten Marmorsarge zur Gruft ihrer Ahnen befördert wurde. Vor dem Sarggehäuse saß neben dem rabenschwarzen Leichenkommissarius silberstrotzend der Diener mit den noch immer blühenden Wangen. Breite Trauerflore wallten vom Hut über seine weißen Locken. In einem zweiten Wagen folgte weinend die alte Kammerfrau nebst der gleichfalls zu versenkenden seligen Harfe; beide dicht in schwarzen Krepp gehüllt. Auf einem dritten Gefährt überwachte ein bewährter Werkführer die Muse der Musik in ihrer hölzernen Umkapselung. Gewiß ein imposanter Kondukt, weit und breit unerlebt!

Aber die Fahrt währte lange, und Morgenluft zehrt, selbst im Gefolge eines Leichenwagens. Ein weislich von[261] Freund Martin mitgeführtes Frühstück tat daher gute Dienste, wurde auch von beiden Leidtragenden mit so munterem Appetit verzehrt, als ginge die Reise flott zu einer Hochzeitsfeier.

An der Grenze des Werbener Weichbildes stiegen die Freunde aus, um sich der Rangordnung ihres Leidwesens gemäß dem Zuge einzureihen; denn hier wartete der Pfarrer samt allen, welche berufen oder auch nicht berufen waren, der Gutsherrin und dem mit ihr abscheidenden angesehenen Geschlecht die letzte Ehre zu erweisen.

»Ein hübsches Zügelchen!« sagte schmunzelnd Kantor Beyfuß zu seinem Nachbar, dem vormaligen Quatermillionenschüler, während der Kondukt sich die neue Grabesstraße hinanbewegte, auf deren Boden Kalmuszweige und Maienlaub verdufteten.

Die Kirche war in eine Laube umgewandelt, der Altarplatz so dicht mit Lorbeer- und Zypressengruppen gefüllt, daß außer für den Sarg nur noch Raum für die beiden Familien des Schlosses und der Pfarre übrigblieb. Im Schiffe dagegen drängte sich Kopf an Kopf. Aus weitem Umkreis hatte hoch und gering den köstlichen Frühlingstag benutzt, um die Fliederblüte und das Begängnis einer Harfenkönigin zu genießen. Auch Amtmann Mehlborn wurde seit vielen Jahren zum ersten Male wieder in seiner alten Kirche, zwar nicht unter den Leidtragenden, aber doch unter den Schaulustigen bemerkt.

Die Glocken hatten in Pausen schon den ganzen Morgen geläutet. Sobald der Sarg über die Kirchschwelle gehoben ward, stimmte, wohleingeübt, die städtische Liedertafel eine Motette an über den Psalmistenspruch: »Ich bin verstummt und schweige der Freuden. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben.«[262]

Nun hielt Pastor Blümel die Parentation; nicht in freier Eingebung seinem Gemüte entströmend; ein wohlbedachtes, wohlgefügtes Redestück, würdig der Künstlerin, deren Lebensabriß es in sich faßte, und diesem entsprechend der Text:

»Wessen Ohr mich hörete, der pries mich selig, und wessen Auge mich sah, der rühmte mich. Denn ich errettete den Armen, der da schrie, Gerechtigkeit war mein fürstlicher Hut, und welche Sache ich nicht wußte, die erforschte ich. Ich gedachte: ich will meiner Tage viele machen und in meinem Neste ruhen.«

Es war sonst nicht Pastor Blümels Sache, solch ein Bibelwort, aus seinem natürlichen Zusammenhange gerissen, einem fremdartigen Anlasse einzuzwängen, und gewißlich hatte Fräulein Thusnelda von Werben keine Seelenverwandtschaft mit dem Dulder von Uz. Da in diesem speziellen Falle aber nun einmal sich durchaus nicht auf den Glauben, die Liebe und Hoffnung eines Christen in diesem irdischen Jammertale berufen werden durfte, half sich auch ein Blümel aus der Verlegenheit, wie mancher seiner frommen Amtsbrüder es ohne Skrupel tut. Die warme Zuversicht aber, mit welcher er aussprach, daß diese Greisin, welche, der seltensten eine, nur mit den guten, nicht mit den bösen Erinnerungen des Hiob aus dem diesseitigen Leben geschieden sei, in dem unerforschlichen Jenseit für die Entwickelungen reifen werde, welche hienieden nur der Traurigkeit entkeimen, dem Leidtragen, das wir eben darum ein beseligendes nennen; diese warme Zuversicht machte auch die Herzen der Hörer warm und gab dem christlichen Segensspruch die Weihe der Wahrhaftigkeit.

Ob auch dem Propst von Hartenstein mit diesem seltsamen Textwort und der Anwendung des Unionisten Genüge[263] geschehen, ließ sich weder behaupten noch verneinen. Er saß in sich versunken, tödlich bleich, die Hand seiner Tochter Lydia in der seinen. Seine Gattin weinte, und die Kinder hoben die Augen nicht vom Boden. Fräulein Sidonie jedoch drückte dem Redner einverstanden die Hand, und ihr Bruder versicherte ihm später lächelnd, er habe seine schwierige Aufgabe bewundernswert gelöst. Amtmann Mehlborn aber soll auf dem Heimwege gegen Kantor Beyfuß, seinen einzigen sogenannten Freund, geäußert haben: Solange er seine Augen offen hätte, möchte er nichts mehr mit dem alten Blümel zu schaffen haben. Es wäre ihm aber doch lieb, wenn er es so lange machte, daß er ihm noch einmal den Lebenslauf auslegen könnte.

Unter entsprechendem Chorgesang war der Sarg in das Gewölbe hinabgelassen worden; die goldene Harfe wurde über ihm befestigt, die Muse der Musik auf ihr Postament gestellt. Noch vor Tagesneigen hatte man die schließende Platte in den Boden gefügt, und die letzte Spur von Thusnelda von Werbens Freudenleben war verschwunden.

Programmgemäß wurde das Erlöschen des alten Geschlechts durch einen Schmaus gefeiert. Der Pächter bewirtete die Dienstleute des Hofes, für die Würdenträger, das heißt die Pfarrfamilie und den Justitiarius, öffnete Herr von Hartenstein zum ersten Male den Werbenschen Speisesaal. Dort wie hier waren die Tafelgenüsse der abgeschiedenen reichen Herrin würdig; die Ehrenbezeugungen zu ihrem Andenken unter freiem Himmel jedoch lauter und nachhaltiger als zwischen den spärlich gefüllten vier Pfählen. Der Propst sehnte sich nach seinem Ruhebett, seine Gattin nach ihres Knaben Quarantänezimmer. Die Sonne hatte schon tief gestanden, als die Suppe, und sie war noch nicht gesunken, als der Kaffee genommen ward. Rat Hecht[264] machte sich auf den Heimweg nach der Stadt, Pastor Blümel mit seiner Hanna auf den nach der Pfarre. Die junge Gesellschaft fühlte das Bedürfnis frischer Luft und brach zu einem Spaziergange auf. Nur Sidonie, die schwache Fußgängerin, blieb zu Hause. Sie schmachtete nach Musik, die sie seit der Abreise von Rom weder geübt noch gehört hatte, und da es in der geistlichen Familie außer einem Kinderklapperkasten ein Klavier nicht gab, wurde im Ahnensaal an Lydias Orgel der Vortrag einer Bachschen Fuge zu einer abschließenden Trauerfeier.

Peter Kurze, der Lustigmacher, war zum Vorteil einer geziemenden Stimmung nicht von der spazierenden Partie, indem er, als ungeladener Tafelgast, sich in die Umgegend verzogen hatte. Die anderen zerstreuten sich gruppenweis unter dem dämmernden Abendhimmel. Leutnant Martin kletterte mit Lebensgefahr am Mühlgrabenufer auf und ab, die zarten Vergißmeinnicht zu pflücken, die ohne seine augenschärfenden Erstlingsgefühle ungesehen verblüht sein würden. Schönröschen, auf einem Baumstamme sitzend, wand einen Kranz aus den Blaublümlein. Des Leutnants Seligkeit hing von dem Besitze dieses Kranzes ab. Er wollte ihn im Schlachtgewühl als feienden Talisman auf seinem Herzen tragen. Das schnöde Röschen aber meinte lachend, für solches Unterfutter sei seine Uniform viel zu knapp, und setzte den Kranz auf ihre schwarzen Locken, worauf der Leutnant versicherte: er stehe ihr göttlich!

An Dezimus' Arm hatten sich die beiden Fräulein Priszilla und Phöbe gehängt mit der Bitte, er solle sie an diesem feierlichen Abend ein wenig mit der Sternenwelt bekannt machen. Und warum sollte Dezimus ihnen dieses weihevolle Verlangen nicht befriedigen? Er führte sie nach dem Hünengrabe und nannte ihnen die Sternbilder, die eines[265] nach dem anderen am östlichen Horizonte auftauchten, während gen Abend der Himmel noch im Karmin des Sonnenunterganges glühte. Nun wollten die Fräulein aber auch für die fünf Schloßgeschwister ein besonderes Sternbild gleich dem der sieben Pfarrschwestern ausgesucht haben. Und warum sollte Dezimus ihnen nicht auch dieses Verlangen befriedigen? Er ließ ihnen sogar die Wahl zwischen der Kassiopeja und dem kleinen Bären. Sie konnten lange nicht einig werden; die Kassiopeja war freilich viel schöner, der lieben Nachbarschaft wegen entschieden sie sich aber doch für das Fünfgespann neben dem Siebengespann.

Max hatte Lydias Arm unter den seinen gezogen und ging mit ihr den Uferpfad entlang. Der milde Abend lud zu einer Wasserfahrt ein, aber der Bootsmann hatte nach dem heutigen sauren Tagewerk zu früher Stunde Schicht gemacht, und der Kahn regierte sich schwer von einem allein.

So setzten sie sich denn auf eine Bank vor der aus Rohr geflochtenen Fährhütte und blickten eine lange Weile schweigend auf den Fluß, der zu ihren Füßen im Abenddämmer glitzerte. Ringsum zog sich das alte Werbensche Fasanengehege. Das Unterholz ist zu Bäumen herangewachsen, und es nisten seit vielen, vielen Jahren keine goldenen und silbernen Jagdvögel mehr in ihrem Laub. Aber unscheinbare Nachtigallen haben sich angesiedelt in dem verlassenen Reich und locken von weit und breit Sangesgenossen herbei. Windstille in dichten Laubkronen, klares Wasser, Ameisenhügel, von keinem Spatenstich gestört, dann und wann ein Ruderschlag und abends vor der Fährhütte ein lauschendes Paar, was braucht eine Nachtigall zum Heimischwerden mehr? Es waren glückliche Kolonisten. So gut jedoch wie heute, wo man die alte Menschenschwester zur Ruhe gelegt, so gut war es ihnen lange nicht[266] geworden, denn sie hatten allerlei Volks an ihrem Gehege vorüberstreifen sehen, und die Nachtigallen sind auch in der Minnezeit gar neugierige Kreaturen.

Nun aber ist es wieder still geworden. Nur dort unter dem Fliederbusch sitzt noch ein Menschenpaar, so schön, wie noch keines ihren Liebesweisen gelauscht, und was ein Maienabend an Wonnen zu bieten hat, dieser bot es. Hoch oben die blaue Nacht mit ihrem Goldgefunkel, linde Lüfte und vom Boden Nektarwürze, aus allen Wipfeln sehnsüchtig schmachtendes Locken. Im engen Bett rauscht weiter abwärts der Fluß; hier aber weitet er sich still und dunkel zu einem Himmelsspiegel.

»Still und dunkel wie deine Augen, Lydia,« flüstert Max. »Ein süßes, heiliges Märchen wie du!«

Und dann saßen sie wieder lange Hand in Hand und schwiegen und atmeten den Zauber des Mai.


Am anderen Morgen nahm die Schloßfamilie mit ihren Gästen das Frühstück auf der Terrasse; der Propst hatte sich über Nacht merklich erholt, Philipp sonnte sich mit seinem Mütterchen zum ersten Male nach der langen Zimmerhaft. Aus aller Blicken sprachen Hoffnung und Lust, so als antworteten sie auf den Maienblick der Natur.

»Mir ist dieses Tal früher gar nicht so anmutig vorgekommen,« sagte Max, und Sidonie, die allen anderen gern neckend widersprach, aber jederzeit ihres Bruders Echo war, setzte hinzu: »Ich hatte keine Erinnerung mehr von ihm, stellte es mir aber vor wie den Anfang der Lüneburger Heide. Im Mai finden wir freilich auch Heideschnucken graziös. Nun, es müßte sich allenfalls hier schon leben lassen.«

Die Geschwister hatten bei ihrer unerwarteten gestrigen[267] Ankunft dem Oheim erklärt, daß sie die Frist zwischen der Bestattung und Testamentseröffnung, welche aus einem ominösen Zufall am 24. Juni, Mutter Blümels Segenstag, statthaben mußte, in Dresden zuzubringen gedächten. Jetzt stellte Max unerwartet die Frage:

»Würdest du mich, liebe Tante, diesen Monat lang dir als Gast gefallen lassen?«

»Und mich natürlich auch,« ergänzte Sidonie, »denn Max und ich sind fortan eins.«

Frau von Hartenstein blickte schüchtern zu ihrem Gatten und dieser scharf eindringend zu Lydia hinüber, die, eine Pupurwoge auf den Wangen, die Lider senkte. »Ihr sollt uns willkommen sein,« sagte der Propst darauf.

»Herzlich willkommen!« beteuerte Frau Ottilie, und die Geschwister sagten Dank.

Nach einer Pause fragte der Propst, ob sie willens seien, den Amtmann Mehlborn aufzusuchen?

»Ich denke nicht daran,« antwortete Max, während Sidonie nur stumm die Achseln zuckte. Lydia aber fragte mit fast strengem Blick:

»Nicht eueren Großvater sehen, eurer Mutter Vater?«

»Das wäre kein Grund, Cousinchen,« äußerte Max leichthin. »Aber gut, du befiehlst, so werden wir ihm aufwarten.«

Sidonie nickte zustimmend, sogar sichtbar befriedigt.

Die Unterhaltung, anfänglich heiter fließend, war unwillkürlich in einen kurzen Trab von Frage und Antwort geraten, der keinem erquicklich schien. Als weiterhin der Oheim zu wissen wünschte, welche Pläne der Neffe für seine Zukunft verfolge, antwortete dieser:

»Im Moment keine. Das Testament wird den Ausschlag geben.«[268]

»Aber, lieber Max,« wendete Sidonie ein, »welchen Einfluß auf deine Wahl dürfte diese Verfügung haben? Du weißt ja, unter allen Umständen bleibt dir freie Hand.«

Der Propst zuckte zusammen, als ob er einen Krampf am Herzen spüre. Mehr als Sidoniens Worte hatten die sie begleitenden Blicke ihm verraten, daß sie sich und ihren Bruder des Werbenschen Erbes versichert hielt. Besaß sie ein Zeugnis dafür, sie, die einzige der Familie, welcher die Erblasserin näher getreten war, die sie vielleicht mütterlich liebgewonnen hatte? Er erhob sich rasch, um sich in sein Zimmer zurückzuziehen, kehrte halben Wegs jedoch um und sagte mit ungewohnter Freundlichkeit:

»Sei unseren lieben Gästen, Lydia, doppelt eine aufmerksame Wirtin, da die Mutter durch Philipps Rekonvaleszenz noch vielfach in Anspruch genommen ist. Ich selbst fühle mich ja, Gott sei Dank, jetzt wohl genug, um deine Gegenwart einmal auch anderen gönnen zu dürfen.«

Sidonie erinnerte sich auch nicht des flüchtigsten Wortes als Zeugnis für das ihr vorbestimmte Erbe; aber sie bedurfte dieses Wortes auch nicht, so fest stand ihre Zuversicht desselben, nahezu wie eines natürlichen Rechtes. Und in der unumwundenen Art, welche sie sich im Verkehr mit der Tante angeeignet hatte, sprach sie diese Zuversicht auch aus, als sie noch am nämlichen Vormittag auf die Pfarre kam, um, wie sie fortan jeden Morgen tat, das dortige Instrument zu benutzen, da dasselbe immerhin noch etwas weniger Klapperkasten als das des Schlosses war.

»Kann eine Verblendung törichter sein?« sagte sie halb ärgerlich, halb im Scherz. »Ich merkte es an all seinem Gebaren und habe es an einer rechtzeitigen Warnung nicht fehlen lassen. Dieser standfeste Jünger des blutarmen Doktor Luther hat sich allen Ernstes in den Kopf gesetzt,[269] die Schatzkammer der leibhaftigen Frau Hulda zu überkommen. Er, der einzige Mensch, der ihr unverständlich, daher schlechthin widerwärtig war, den sie immer nur den Oberdruiden nannte und von dessen Familie sie nicht viel mehr hatte kennen lernen, als daß sie samt und sonders nicht die schwächste künstlerische Ader in sich barg.«

»Die sie aber in drückender zeitlicher Sorge wußte,« wendete Pastor Blümel ein.

»Wußte sie darum? Sie korrespondierte mit keinem von ihnen, und ich selbst bin erst diesen Morgen auf den Argwohn gekommen, als – –«

»Ja, sie wußte darum, liebes Fräulein.«

»Um so schlimmer für sie. Die Sorgen waren selbstverschuldete; ein Grund mehr, die Sorgenträger von einem Besitz auszuschließen, auf dessen Erhaltung es ihr vor allen Dingen ankam. Eine unantastbare Leibrente würde an dieser Stelle die gebotene Hülfe sein.«

»Frau Ottilie von Hartenstein bleibt aber immer der Dame nächste Blutsverwandte.«

»Nach meinem Papa, welcher der Sohn der älteren Schwester und der geborene Erbe von Werben war. Hat sein Vater ihm das Nachfolgerecht verscherzt, ei nun! die schönheitssüchtige Thusnelda nannte Großpapa gern den schönsten Mann, den ihre Augen gesehen, und irre ich nicht stark, war er der einzige, der ihr jungfräuliches Herz schwach gemacht haben würde, wenn er nicht ihre Schwester, die eine treffliche Tänzerin war, der trefflichen Sängerin vorgezogen hätte. Würde denn auch ohne eine gewisse Sympathie sie, nach allem Vorhergegangenen, sich bereitwillig mit ihm ausgesöhnt, für die Erziehung seiner Enkel in so umfassender Weise Sorge getragen haben? Was hat sie für die Kinder Ottiliens getan, die, wenn auch in anderer[270] Weise, der Verkümmerung nicht weniger ausgesetzt waren als wir? Überdies war die Tante so jugendlichen Sinnes, zog bis an ihr Ende die heitere Jugend so unverhohlen aller sogenannten Altersweisheit und Tugend vor, daß es ihr auch in bezug auf ihr Erbe auf einen näheren oder ferneren Verwandtschaftsgrad nicht ankommen konnte, zumal wenn bei dem letzteren auf eine Nachfolge in ihrem künstlerischen Streben zu rechnen war.«

»Und ist Ihnen niemals der Gedanke gekommen, daß die leidenschaftliche Kunstfreundin über ihre Hinterlassenschaft zu kunstfördernden Zwecken verfügt haben könnte?«

»Hinsichtlich ihres Barvermögens, des Hauses in Dresden, ihrer Sammlungen und so weiter höchst wahrscheinlich; hinsichtlich des Werbenschen Stammgutes keinenfalls. Warum hätte sie es als Siebzigerin mit dem Opfer weit höheren Zins tragender Dokumente wieder in ihre Hand gebracht? Ist dies der Platz, wo man etwa eine Harfenschule gründet? Nein, was der Familie entstammte, sollte der Familie verbleiben, und die Repräsentantin dieser Familie war für sie – ich. Mich hat sie gebildet, mein ist ihr Talent, ihre Anschauung, in gewissem Sinne ihr Schicksal. Nur ich kann ihr eigenes Leben fortführen; um dies aber zu können, muß ich zunächst ihre Erbin sein. Ich, das heißt mittelbar mein Bruder. Denn das wußte sie ja ganz wohl, und darin hat sie mich von früh ab festgemacht, daß ich, ein Krüppel, wie ich durch die Vernachlässigung meiner Mutter geworden bin, niemals einen näheren Angehörigen haben werde als meinen Max, der überdies für fast jegliche Kunstrichtung reicher als ich begabt und durch die Fürsorge der Tante vollständig darin ausgebildet ist.«

»Der aber, so gut wie Sie, Fräulein Sidonie, dereinst[271] ein Vermögen besitzen wird, gegen welches das Erbe von Werben verschwindet.«

»Eben darum. Nicht eine mäßig, nur eine reich gefüllte Hand genügte ihren Zwecken. Sehr möglich, daß sie direkt zu meines Bruders Gunsten testiert haben würde, hätte sie in ihm nicht das unwirtschaftliche Hartensteinsche Temperament vorausgesetzt. Mich hielt sie für praktischer und mit Recht. Man kann des Guten nicht zu viel haben für sich und andere, pflegte sie zu sagen. Sie tat in letzerer Beziehung auch viel. Nur daß man ihre Wohltat nicht bemerken, nicht durch sie bedrückt, beschämt erscheinen, ihr nicht anders als durch frohen Genuß dafür danken durfte. Darum gab sie auch meinem Max so gern, weil er alles Förderliche ohne demütigende Phrase, wie himmlischen Regen und Sonnenschein, von ihr angenommen hat.«

Pastor Blümel machte noch den Einwand, daß die Verstorbene ihren letzten Willen ja aufgesetzt habe, bevor sie sich von der ihrer Sinnesart gemäßen Entwicklung ihrer Verwandten überzeugt, und daß er unverändert geblieben sei. Sidonie ließ an ihrer Zuversicht indessen nicht rütteln. Ihre Luftschlösser standen fix und fertig aufgebaut. Die Familie des Propstes mochte, ob der Vater lebte oder starb, nach wie vor das Schloß bewohnen und den Notpfennig, welchen die Erblasserin ihr vielleicht zugewendet hatte, darin genießen. Sie, Sidonie, folgte ihrem Bruder, wohin es auch sei. »Er braucht Freiheit, und ich finde alles, was ich brauche, in seiner Nähe.«

Nach diesem Schlußsatz setzte sie sich an das Klavier, und das Prestissimo einer Beethovenschen Sonate erbrauste in Perlenreine unter ihren schlanken Händen.

»Mir klingt es vor den Ohren, Konstantin, als wäre wieder einmal Lisettchens Milchtopf in Scherben zerbrochen,«[272] sagte Frau Hanna, welche dem Gespräche, ohne ein Wort darein zu geben, zugehört hatte. Ihr Konstantin seufzte.

Für den Besuch des Talgutes am anderen Nachmittag hatte Sidonie, zur eigenen Schonung und zur Belustigung des gesamten jungen Volks, sich eine Kahnfahrt ausgedacht. Lydia wollte zurückbleiben, da ihr Vater seit gestern morgen sich wieder übler fühlte; er selber aber drängte sie zur Teilnahme mit einer Hast, die sie befremdete. Wollte er allein sein? Gönnte er ihr eine flüchtige Freude vor einem unvergänglichen Schmerz? Oder – hatte er einen Blick in ihren heimlichsten Seelengrund getan? Lydia errötete bei dieser letzten Vorstellung, aber sie ging mit erleichtertem Sinn, nachdem sie ihr aufgestiegen war.

Vor der Fährhütte traf die Schloßgesellschaft mit der Pfarrgesellschaft zusammen, ein jeder froh gelaunt und witzig nach seiner Art; nur Max erschien, trotz Lydias Gegenwart, um des unliebsamen Zieles willen, verstimmt.

»Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, Fräulein Rose?« fragte der Leutnant, und da Fräulein Rose die Vorstellungen eines Leutnants nicht zu erraten vermochte, erklärte er: »Wie ein weißes Täubchen mit einem schwarzen Köpfchen zwischen drei schwarzen Tauben mit weißen Köpfen.«

Auch diese dem Kleiderschrank entlehnte Galanterie wurde lachend gewürdigt.

»Wie gefällt dir Röschen?« fragte Martin seine Cousine, die in Erwartung des Kahnes seinen Arm genommen hatte.

»Allerliebst,« antwortete Sidonie. »Sie gleicht dieser Gegend. Die frische Anmut läßt die Schönheit nicht vermissen.«[273]

»Du hast recht,« fiel Max, der Frage und Antwort gehört hatte, ein. »In solche Gegend zieht man sich zurück, wenn man des Weltlebens überdrüssig geworden ist, und solch ein Mädchen heiratet man, wenn man nicht mehr nach Schönheit und Liebe verlangt.«

»Seid ihr alle beide aber merkwürdig,« entgegnete Martin gegen seine Art ein wenig pikiert. »Was mich anbelangt, so finde ich Röschen wunderschön, und daß nicht immer aus Liebe geheiratet werden kann, das begreife ich. Warum aber einer Röschen heiraten sollte, der sie nicht schön findet und nicht in sie verliebt ist, das begreife ich nicht.«

»Weil sie ein zierliches Pantoffelregiment führen würde, große Schönheiten aber gewöhnlich große Füße haben,« erklärte Sidonie lachend, und der Leutnant war so klug wie zuvor.

Man stieg in den Kahn, Dezimus und Peter Kurze führten die Ruder; die übrigen gruppierten sich je zwei nebeneinander auf den Bänken; Lydia und Max Dezimus zunächst. Die maifrischen Gesichter inmitten der maifrischen Landschaft erquickten das Auge der verwöhnten kleinen Künstlerin. Sie hatte eine besondere Art von Gitarre oder Laute aus Italien mitgebracht und heute nicht vergessen. »Zu einer Gondelfahrt gehört Gesang,« sagte sie, »mache den Anfang, lieber Max.«

Nach kurzer Verständigung griff sie in die Saiten, und ihr Bruder hob eine Barkarole an mit einem Tenor, so weich und glockenhell, wie die Gesellschaft, außer Sidonien, noch keine Menschenstimme vernommen hatte. Lydias große Augen hingen mit Entzücken an seinen Lippen, Röschen jubelte laut auf, und Dezimus bewunderte in neidlosem Verstummen die Fülle der besten Gaben, welche die[274] Natur diesem herrlichen Jüngling eingebunden hatte. Ach, wie arm und gering nahm er sich neben diesem Glücklichen aus, er, der doch auch ein Glückskind hieß!

Wer hätte unmittelbar nach diesem Wohllaut seine Stimme hören lassen mögen? Da Peter Kurze, der unermüdliche Unterhalter, durch das Ruder in Anspruch genommen war, kam somit die Reihe des Witzigseins wieder an den Leutnant, und da ihm just nichts Neueres oder Geistreicheres einfiel, sprang er auf und begann mit ausgespreizten Beinen, bald links, bald rechts tretend, den Kahn zu schaukeln, so daß, stark gefüllt, wie er war, das Wasser um ein Haar über die Ränder getreten wäre.

Priszilla und Phöbe kreischten laut auf. »Halte mich, Dezem!« schrie Röschen.

»Dummer Junge!« brummte Peter Kurze, zum Glück unverstanden. Sidonie aber, rasch gefaßt, zog den armen Spaßvogel an ihre Seite nieder mit den Worten: »Hier bleibst du sitzen! Du, Phöbe, neben Rosen! Nicht gerührt!«

»Ich bin schon als Fähnrich Freischwimmer gewesen, ich würde euch alle gerettet haben,« sagte der Leutnant, leistete aber gehorsam Folge und saß mucksmäuschenstill.

Das Gleichgewicht der Bewegung war somit hergestellt; daß aber auch das der Stimmung wiederhergestellt werde, hob Peter Kurze seinen Leibkanon an, den er bei jeder möglichen Gelegenheit zum Vortrag brachte und in welchen das kunstsinnige Fräulein Sidi unverdrossen einstimmte:

»Sind wir wieder einmal beisamm gewest,

Han uns wieder einmal liebgehat« und so weiter.

Nur Dezimus und die beiden, welche seiner Ruderbank zunächst saßen, sangen nicht mit. Die beiden flüsterten miteinander, und jenem erweckte das Flüstern, von dem ein Wort und das andere zu ihm hinüber drang, bewegliche Gedanken.[275]

Beim Schwanken des Bootes hatte Lydia sich an Max geklammert; er umfaßte sie, drückte sie an sich und hauchte in ihr Ohr:

»So sterben, wäre das nicht schön?« setzte aber lauter rasch hinzu: »Nein, nein, zuvor so leben, Lydia!«

Sie entwand sich seinen Armen und senkte die Lider vor seinen flammenden Blicken. Nach einer langen Stille fragte sie leise: »Du sagtest neulich, Max, du liebtest den Tod, aber nicht die Toten. Hieß das so viel, als du liebtest die Lebenden, aber nicht das Leben?«

»Nein, gewiß,« antwortete er, »das hieß es nicht; denn als ich es sagte, hatte ich noch keinen Lebenden geliebt.«

»Max!«

»Du meinst meine Schwester? O nicht doch, Lydia! Was ich für dieses gute, verkümmerte Wesen empfinde, ist Trauer oder, wie du es nennen magst, Erbarmen. Liebe aber ist Wonne, ist Seligkeit, und heute, Lydia, heute – –«

»Aber das Leben, Max?« unterbrach sie ihn hastig. »Liebst du, erfüllt dich das Leben?«

»Wer liebte es nicht, Lydia, und wer dürfte es nicht lieben, da es einen Tod gibt, der es endet, wenn es kein Leben, keine Erfüllung mehr ist?«

»Was nennst du leben, Max?« fragte Lydia nach einer neuen Stille.

»Das!« antwortete er. Er zog aus ihrem Gürtel eine Frührose, die er ihr vor der Abfahrt gereicht hatte, sog in vollen Zügen ihren Duft ein, bis die Blätter auseinanderfielen, und warf sie dann in den Fluß. »Das!«

Der Kahn stieß in diesem Augenblicke an das Ufer. Max führte seine Schwester nach dem Herrenhause; die übrige Gesellschaft schlug in der Zwischenzeit unter Peter Kurzens Führung einen Spazierweg ein; Lydia blieb zurück.[276] Sie wäre wohl gern ganz allein gewesen; einer jedoch mußte den Kahn sichern, für den es in dieser Nähe der Stromschnellen keinen Anhalt gab; da dieser eine aber Dezimus war, blieb sie wenigstens so gut wie allein. Denn nach den heimlichsten Offenbarungen einer Dichterseele eine Unterhaltung zu versuchen, nein, so ausverschämt war der Held dieser Geschichte nicht.

Lydias Blicke folgten sinnend der Rose weit hinaus, bis sie auf und nieder tauchend zwischen den weißen Strudeln verschwunden war. Jetzt erst schien sie eines Dritten Gegenwart innezuwerden; und da es ihr einfallen mochte, daß er wohl ihr Gespräch mit Max gehört haben könne, fragte sie mit dem ihr eigenen gütigen Lächeln: »Was nennen Sie leben, lieber Dezimus?«

Er dachte eine Weile nach, dann, zu ehrlich, um seine Zeugenschaft zu verleugnen, antwortete er: »Was ich selber vom Leben weiß, heißt auch nur glücklich sein. Wie aber mein Vater mich das Leben verstehen lehrt, heißt es reifen, werden.«

»Und sterben?«

»Ich glaube: das nämliche.«

Ob diese Antwort Lydia genügte? Ob sie dem Glauben sich einfügen ließ, den sie selbst unumstößlich von ihrem Vater überkommen hatte? Gewißlich nicht. Aber ihr Puls schlug heute empfänglich für die Deutungen der Jugend, Freude und Liebe jauchzten in ihrer Brust. Sie stellte keine Frage weiter, saß ganz still mit halbgeschlossenen Augen, so als ob die plätschernden Wellen sie in Schlummer lullen sollten, und wie aus einem Traume erwachend fuhr sie jach in die Höhe, als Max und seine Schwester unerwartet früh zurückkehrten.

Sidonie lachte; aus ihren klugen Augen blitzte ein lustiger[277] Spott; ihres Bruders schönes Gesicht dahingegen war durch einen Zug mehr von Ekel als Zorn bis zur Unschönheit entstellt.

»Ich gehe zu Fuße nach Hause,« sagte er. »Am Fährplatze erwarte ich euch. Du, Lydia,« setzte er freundlicher hinzu, »müßtest eigentlich mit mir kommen. Du hast mir diese häßliche Stunde aufgenötigt und bist mir eine Vergütung schuldig.«

Sie stieg ohne ein Wort der Erwiderung aus, legte ihren Arm in den seinen, und sie gingen den Uferpfad entlang.

Da die übrige Gesellschaft noch zögerte, setzte Sidonie sich neben Dezimus auf die Ruderbank, um ihm in blühenden Farben die Begegnung mit ihrem herzigen Großväterchen auszumalen. Sie ahmte seine Naturlaute nach, schilderte die patriarchalische Toilette, die Schauer der düster romantischen Höhle, Stube genannt, mit ihren Spinnweben, ihrem Staub und Dunst, beschrieb das ambrosische Vespermahl: ein schwarzes Brot, rund und hart wie ein Mühlstein, dazu ein aromatischer Käse, vom ehrwürdigen Grau des Schimmels überzogen, und ein Krug lehmfarbigen Nektars, neuhochdeutsch »Kofent« genannt.

»Alle Genre der Poesie waren vertreten,« sagte sie, »mit Ausnahme des heldenmäßigen, das erst mein Mäxchen in die Heimatszene trug. Sogar das dramatische kam noch als dickes Ende hinterdrein. Und so hätte ich nun auch einmal einen Blick in die ursprüngliche germanische Volksseele getan, von welcher euere Denker die Rettung unserer durch Überbildung angefaulten Gesellschaft erwarten, und könnte allenfalls auch ein Idyll oder, wie eure Dichter es neuerdings auszudrücken belieben, eine Dorfgeschichte schreiben. Ewig schade, Dezimus, daß Sie sich den poesiestrotzenden Inspektorposten bei Ihrem Vizepaten verscherzt[278] haben, und wirklich unverzeihliche Verblendung, daß mein Mäxchen, der als Dichter doch notwendig nach Anregungen trachten muß, sich so hartnäckig dagegen sträubt! Aber sagen Sie, heimtückischer Schäferknabe, was haben Sie meinem trauten Papachen eigentlich angetan, daß Ihr bloßer Name allen bukolischen Frieden aus seiner ungeschminkten Seele scheucht? Als ich, ich weiß auch gar nicht, wie ich darauf geriet, erwähnte, daß Sie nächstens zur Universität abgehen würden und die Werbener Pfarre so gut wie in der Tasche hätten, wenn nach ein vier, fünf Jährchen etwa der alte Blümel sich nach Ruhe sehnen sollte, da war mirs, als sähe ich Bankos Geist in Hemdsärmeln und bocksledernen Buxen vor mir aufsteigen. ›Der, der!‹ krächzte er, daß es mich eiskalt überlief; ›der mich abspeisen! Der Lumpenjunge – verzeihen Sie! – der Lumpenjunge mir den Lebenslauf halten!‹ Und dann brüllte er: ›Sackerment!‹ und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, daß – – aber da kommen die anderen. Unter vier Augen die Fortsetzung. Es handelt sich ja um Ihre Missetat an mei nem eigenen Fleisch und Blut. Nur so viel noch: Ich habe in gutem Glauben Sie christlich herausgestrichen – des Abspeisens halber, Freund Dezimus!«

Die anderen stiegen ein. Sidonie hatte schon während der letzten Worte ihre Gitarre rein gestimmt und löste nun die lustige Dorfgeschichte mit einem traurigen Volksliede ab, das die Gesellschaft mit Brummstimmen begleitete.

Die klagende Weise wehte zu den beiden hinüber, die raschen Schrittes talauf den einsamen Uferweg zwischen junggrünenden Erlenbüschen wandelten. Max war heute nicht wie seine Schwester zum Karikaturenzeichnen aufgelegt; alles, was Adel hieß, hatte sich in ihm empört. Überdies schloß Lydias kindlicher Ernst unwillkürlich bei[279] jedem, der ihr nahte, eine ironische Stimmung aus, ja selbst die gutmütige Deckung des Humors.

»Welch eine Zumutung!« rief Max unwillig, »und welch ein Widersinn, einen Menschen wie diesen ehren zu sollen oder gar ihn zu lieben!«

»Ich kenne deinen Großvater nicht,« entgegnete Lydia sanft, »ich glaube dir aber, armer Max, daß das erste menschliche Gebot ihm gegenüber kein leichtes ist. Allein warum wäre denn auch sonst diesem Gebote eine Verheißung schon für diese Welt gegeben? Wo die Liebe natürlich ist, trägt sie ihren Lohn in sich.«

Sie sah ihn bei diesen Worten mit einem Blicke an, welcher die heimlichste Tiefe ihrer Seele entschleierte und vor dessen Zauber aller Widerspruch und aller Groll aus seinem Herzen floh. Er preßte sie in seinen Arm, an seine Brust. Die Liebe, die natürlich ist, hatte sie zueinander gezogen.

Sie setzten sich auf einen Rasenhügel, und was da unter dem pfingstlichen Blattgesäusel gehaucht worden – der Worte werden es nicht viele gewesen sein; aber selbst diese wenigen wiederzugeben ist dem Erzähler nicht gegönnt.

Muntere Stimmen vom jenseitigen Ufer weckten sie aus ihrem Traum. Er däuchte den Glücklichen ein Moment, und doch war die Sonne gesunken, als Dezimus sie hinüber in das Gehege ruderte, in welchem Sidonie zum heiteren Abschluß ihres Festes ein Tischchendeckedich hergezaubert hatte. Das junge Volk tat sich gütlich und trieb seinen Scherz, während Max seine Schwester abseit führte zu einer Mitteilung, die sie wie das eigenste Schicksal berührte. Lydia war, ohne umzublicken, am Ufer entlang geflohen, die Terrassen hinan, in ihr Haus.

Die Mutter kam ihr auf den Zehenspitzen aus ihres[280] Gatten Zimmer entgegen. Sie hatte Tränenspuren in den Augen, aber ihr argloses Kinderlächeln auf den Lippen. »Er ist eingeschlummert,« sagte sie, auf die halbgeöffnete Tür deutend.

Der Propst saß am Fenster, vor sich einen Haufen Papiere, in welchen er bis zum Tagesneigen geblättert hatte. Sein edles weißes Haupt war auf die Brust gesunken, die welken Lider deckten die Augen; doch schlief er nicht. Seit Jahren quälte ihn ja dieses Schmachten nach Schlummerruhe, das künstliche Mittel nur stillten, um es desto peinvoller zu reizen. Als er seiner Tochter leisen beflügelten Schritt vernahm, hob er den Kopf ihr entgegen. Sie warf sich, ohne jedes Wort, zu seinen Füßen und barg auf seinen Knien das Gesicht, das im Purpur der Scham erglühte.

Derlei affektvolle Bezeugungen waren beider Naturen und dem keusch begrenzten Verhältnis der Familie fremd. Wo aber ein Mensch dem anderen in so seltener Weise verbunden ist wie dieser Vater seiner Tochter, bedarf es keiner Erklärung für einen stark bewegenden Trieb. Der Vater wußte, was die Tochter erlebt hatte; ein Widerstrahl ihres Glücks flog über seine fahlen Wangen, und er erleichterte ihr das Geständnis, das sich so schwer von ihrem Herzen löste, indem er nach einer langen Pause anhob:

»Ich will dir nicht bergen, Lydia, daß, wie ich dich so still umfriedigt heranwachsen sah, ich den Glauben gehegt habe, vielleicht die Hoffnung, du erwüchsest zu einer jener Berufenen, die Martin Luther hohe, reiche Geister nennt, weil sie in edler Freiheit lieber für das Himmelreich wirken wollen als für die Welt. Ich achtete dich zu gut, Lydia, für die gemeine Not. Aber Martin Luther nennt diese Berufenen seltene Menschen, zählt unter Tausenden kaum einen. Und wie ich selber mich der Befugnis nicht würdig[281] erkannte, mich über Gottes natürliche Ordnung hinwegzusetzen, ich, der ich doch ein Mann war mit schweren Lebenskämpfen hinter sich und einer großen Lebensaufgabe vor sich, so werde ich um so williger zu meiner Tochter sagen: Trage Weibes Los, sobald du des Weibes natürlichen Trieb in deinem Herzen spürst. Liebst du Max, Lydia?«

»Ja, ich liebe ihn,« stammelte Lydia mit bebenden Lippen, und sie blieb auf ihren Knien wie der Beichtiger vor dem Hüter seiner Seele.

»Warum zitterst du dann aber und scheust dich wie vor einem Frevel, weil du einen Mann liebst, wie doch das Weib es soll?«

Lydia hatte sich zu einem Ausspruch über Wohl und Wehe gefaßt. Sie erhob sich von ihren Knien und sprach: »Nicht daß ich ihn liebe, aber daß du ihn nicht lieben wirst, mein Vater, darum zittere ich. Er ist keiner von den Unseren, keiner von den Deinen, Vater – –«

»Weiß ich das nicht?« unterbrach sie der Propst. »Er ist nicht einmal ein Christ. Er ist, daß ich so sagen soll, noch ein Fragment. Aber eben darum sehe ich in deiner Liebe eine Mission und segne sie als solche. Du kennst mich, Lydia, und wirst darum es keinen Sophismus nennen, wenn ich dir gestehe: Hättest du dich einem Manne zugeneigt, festgewurzelt in seinem Glauben, der aber nicht der deine, nicht der unsere, meine Tochter, war, oder wäre Max auch dem Geiste nach seiner Mutter Sohn, einer von denen, welche das ewige Geheimnis von seinem Throne reißen, um die nackte Vernunft auf denselben zu erheben, so würde ich deine Wahl zwar nicht haben hindern dürfen, aber meinen Segen hätte ich ihr nicht geben dürfen, denn es war keine Einigung zwischen euch abzusehen. So aber ist in deine Hand gegeben ein unerfülltes Gemüt, in welchem[282] der Strahl einer reinen Liebe den reinen Glauben, das Gebet der Liebe das Wunder der Gnade bewirken wird. Die Skepsis ist niemals unüberwindlich, meine Tochter. Es waren oftmals heidnische Männer, denen untertan zu sein die Apostel ihren Jüngerinnen geboten, und nicht zum geringsten ist durch dieses Gebot das Heil in die Heidenwelt gedrungen. Das, Lydia, ist dein Beruf, und danach handle.«

Lydia stand hochaufgerichtet mit gefaltenen Händen und verklärtem Blick. Dann aber neigte sie sich zu ihrem Vater nieder und küßte voll inbrünstigen Dankes seine Hand. Ein paar Minuten waltete tiefe Stille.

Herr von Hartenstein war wieder schattenbleich geworden; krampfhaftes Ringen zuckte aus seinen Mienen. Was er bis dahin gesagt hatte, war als freudige Überzeugung leicht aus seiner Seele geflossen; nun kostete es ihm einen harten Kampf, zu sagen: »Ich bin noch nicht zu Ende, meine Tochter.«

Lydia setzte sich an seine Seite, nahm seine kalte Hand in die ihre und hielt den Blick unverwendet auf ihn gerichtet. Er hob an:

»Aber auch in dem anderen Sinne, welchen wir neben jenem höchsten als eine heilige Aufgabe hegen und pflegen, im Sinne der Familie, muß ich deine Wahl als eine Schickung der Gnade verehren. Du allein kennst die sorgenvolle Lage, in welche das Gesetz der Treue mich gedrängt hat. Aber auch du kennst sie nicht aus, und jung, wie du bist, vermagst du den martervollen Zustand nicht zu ermessen, unter welchem ein Vater, sehnsüchtig der Erlösung und doch erdenbange, aus dem Kreise hülfloser Kinder scheidet – vielleicht in der nächsten Stunde schon. Jetzt scheide ich beruhigt. Als Gattin eines begüterten Mannes aus unserem[283] Geschlecht ist es nicht nur dir ermöglicht, sondern es ist auch ihm eine Satzung des Blutes, die Pflichten für die Vergangenheit den Aufgaben für die Zukunft zu einen. Bedarf ich deines bindenden Wortes, Lydia, daß du für deine Mutter und deine Geschwister Sorge tragen wirst nach wie vor als für deine eigensten Angehörigen, wenn ich von ihnen gegangen bin?«

»Nein, Vater,« antwortete Lydia, indem sie seine Hand an ihr Herz drückte, »nein, es bedarf keines ausdrücklichen Versprechens, um mich in irgendeiner Lage an das Gesetz der Treue gegen die Menschen, welche bis heute meine nächsten waren, zu mahnen. Aber vergib, wenn ich in diesem Betracht deine Auffassung meines Verhältnisses zu Max nicht begreife. Denn auch seine zweifelhafte äußere Lebensstellung war ein Grund, um dessentwillen ich an deiner Zustimmung verzagte. Er dankt seine Ausbildung fremder Unterstützung, er ist durch diese Unterstützung, die er fortan entbehren wird, verwöhnt, ist sorgloser Gemütsart. Es wird Jahre währen, bevor er irgendwelches Amt, irgendwelche Verwertung seiner mannigfachen Anlagen erringen kann. Und du baust auf ihn als den Schützer deiner Familie? du nennst ihn einen begüterten Mann?«

»Er wird es in der Kürze sein,« versetzte der Propst mit sichtbarem Zwang.

»Sein Großvater ist noch ein rüstiger Mann,« entgegnete Lydia unerschrocken, da Klarsehen ihr jetzt zu einer Pflicht geworden war. »Seine Familie ist ihm gänzlich entfremdet; und zwischen dem Großvater und dem Enkel steht die Mutter.«

»Nun denn, Lydia, –« sagte Herr von Hartenstein nach einem tiefen Atemzuge, »ich hätte diese Erörterung dir und mir erspart gewünscht, da du mich aber zu derselben[284] drängst, so wisse, daß ohne Zweifel Max der Erbe von Werben ist.«

»Der Erbe von Werben – Max –, Vater?« fragte Lydia betroffen.

»Zuverlässig, Lydia. Deine Mutter stand der Besitzerin verwandtschaftlich näher, aber sie stand ihr äußerlich wie innerlich fern. Wenn ich nun das Wesen der wunderlichen Greisin von Grund aus überdenke, so suchte sie für ihr altes Geschlecht einen Stammhalter, auf den sie wohl selbst seinen Namen überträgt; und dürfen wir uns darüber täuschen, wie weit an Glanz der Gaben, die sie über alles schätzte, unser Martin gegen seinen Vetter zurücksteht? Philipp, der ihm einmal ähnlicher zu werden verspricht, lag noch in der Wiege, als sie ihren letzten Willen abfaßte und niemals änderte. Dazu das nahe Verhältnis zu Sidonie, die ihrer Sache gewiß scheint. Es ist so; es kann kaum anders sein; – aber – ich fühle mich erschöpft. Geh, Lydia, hole Max – und dann laßt mich ruhen.«

Lydia ging, aber nicht beflügelten Schrittes wie eine, der sich ein entzückendes Hoffen erfüllen soll. Ein Nebelflor hatte sich plötzlich zwischen ihr Auge und den Sonnenschein gedrängt.


»Max und Lydia sind verlobt!« mit diesem Jubelruf trat am anderen Morgen Sidonie in die Pfarre ein.

Pastor Blümel fuhr erschrocken, wie vor einer Hiobspost, zusammen, und auch seiner Hanna, die doch sechs Töchter mit so gutem Glauben unter die Haube gebracht hatte, wollte der Glückwunsch gar nicht flott vom Herzen gehen. Röschen und Dezimus dahingegen waren wohl erfreut, aber gar nicht überrascht. Sie hatte schon am Bestattungsabend ein Liebesvögelchen über dem Schlosse zwitschern[285] hören; er hatte ja von jeher an eine Konjunktion des herrlichen Jupiter und der holden Venus geglaubt. Die hausbackene Folgerung von Hochzeit und Herdfeuer wie bei gemeinen Sterblichen wollte ihn freilich hier ganz kurios bedünken.

»Sie sind füreinander prädestiniert!« rief Sidonie in ihrer Herzensfreude. »Wer hat schon ein so vollkommenes Menschenpaar gesehen? Ach, die Schönheit gibt doch das einzige Frauenrecht auf Glück! Beide reinster Hartensteinscher Typus und doch Gegensätze, auch seelisch. Hier übersprudelnde Fülle; einsaugende, sammelnde Stille dort! Und daß auf diese Weise ein natürlicher Ausgleich für getäuschte Erbaussichten bewerkstelligt wird, auch das ist mir lieb; denn verdrießlich ist solch ein Vorzug unter Gleichberechtigten allemal. Schade, daß Sie ihnen nicht die Traurede halten dürfen, Papa Blümel. Der Propst wird sich diese natürlich nicht nehmen lassen. Ich möchte um meines Mäxchens willen, sie wäre schon überstanden. Das Hochzeiten müßte eigentlich aus dem Stegreif ganz in der Stille betrieben werden. Den Trauermonat muß man natürlich anstandshalber respektieren. Dann aber auch keinen Tag zwecklosen Sehnens mehr. Die Brautreise gönne ich den Glücklichen allein, wohin und so lange es ihnen beliebt. Geht es aber an das Hüttenbauen, so hausen wir zu dreien, und der Welt wird ein Exempel vorgeführt werden, daß es sich mit einer Schwester weit behaglicher als mit einer Schwiegermutter wirtschaften läßt.«

Max täuschte weder seine Braut noch sich selbst, wenn er sie seine erste Liebe nannte. Wohl war er kein Neuling in der Frauenhuld, er hatte seit den Knabenjahren Knospen und volle Rosen mancher Art umflattert. Eine Blüte so rein und eigenartig wie diese hatte sich aber ihm noch niemals[286] erschlossen, und wie vor einem ungeträumten Gebilde dem Künstler plötzlich ein höheres Ideal aufgeht, so ergriff sein Gemüt der Zauber dieser keuschen, heiligen Schöne. Zum ersten Male blickte er zu einem Menschen empor.

Dennoch war Lydia noch glücklicher als er. Sie, der Emporblicken eine Gewöhnung war, sie fühlte zum ersten Male die Wonne des Umfangens. Ihr innerlichster Kelch öffnete sich dem warmen Sonnenstrahl. War sie im eigentlichen Sinne niemals ein Kind gewesen, nun erst, da das Weib in ihr die Hülle sprengte, ward sie ein Kind. Hatte sie bisher älter geschienen, als sie war, nun schien sie jünger; ihre Wangen färbten sich gleich Maienrosen, die stillen Augen leuchteten in meerdunklem Glanz, sie bewegte sich rascher, die leise Stimme tönte klangvoll aus der Brust heraus; sie lächelte fröhlich wie noch nie.

Denn wann hätte das Nachtgespenst der Sorge standgehalten vor der Liebe erstem Morgenstrahl? Jener Nebel, der jach vor Lydias Augen aufgestiegen war, hatte sich unter dem Verlobungssegen gesenkt; auch ihres Vaters Krankheit sah sie in einem heitereren Licht; ein Widerstrahl ihrer Freude fachte seine Kräfte an, sie war sein liebstes, sein eigenstes Kind, er hoffte für sie und sie für ihn. So lebte sie Tage und Tage im reinsten Äther des Glücks. – Zehn Tage im reinsten Glücksäther! – wie viele Menschen sind es, die auf sie zurückblicken?

War das Brautpaar verpflichtet, sich dem Großvater Mehlborn als solches vorzustellen? Max hatte nein gesagt, Lydia ja, und ein Bräutigam von kaum zwei Wochen gibt nach. Bruder Martin erbot sich, an Stelle des kranken Vaters das junge Paar »zu chaperonnieren«.

So zog man bei hellem Sonnenschein aus, um eine Stunde später unter einem drohenden Gewitter heimzukehren.[287] Amtmann Mehlborn war, wie füglich hätte erwartet werden können, beim ersten Kleeschnitt auf dem Felde gewesen, Leutnant und Doktor von Hartenstein hatten ihre Karten abgegeben; der letztere, da seine Braut über derartige gesellschaftliche Utensilien nicht verfügte, nachdem er unter die seine gekritzelt hatte: »und Lydia von Hartenstein. Verlobte.« Irgendwelche herzliche oder auch nur höfliche Erwiderung wurde, mit gutem Grunde, nicht erwartet.

Trotz des erwünschten Verfehlens empfand Max heute doppelt, weil auch aus einer Art von Scham vor seiner Braut, das Widerwärtige dieses Familienbezugs. Er kam daher während des Heimwegs auf seine neuliche Behauptung zurück, daß derlei aufgenötigte Verhältnisse nicht nach hohen sittlichen oder gemütlichen Werten zu bemessen seien. »Kannst du im Ernst das Band zwischen mir und diesem alten Manne Liebe nennen, Lydia?« fragte er, und da sie nicht augenblicklich eine Antwort gab, gab er sie selbst, indem er fortfuhr: »Im besten Falle wäre es ein Blutszwang, im schlechtesten Heuchelei, und selber das, was du als Tugend oder dergleichen Willensakt anführen möchtest, hieße gerade darum nimmermehr Liebe, die ja die Freiheit selber ist. Und wäre es mein leiblicher Vater, wenn ich ihn nicht lieben könnte, ohne daß er mein Vater ist, dann verdiente mein Gefühl zu ihm diesen Namen nicht.«

Lydia schwieg auch jetzt, die Augen sinnend zu Boden gesenkt; der ehrliche Martin aber erwiderte:

»Nimm es mir nicht übel, Max, aber das finde ich am Ende doch ein bißchen stark. Da wäre ich ja nicht besser als ein Hund oder Pferd, die wohl einem Herrn anhängen, aber keinen Vater und keine Mutter kennen. Sind uns denn die Anverwandten für nichts und wieder nichts vom[288] lieben Gott gegeben? Und wenn dein Großpapa den Spieß nun umdrehte und sagte: mein Herr Enkelsohn ist gar nicht nach meinem Geschmack, ich werde mir einen Erben suchen, der mir gefällt?«

»Würde ich seine Geschmacksrichtung durchaus in der Ordnung finden,« entgegnete lachend Max, »wenn auch die Folgerung auf das Pflichtgebiet anders gezogen werden muß für den, welcher das Leben gibt, und dem, welchem es willenlos gegeben wird. Auch das Tier sorgt für seine Brut. Beruhige dich indessen, Freund; keinem Bauer, richtiger ausgedrückt, keinem Ungebildeten fällt es ein, sich einen fremden Erben zu suchen, wenn ihm der natürliche auch noch so wenig zusagte. Das ist es ja eben, was ich Blutszwang, item der Liebe Gegensatz genannt habe.«

»Ich würde es ganz anders nennen, Max.«

»Und wie, Bruder Leutnant, wenn es beliebt?«

»Das richtige Wort fällt mir nicht gleich ein. Aber würde ich denn, nämlich gar nicht etwa bloß, weil ich es geschworen, sondern ganz von Natur, nicht mehr an meiner Fahne hängen, weil ein siegreicher Feind sie in Fetzen gerissen hätte?«

Lydia drückte ihrem Bruder mit einem zustimmenden Blicke die Hand, und das war das erste Zeichen des Widerspruchs, das sie sich gegen ihren Verlobten gestattete.

Unter Donner und Blitz erreichten sie das Haus. Sidonie war mit den beiden jüngeren Cousinen nach der Pfarre gegangen, dagegen eine Briefsendung der Mutter aus der Schweiz eingetroffen als Antwort auf die Verlobungsanzeige von seiten des Propstes und der Kinder.

Mütterliche Freude hatte die Verbindung mit einer Familie, die ihr so fremdartig gegenüberstand, Frau Brigitten ja nicht erwecken können; schlechthin Einspruch dagegen[289] zu erheben war indessen unstatthaft, und zu pflichtmäßig aufrichtig, um einen Anteil, den sie nicht empfand, mit Phrasen abzufertigen, behandelte sie das Verhältnis eingänglich von einer Seite, die bisher, geflissentlich oder nicht, unberührt geblieben war, von der praktisch häuslichen.

»Du hast, mein Sohn,« so schrieb sie unter anderem, »mit dem Leben bisher getändelt wie ein Kind. Nun baue ich darauf, daß das, was du dein Glück nennst, den Ernst des Mannes in dir reifen und dich für die erste Menschenpflicht, die einer der Gesamtheit nutzbringenden Tätigkeit, tüchtig machen werde. Wenn deine künftige Gattin dir in diesem Sinne eine Gehülfin wird, dann, aber auch nur dann, wirst du wie den Zweck der Ehe mit ihr erreichen, so das Glück der Ehe durch sie erfahren. Ich lese mit Staunen zwischen Sidoniens Zeilen heraus, daß sie, zumeist um deinetwillen, sich auf das Erbe des alten Familiengutes zuversichtlich Rechnung macht. Ich kann euch beide nicht dringend genug vor diesem Fehlschluß warnen. Wie ich eure Großtante – ohne Zweifel richtig – beurteile, überträgt sie in dem Stammsitz ihrer Familie ein Ehrenamt, und solch ein Ehrenamt überträgt keine Werben auf die Enkel eines reich gewordenen Bauers. Daß sie deine und deiner Schwester Wohltäterin gewesen ist, würde nur ein Grund mehr für meine Auffassung sein; denn selten schätzt man die, welche von unserer Großmut Vorteil gezogen haben.

Gesetzt aber auch, du würdest durch irgendwelche Schicksalsgunst vor der Zeit deiner Reife in eine nach außenhin unabhängige Lage versetzt, entbände dich das von deiner ersten Pflicht gegen dich selbst und gegen die Welt? Gibt es etwas Erbärmlicheres als einen vornehmen Müßiggänger,[290] der Kraft, Geld und Zeit in spielerischen Liebhabereien vergeudet und in Genüssen, die, weil sie niemals befriedigen, alle Tage wechseln müssen? Es ist, im Gegensatz zu reicheren Ländern, ein Segen der durchschnittlichen Armut unserer höheren Stände, daß das Faulenzertum, selbst von Erbsöhnen, als Unsitte und das Dienen als Pflicht und Ehre gilt. Oder hältst du eine deiner künstlerischen Anlagen, die leichte Dichtergabe eingeschlossen, für bedeutend genug, um sie, selber bei fleißiger Übung, in langer Zeit über den Dilettantismus zu erheben? Täusche dich nicht, mein Sohn, sie sind es nicht; eben um ihrer Vielseitigkeit willen nicht und ganz besonders bei deiner Temperamentsanlage nicht. Eine großartig schöpferische Künstlerkraft ist fast ohne Ausnahme eine einseitige, und ein großartig schaffender Künstlerwille ist es auch.

Täusche dich aber auch nicht darüber, daß du auf unberechenbare Jahre hinaus – und wahrlich zu deinem Heil! – auf dich allein gestellt sein wirst, auf Selbstüberwindung und strengen Fleiß. Da du nun einmal vorzeitig an die Gründung eines eigenen Hausstandes gedacht hast, somit eine aussichtslose, militärische Friedenskarriere aufgegeben werden muß – und dafür preise ich, wie man so sagt, den Himmel, mein Sohn! –, bleibt dir keine Wahl als die allein deiner würdige: die wissenschaftliche Bahn, zu der du vorbereitet bist, zu verfolgen und mit bescheidenem Anfang einem edlen Ziele zuzustreben. Es naht sich ja mit starken Schritten die Zeit, in welcher auch in unserem Vaterlande mit dem Schlendrian aufgeräumt werden wird. Sei es als Beamter, sei es als akademischer Lehrer hast du dann den Punkt gefunden, von welchem aus ein geistvoller Mann den Hebel an setzt, um für den Umschwung der Zeit sein Pflichtenteil beizutragen.«[291]

Den Schlußpassus von des geistvollen Mannes archimedischem Zeitberuf abgerechnet – denn aus dem Munde einer Brigitte Zacharias schmeichelt die Anerkennung seiner Bedeutendheit auch den unzärtlichsten Sohn –, erregte »der pädagogische Leitartikel, der sich in ein Briefkuvert verirrt hatte« – dem Adressaten ein herzliches Lachen. Die Frau Professorin hatte jedoch ihrem Glückwunsch an den Propst und seine Tochter ungefähr die gleiche Ermahnung beigefügt, indem sie beiden, unter deren vorwaltendem Einfluß sie zurzeit den Sohn sich dachte, die Zügelung vorlauter Erwartungen und unsteter Gelüste zur Gewissenssache machte; und diese beiden nahmen die Sache ernst, wenn auch nicht aus übereinstimmenden Gründen.

In dem Vater weckte das apodiktische Absprechen jeglicher Erbaussicht des jungen Bräutigams kaum zur Ruhe gebrachte persönliche Hoffnungen wieder auf, während gleichzeitig die einleuchtenden Belege für diesen Abspruch den Riß in den Stammbaum, über welchen die Not hinweggeholfen hatte, als empfindlichen Makel erscheinen ließen, und die zweifelhafte Existenzfrage ernstliche Sorge erregte. Hätte er seine Tochter nicht so tief beglückt gesehen, würde er, der Heidenbekehrung zum Trotz, das voreilige Verlöbnis bereut haben.

Seine Tochter dahingegen fühlte sich plötzlich aus ihrer traumumfangenen bräutlichen Seligkeit aufgescheucht und dem ernüchterndsten Tagewerke gegenübergestellt. Arme Lydia, welche widersprechenden Forderungen werden dir gutem, weltfremden Mädchen doch in einem Atem vorgehalten! Ein ungläubiges Weltkind zum gläubigen Lutheraner zu bekehren und eine schwere Familiensorge auf seine jungen Schultern zu legen, heischt der Vater; einen[292] dilettierenden Flattergeist zum liberalen Staatsbürger und praktischen Hauswirt zu bändigen, verlangt die Mutter; und der, welchen du liebst, mehr als dein Dasein liebst, er will, daß du mit ihm den Schaum des Lebensbechers schlürfst und nichts weiter erstrebst, als ihn zu beglücken und durch ihn beglückt zu sein. Ist es ein Wunder, wenn hastig die Maienrosen von deinen Wangen flüchten und deine Blicke der Nebelflor der ersten Glückesstunde wiederum verschleiert? Jenes dunkle Ahnen, daß du den Mann, welchem du lebenslang als deinem Hort vertrautest, an eine haltlose Planke geklammert, in der Brandung verschwinden und den Stern der Liebe, so jach wie er aufgetaucht, an deinem Horizonte verschwinden sehen wirst?

»Nun, Feinliebchen,« fragte Max, nachdem die mütterlichen Briefe gegeneinander ausgetauscht und still zu Ende gelesen worden waren, »wie gefällt dir die Perspektive, in vier bis fünf Jahren – denn früher würde es selbst dem unermüdlichsten Büffel, und wenn er als ein Engel vom Himmel heruntergefallen wäre, bei unserem löblichen Schematismus platterdings unmöglich sein –, item in vier bis fünf Jahren als Hausfrau eines königlichen Gerichtsassessors, notabene vorderhand noch eines Diätarius, in einem kassubischen Landstädtchen hinter dem Kochherd und dem Bükefaß zu stehen?«

»Ei nun, mir würde sie schon gefallen,« antwortete Lydia mit einem Lächeln, das freundlich, aber nicht mehr wie vor wenig Stunden fröhlich war; »wenn nur du, lieber Max, sie dir gefallen ließest.«

»Ich würde sie mir allerdings nicht gefallen lassen, weder für dich, liebes Herz, noch für mich selbst. Ersiehst du aber aus dieser Zumutung, wie unverständlich die Mutter und ich uns gegenseitig sind?«[293]

»Aus dieser Zumutung, Liebster, ersehe ich es nicht. Mir scheint, deine Mutter hat recht.«

»Hinsichtlich der Erbschaft meinst du?«

»Auch hinsichtlich ihrer.«

»Mehlbornsche Verbissenheit, Kind! Alle Plebejer mißtrauen dem Adel. Tante Thusnelda setzte ihren Stolz darein, frei von Vorurteil zu sein; Geld und Gut dagegen wußte sie zu schätzen. Abstrahiert von persönlichen Sympathien und Antipathien, würde schon der Reiz, sich das zersplitterte Werbensche Besitztum einstmals in einer Hand vereinigt und durch einen bedeutenden Landkomplex erweitert zu denken, sie bewogen haben, das Stammgut auf mich zu übertragen. Meine kleine Sidi hat sich die Erbschaft freilich in den Kopf gesetzt, und ich lasse sie gern in ihrem Wahn, da im wesentlichen nichts an der Sache geändert wird. Bruder und Schwester wirtschaften aus einer Tasche. Du aber, Lydia, wirst mir beipflichten, daß die schönheitssüchtige Harfenkönigin nimmermehr ein verunstaltetes, zum Einzelnleben verurteiltes Geschöpf wie meine arme Schwester zur Repräsentantin ihres Geschlechtes erwählen konnte.«

»Ich habe kein Urteil über die Sinnesart unserer Tante,« versetzte Lydia, »und ich sehe mit Schmerz diesen Wirbeltanz um ein goldenes Kalb. Ach, glücklich die Armen, lieber Max, deren Andenken nicht über ihrer Hinterlassenschaft verloren geht! Ist es denn aber nicht unter allen Umständen ein Frevel, über sein eigenstes Schicksal einen bloßen Zufall entscheiden zu lassen?«

»Kleiner Lutherscher Starrkopf! Entscheidet über unser ganzes Leben denn nicht das, was du, höchst unfromm, Zufall nennst, und ich, der Unfromme, Himmelsgunst? Nur der Krämer baut nach Ameisenart; jeder sich fühlende Mensch rechnet auf seinen Stern.«[294]

»Nicht der Christ,« entgegnete Lydia leise.

Ihr Verlobter maß sie mit einem unmutigen Blick. Das »Heilige ihrer Schönheit«, wie er es nannte, hatte ihn angezogen; diese »Betschwesterphrase« stieß ihn ab, weit mehr als die »Schulweisheit« der Mutter ihn abgestoßen hatte. Beide schwiegen.

Lydia fühlte, daß heute nichts mehr von ihm zu erreichen sein würde; sie setzte sich in einen Fensterbogen und blickte hinauf zu dem grauen Wolkenhimmel. Sie rang mit ihrem Nebel. Max wäre, seine Verstimmung abzuschütteln, gern in das Freie hinausgestürmt; aber das Gewitter hatte sich in einen Landregen verzogen, es mußte im Hause stillgehalten werden.

Bruder Martin, unter dem Vorwand, Sidonien den Brief ihrer Mutter zu bringen, hatte Eile gehabt, sich der lustigen Jugend in der Pfarre zuzugesellen, der Propst, ruhebedürftig, sich zurückgezogen. Philipp studierte mit seinem Lehrer in dessen Zimmer; seine Mutter blickte kaum von ihrer feinen Handarbeit auf. Die Bescheidenheit der Unterhaltungsansprüche, welche diese friedliche Seele an sich selbst wie an andere stellte, hatte Max schon wiederholt in Staunen versetzt, heute versetzte sie ihn nahezu in Zorn. Er hätte etwas Zerstreuendes lesen mögen: aber auf dem Schlosse gab es nur vertiefende Lektüre; eine bewegte Weise singen: aber an der Orgel, oder dem Klapperkasten? Er schritt mit unmutiger Hast das Zimmer auf und ab; seine Blicke streiften die stillsinnende Geliebte. Die Vorstellung, daß sie ihre Jugend hingebracht habe und, ohne sein Dazwischentreten, auch ferner hingebracht haben würde, ohne die Einödigkeit ihres Daseins nur innezuwerden, rührte ihn halb, und halb erbitterte sie ihn. So leben Nixen, nicht warmblütige Menschen! Ihn würde[295] die Notwendigkeit, mehr als einen Regenabend in dieser Wohnstubenatmosphäre zu verbringen, schlechthin toll gemacht haben.

Seine Tage waren bisher in so frohem Wechsel verrauscht, und er hatte so wenig auf fremde Existenzen geachtet, daß solch verdrießliche Stimmung ihm eine neue Erfahrung war. Sie hätte, ließe sich meinen, just die geeignete sein müssen zu einem fesselnsprengenden Sang: einem Sturmlied oder einer weltschmerzlichen Elegie. Da sie indessen den Rhythmus in seiner Brust, statt ihn zu lösen, dämmte, da in ihm und außer ihm alles, was Klang hieß, schwieg, mußte Bruder Martin wie ein rettender Genius begrüßt werden, als er, abgesendet von der gesamten jungen und alten Gesellschaft, erschien, das Brautpaar zur Verherrlichung eines musikalischen Abends in die Pfarre einzuladen. Lydia hätte wohl vorgezogen, in stillem Alleinsein sich durch den Nebel zu kämpfen; doch legte sie ohne Einwand ihren Arm in den des Geliebten, und sie gingen.

Wer Max von Hartenstein, dem umhuldigten Dichter und verhätschelten Liebling der distinguiertesten großstädtischen Kreise, noch vor zwei Wochen gesagt hätte, daß er als Matador im Werbenschen Pfarrhause glänzen, – oder am Ende nicht einmal glänzen werde! Er lachte spöttisch über sich selbst und hätte der Liebe zürnen mögen, welche den besten Mann in so läppische Netze verstrickt. Daß einer von seiner Zunft, welchen das Vaterland zurzeit noch seinen größten nannte, es einstmals nicht unter seiner Würde gehalten hatte, das holdeste deutsche Idyll in einem ländlichen Pfarrhause nicht etwa zu dichten, sondern zu durchleben, fiel ihm zur Versöhnung mit sich selbst wohl ein, war aber doch nur ein halber Trost; denn der alte[296] Dichter hegte bloß ein Liebchen, dem er am ersten langweiligen Tage entfliehen durfte, und den jungen Dichter fesselte eine verlobte Braut. Gottlob, daß dieser bräutliche Zwitterzustand zu Ende lief, und daß er bald ein geliebtes Weib, eine Galathea, die unter seinen Küssen zum Leben erwachen würde, in seine wahre Heimat führen durfte!

Sidonie hatte eben eine Mazurka von Chopin, ihrem »melancholischen Liebling«, ausrasen lassen, als der, welcher bisher ihr lächelnder Liebling gewesen war, eintrat, auffällig in der Stimmung eines Furioso und an seiner Seite die Braut, auf deren Wangen die Blüte der Freude erloschen war. Das kluge Fräulein erkannte alsobald die Wirkung der mütterlichen Briefe und suchte sie in einem Zwiegespräch mit ihrem Bruder hinwegzuscherzen. Aber die Wirkung beharrte; nicht sowohl weil sie ihn persönlich so stark ergriffen hatte, sondern weil er das Herz so stark ergriffen sah, das seine Impulse nur von ihm empfangen sollte.

»Ach, geh doch, Brüderchen!« sagte die kleine Sidi lachend. »Ein Poet und eifersüchtig auf die Kritik der reinen Vernunft!«

Das Pfarrröschen hatte währenddessen am Klavier Platz genommen, um, ohne Scheu vor dem demütigenden Abstand, ein munteres Liedchen anzustimmen, auch mit ihrer Lerchenkehle und ihrem Schweizerbuben bei gegenwärtigem Publikum einen Anklang gefunden, der sich mit dem des nationalen Pathos der Virtuosin reichlich messen durfte. Nun aber, da die Sennerin ihr Liebeslocken ausgezwitschert hatte, war an Bruder Apoll die Reihe, sein Liebesgrollen in entsprechenden Tönen auszuströmen.

Sidonie hatte dafür gesorgt, daß ein Teil ihres Notenvorrats »die selige Harfe« nach der Heimat begleitete; sie[297] reichte ihrem Bruder ein Heft Schubertscher Lieder, in deren Vortrag er, wie sein Ruf ging, exzellieren sollte. Da sie selbst diesen Ruf noch nicht erprobt hatte, war sie in der gespanntesten Erwartung.

»Dies!« sagte Max. Sie schlug die einleitenden Akkorde an, und:

»Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst,« schallte es zornsprühend durch das friedliche Blümelsche Familienzimmer.

Max hätte schwerlich eine Wahl treffen können, welche seiner sonoren Stimme, seinem dramatischen Vortrag und seinem heutigen Mißmut sich trefflicher anpaßte als diese musikalische Deklamation; aber auch keine, deren Text die alten wie jungen Herzen seiner Hörer tiefer erschüttert hätte. Nicht einer von ihnen, außer Sidonien, auch Konstantin Blümel nicht, des heidnischen Mythos Freund, auch nicht Peter Kurze, der akademische Fuchs, oder Dezimus Frey, der Primaner, die doch sämtlich mit dem gottzürnenden Titanen einen mehr oder minder behagenden Umgang in seiner Ursprache geführt hatten, nein, nicht einer von ihnen kannte die majestätische Version ihres vaterländischen Dichters, und sie wirkte vielleicht eben darum so mächtig, weil die begleitende Musik dem unerreichbaren rhythmischen Zauber der Sprache nur gleichsam als Folie beigefügt worden ist. In dramatischer Steigerung hob sich Satz um Satz, und als das höhnende: »Und dein nicht achtet wie ich« verhallte, da herrschte minutenlang atemlose Stille. In Sidoniens Augen funkelten Tränen, und dem Greise wie dem Jüngling rieselten Schauer vom Kopf zur Zeh. Rose, Martin und seine jüngsten Schwestern empfanden, was sie nur halb verstanden, und Peter Kurze verstand, was er nur mäßig empfand. Dort aber im Fenster saß[298] Lydia, bleich wie eine Entseelte, die glanzlosen Augen weit geöffnet, ihre Arme hingen schlaff am Körper herab, und zwei kalte Tropfen glitten über ihre Wangen. »Und dein nicht achtet wie ich!« hauchten die bebenden Lippen.

»Hast du die Verse selber gemacht, Max?« fragte endlich der Leutnant. Und mit der Frage kam wieder Leben in die Gesellschaft.

Max gab keine Antwort; er selbst war durch den Vortrag bis zum Verstummen ergriffen; Schwester Sidi aber, schon wieder in belustigter Laune, entgegnete:

»Nimm dafür an, daß er sie selber gemacht, Freund Martin, laß es dir aber nicht einfallen, auch dergleichen machen zu wollen.«

Und Freund Martin nahm dafür an, daß das Genie der Familie die Verse gemacht, und es fiel ihm nicht ein, auch dergleichen machen zu wollen. Röschen flocht mit fliegenden Fingern einen Narzissenstrauß, den sie am Morgen gepflückt hatte, zu einem Kranze, um ihn, statt des mangelnden Lorbeers, dem Sänger auf die Locken zu setzen; Peter Kurze aber raunte in Dezems Ohr:

»Läufts mit der Erbschaft schief, soll er aufs Theater gehen, und sein Glück ist gemacht!«

Max hatte sich zu Lydia gewendet, deren Erschütterung ihn entzückte, er erwartete ein entsprechendes Beifallszeichen; aber sie sah ihn nur flehend an und sagte leise: »Singe das Lied nicht wieder, Max!«

»Da es dir nicht gefallen hat, in deiner Gegenwart gewiß nicht, Liebe,« versetzte er gereizt.

»Gefallen? ach, Max!« entgegnete sie mit sanftem Vorwurf. »Es klang wie aus deiner Seele heraus.«

»Es klang auch aus meiner Seele heraus,« sagte er und wendete sich ab.[299]

Am anderen Morgen hatten die Wolken am Himmel sich verzogen und die in den Gemütern auch. Der gekränkte Prometheus war wieder ein zärtlicher Liebhaber und die verstörte Gläubige eine vertrauende Braut. Dauernd jedoch ließ sich ein reiner Ton zwischen den Verlobten nicht behaupten. Das blinde Glück ihrer Liebe war dahin.

Weit weniger für den Mann mit dem noch unverflogenen Rausch als für die Jungfrau, die aus ihrem Kindestraum gerissen worden war. In seiner Gegenwart umspann sie der Zauber der ersten Liebesstunde; war sie aber allein, dann prüfte sie den Zauber auf seinen Gehalt, und er zerfloß nur allzu häufig in einen Schauder der Scham oder des Zweifels. Der Wohllaut seiner Rede bestrickte sie wie zuvor, suchte sie aber nach ihrem Sinn, dann fand sie selten einen Zusammenklang mit ihrem Gemüt und nicht einmal eine Umschreibung in ihren Gedanken.

Sie sah ein, daß sie erst lernen müsse, ihn zu verstehen. Sie las seine Dichtungen von neuem, und es ging ihr mit ihrem Wohllaut auch heute noch wie mit dem der Rede; sie nahm auch dieses und jenes von den Büchern in die Hand, welche er sich zur Kurzweil für die Stunden, die er nicht mit der Geliebten verbringen durfte, hatte schicken lassen. Das Neueste der Zeit, deutsche Lyrik und französische Romane.

Lydia hatte als Mitschülerin ihres Bruders wie später zur Unterhaltung ihres kranken Vaters, so genau wie nur wenige junge Mädchen, mit Konstantin Blümels alten Heiden- und Christenfreunden Bekanntschaft gemacht; ein Roman war ihr aber noch niemals vor Augen gekommen. Für Max anfänglich ein Reiz der Besonderheit mehr. Er verglich ihren Bildungsgang dem eines Klosterfräuleins[300] im Mittelalter und nannte sie seine Roswitha. Was Wunder nun, daß der Blick, den er ihr in eine neue Dichterwelt erschloß, sie berauschte, daß ihre Pulse flogen und das Leben, welches sie bis heute geführt hatte, ihr eng und schal erschien – solange sie las oder ihn lesen hörte. Wenn sie aber, nachdem die erste Wallung gedämpft war, sich fragte, ob sie eine Freiheit, wie diese Helden und Heldinnen der Passion sie forderten, wie auch Max sie forderte für die Geliebte und für sich selbst, ob sie eine solche Freiheit fordern und dulden nicht nur wolle und dürfe, sondern einfach könne? dann rief aus ihrem heimlichsten Innern eine Stimme: »Nimmer!« Lydias Welt war vielleicht beschränkt, aber ihre Schranken waren tief begründet und ragten hoch. Wären sie ihr nicht durch Erziehung und Schicksal gesetzt worden, sie würde sich solche freiwillig gesetzt und niemals überschritten haben. Sie trachtete danach, sich unter die Oberhoheit eines Gatten zu stellen, wie sie bisher ohne Wanken unter der ihres Vaters gestanden hatte. Und an diesem Trachten scheiterte sie; denn das Heldentum und das Martyrium, deren sie so gut wie alle diese gedichteten weiblichen Opfer unserer gesellschaftlichen Einrichtungen fähig gewesen wäre, waren solche, die hinwiederum der Dichter, den sie liebte, nicht verstand. Wie hätte sie diesem Manne nun vollends der Leitstern werden sollen, der ihm, zwischen Klippen und Strudeln hindurch, die Bahn zum Hafen wies?

Da ihr Vater neuerdings, ebenso lebhaft wie die Professorin, nach einem definitiven Plane für des Sohnes Zukunft drängte, kam sie wiederholt auf diesen Gegenstand zurück, war aber leider zu wenig in Frau Hanna Blümels Lebensschule gewitzigt, um für ihre gute Sache den gelegenen Moment abzuwarten; und so geschah es[301] denn mehr als einmal, daß sie Maxens Widerwillen und Widerspruch sich bis zum Widersinn steigern hörte.

Der Schematismus und die kleinliche Praxis jeglicher Beamtenkarriere dünkte ihm unerträglich, – ihr einziger Ausläufer, der ihn gelockt haben würde, der in die Diplomatie, erheischte die äußeren Mittel, deren Mangel ja eben von seinen Drängern vorausgesetzt wurde. Der Entscheid mußte daher zunächst eine offene Frage bleiben. Im übrigen waren die Prämissen der Mutter wohl die richtigen, aber die Folgerungen, die sie zog, waren verkehrt. Just weil wir mit Riesenschritten einem politischen Umschwung entgegengingen, galt es, sich ungebunden für denselben zu erhalten. Ein Parlament fordert unabhängige Männer. Was aber die akademische Laufbahn betraf, lagen denn nicht auch auf ihr Handfesseln hier, Fußangeln dort? Wer hatte die Freiheit zu lehren, was er dachte, auszusprechen, was in ihm glühte, was die Begeisterung der Jugend entzündete? Leeres Stroh dreschen, abgestandene Formeln wiederkäuen, die bloße Vorstellung erregte Ekel. Endlich aber, welche Zeit erforderte die zu verfolgende Bahn, wenn der süßeste Besitz erst von dem erreichten Ziele abhängig gemacht werden sollte!

»Lieben wir uns denn nicht!« wendete Lydia ein. »Können wir denn nicht warten?«

»Warten!« rief er in heller Entrüstung. »Warten wie der Herr Kandidat und seine ewige Braut! Warten heißt, die gute Stunde verpassen, und kein Unglück wurmt wie ein verpaßtes Glück. Heute liebst du mich, so wie ich eben bin, aber ich kann mich ändern, du kannst dich ändern; weißt du denn, ob du mich in soundso viel Jahren, ja nur in einem Jahre auch noch liebst?«

»Max!« unterbrach ihn Lydia entsetzt, »o Max, mit[302] solchem Zweifel im Herzen denkst du eine Ehe einzugehen.«

»Eben darum muß ich sie eingehen, Kind,« versetzte Max. »Die Ehe, so sagt man wenigstens, hat eine ausgleichende Macht. Unter allen Umständen hat sie die der Gewöhnung, der gemeinsten, aber gewaltigsten von allen Erdenmächten. Die Franzosen heiraten selten aus Liebe und befinden sich, lediglich durch Akkommodation, nicht übler als wir deutsche Idealisten mit unserer Sentimentalität. Freie Liebe, ein Verhältnis ohne gesetzlichen Zwang, wäre unbedingt reiner, schöner, edler, sogar bindender als mit dem Zwang. Jede Schranke reizt zur Übertretung. Ein Verlöbnis aber, das heißt halbe Freiheit und halber Besitz, ist auf die Dauer ein Unding, ein Zwitterzustand, in dem sich die Liebe verzehrt; und da nun einmal, bis auf weiteres, die Liebe nur unter der Form der Ehe von der noch herrschenden sozialen Borniertheit anerkannt wird, müssen wir Mann und Frau werden, Lydia, nicht mit dem abgematteten Puls der Geduld, sondern morgen, heute, diese Stunde noch, im ersten Sonnenstrahl, der die Herzen erschlossen hat.«

Lydia fühlte sich empört. Hätte ihren Vorstellungen, ihren Erfahrungen, ihrem Ideale von der Heiligkeit der Treue in schnöderer Weise Hohn gesprochen werden können als durch dieses Freiheitskredo? Sie hätte vor dem Geliebten fliehen mögen bis an das Ende der Welt. Aber er zog sie an sein Herz, er küßte die eisigen Tropfen aus ihren Wimpern auf, hauchte die glühendsten Liebesworte in ihr Ohr, und als sie sich endlich seinen Armen entwand, da sagte sie lächelnd zu sich selbst: »Gefällt er sich denn nicht in Paradoxen? Ist er nicht ein Poet? Hat er mir nicht vor kaum einer Stunde die geheimnisvolle Operation klarzumachen gesucht, unter deren Bezauberung der Dichter, der Künstler[303] seelische Vorgänge und Temperamentseigenheiten darstellt, die seinem persönlichen Verlangen und Erfahren die allerfremdesten sind? Hat er nicht gesagt, man braucht kein Othello zu sein, um einen Othello zu spielen, kein Don Juan, um einen Don Juan zu schaffen? Im Gegenteil: Passionen verwischen die reine Vorstellung der Passion; Stimmungen, denen wir unterworfen sind, trüben die, welche wir unserem Bilde einhauchen möchten. Du mußt ihn nur besser verstehen, dich ihm akkommodieren lernen, wie er es nennt. Und endlich, Lydia, Hand auf das Herz! du selbst, deren Grundgesetz die Treue und nicht die Freiheit ist, was ersehnst du denn heimlich und heiß, als sein zu werden, morgen, heute, diese Stunde noch und dann – für ewig? Ist deine Liebe anderer Natur als die seine, als – alle Liebe?«

Tage, Wochen gingen hin; je näher der entscheidende Termin rückte, um so ruheloser wurde der Propst, um so auffälliger seine Zerrüttung. Er glaubte sein Ende nahe und hätte sein Haus bis in das Kleinste ordnen mögen. Aber was wäre in dieser Ungewißheit zu ordnen gewesen? Lydia mußte viel in seiner Nähe sein; er ließ sie und Martin mündig sprechen, verpflichtete die erstere, auf die er bauen durfte, im umfassendsten Sinne als Obervormünderin ihrer jüngeren Geschwister! Zum nominellen Vormund bestellte er seinen Freund und Schicksalsgenossen Hildebrand. Auch dieser hatte die Freiheit des Lehrens wiedergewonnen, aber leider wenig Schüler, die davon Segen zogen; auch seine Manneskräfte waren in das Leere verpufft worden.

Unter der Zucht dieses Getreuen sollte denn auch Philipp, jetzt dreizehnjährig, weitergebildet und gefestigt werden, sobald nur immer der Mutter die Trennung von ihrem Hätschelkinde zugemutet werden durfte. Der Knabe hatte[304] leichtes Hartensteinsches Blut, allein der Vater hegte das stärkste Vertrauen in seine Befähigung. Bis zu seiner letzten Stunde träumte er von einer Säule des Protestantismus aus seinem Stamm, da er selbst als solche durch die Ungunst der Zeit gebrochen und verwittert war.

Seinen Neffen sah er wenig. Dessen lebhaftes, zuversichtliches Gebaren war ihm unbehaglich, das zärtliche Bezeigen gegen seine Braut machte den Vater nahezu eifersüchtig, und – Max liebte Kranke so wenig, als er Tote liebte. Er kam daher häufig mit seiner Schwester und auch ohne diese in die Pfarre, die er die friedliche Pastorei von Wakefield nannte.

»Ich schnappe nach einem frischen Atemzug wie ein Fisch nach Wasser,« sagte er. »Meine arme Lydia setzt kaum noch den Fuß aus dieser bedrückenden Siechenstube. Das muß ein Ende nehmen: der Vater ist dem Tode durchaus nicht so nahe, als er wähnt. Ich habe ein paar Semester eifrig medizinische Vorträge gehört. Was kann man auf der Universität nicht alles nebenbei betreiben! Ihnen, Freund Dezimus, werden Exegese und Kirchengeschichte hinlänglich Zeit lassen, sich am Sternenhimmel umzutun. Ihr alter Chaldäer lebt ja wohl auch noch, nicht wahr? Nun, den Mann gönne ich Ihnen. Ein Stückchen Faust steckt in jedem richtigen deutschen Studenten. So zog mich auch die Pathologie an und die des Herzens insbesondere, weil es das bis jetzt unerforschteste Fleckchen an unserem Leichnam ist und – das reinlichste. Ja, wäre die Sache ohne Patientenpraxis zu betreiben gewesen, wer weiß, ob sich nicht statt eines zurzeit höchst überflüssigen Doctor juris ein allezeit unentbehrlicher Doctor medicinae aus dem Ei der Wissen schaft geschält hätte. Das klingt wohl paradox, ist es aber keineswegs.«[305]

»Keineswegs,« bestätigte Mutter Blümel lachend. »Meine Rose blättert auch gern im Kochbuch nach süßen Speisen; sich aber am Kochherd die Fingerchen schwarz zu machen, ist ihr äußerst fatal.«

Max lachte gleichfalls. »Nun, was ich sagen wollte,« fuhr er darauf fort. »Der Vater leidet bekanntlich seit seiner Jugend am Herzen. Ein plötzliches Ende ist möglich, ein langsames, qualvolles Hinsiechen aber wahrscheinlicher. Dem muß Lydia entzogen werden um jeden Preis. Ich bin der Hüter ihrer Gesundheit, ihrer Schönheit, ihres Glücks. Noch in diesem Sommer wird sie mein, und ich entführe sie so weit, daß kein Krankengestöhn ihr Ohr erreichen kann.«

Er kam wiederholt auf diesen Plan zurück; ein Winteraufenthalt in Rom dünkte ihm die leichtest ausführbare Sache von der Welt.

»Wer einmal in Rom gewesen ist, kann nirgend anderswo ganz unglücklich werden, sagt Schwester Sidi unserem Goethe nach. Ich aber sage: wer einmal in Rom gewesen ist, kann nirgend anderswo wieder ganz glücklich werden. Der Blick, den ich darauf geworfen, war leider nur ein Augenblick. Nun zieht es mich wie mit Ketten dahin zurück. Den Honigmond auf Capri, den Winter in Rom! Mit diesem Gedanken wache ich morgens auf und lege mich abends nieder!«

Es war am Tage vor der Testamentseröffnung, daß Max diese Worte sprach.


So war denn der letzte Johannistag gekommen, welchen Dezimus als Kind des Hauses in der Heimat feiern sollte. Die Schule wurde am Morgen für die sommerliche Ferienzeit geschlossen; wenn er gegen Mittag aus der Stadt zurückkehrte,[306] stand der Geburtstagstisch gedeckt; darauf Mutter Hannas Rosinenkuchen mit achtzehn brennenden Wachsstöckchen ringsherum und dem dicken Lebenslicht in der Mitte. Daneben die Briefe und kleinen Angebinde, die in den letzten Tagen von den sechs fernen Schwestern eingetroffen und sorgfältig verborgen worden waren. Und welch ein Prachtstück von Johanniskranz wird das liebe Röschen gewunden haben! Und was mag es nur sein, was sie seit Wochen hinter seinem Rücken gekniffelt und hastig mit einem Tuche bedeckt hat, sobald er das Zimmer betrat? Goldene Sternchen auf blauem Grund, soviel hat er herausgeblinzelt. Am Ende eine Tasche, um seine Kassenscheine darin auf der Brust zu bergen, da er durch das Werbensche Stipendium ja in Bälde ein Rentier werden wird. Oder gar eine Mappe, in welcher die teueren Heimatsbriefe für ewige Zeiten verwahrt werden sollen. Abend für Abend will ja das liebe Röschen schreiben, was am Tage vorgefallen oder ihr eingefallen ist, und jeden Sonnabend soll der Wochenbrief abgehen, um ihrem alten Dezem den Sonntag erst recht zu einem Festtage zu machen.

Nach der Bescherung gab es dann ein Leibgericht. Ganz gewiß die ersten grünen Erbsen des Jahres und dazu Schwemmklöße und Schinken; vor dem Abendsegen aber noch irgend etwas Lustiges, vom lieben Strudelköpfchen ausspintisiert. Heute würde die junge Schloßgesellschaft gekommen und gesungen und gesprungen worden sein, – wenn das Testament nicht gewesen wäre. Röschen hatte schon gestern ärgerlich gesagt: »Die alte Harfenkönigin hätte auch was Klügeres tun können, als sich gerade einen Monat vor deinem Geburtstage einmauern zu lassen. Ich sehe es kommen, Dezem, mein hübsches Plänchen fällt mir in den Born.«[307]

Als Dezimus im Trabe aus der Stadt zurückkehrte, begegnete ihm, nahe dem Schlosse, der Vater, der sich zur Testamentseröffnung begab. Er war im Ornat und tief bewegt. Sollte doch über das Wohl und Wehe einer Familie, an der er den innigsten Teil nahm, in dieser Stunde entschieden werden.

»Du mußt dich mit der Bescherung gedulden, bis ich heimkomme, mein Sohn,« sagte er und ging in den Hof. Der Justitiarius überholte ihn:

»Rüsten Sie sich mit starken Nerven, Freund,« rief er ihn an; »ich wittere eine Tragikomödie, wie sie im Buche steht.«

In der Nähe der Pfarre kamen die drei jüngsten Schloßkinder mit Röschen Dezimus entgegen.

»Wir haben uns Ihre Schwester geholt, weil uns allein angst und bange wurde,« sagte Priszilla. »Kommen Sie auch mit auf die Terrasse, guter Dezimus. Die Eröffnung muß gleich vor sich gehen.«

Naturgemäß hätte Dezimus Hunger spüren müssen, und er hatte ihn auf dem Wege auch weidlich gespürt. Aber die Spannung vertrieb ihn plötzlich; er ging mit auf die Terrasse.

»Ach, was für ein schrecklicher Tag, lieber Dezimus,« klagte das freundliche Backfischchen Phöbe, das sich an seinen Arm gehängt hatte. »Mama zerfließt in Tränen, Papa sieht aus wie der liebe Heiland am Kreuze, und sogar Lydia, die doch sonst immer so ruhig ist, zittert. Bei Tische haben nur der Herr Magister und Philipp ordentlich gegessen; ich bloß ein kleines bißchen Mehlspeise. Max hielt es schon am Morgen nicht mehr aus; er hat sich mit der Cousine vom Pächter in die Stadt fahren lassen. Sie sind aber schon wieder da. Sie haben die Verlobungsringe abgeholt,[308] die gleich die Trauringe werden sollen, und jedem von uns etwas Nettes mitgebracht; mir ein Korallenkreuzchen. Ich darf es freilich, solange wir Trauer tragen, nicht umhängen. Ach, es ist so hübsch in Werben, seitdem die Verwandten da sind. Glauben Sie, daß wir fortmüssen, lieber Dezimus?«

»Nein, das glaube ich nicht, Fräulein Phöbe,« antwortete Dezimus mit Überzeugung. »Ihre selige Tante wußte, wie wert Ihrer Frau Mutter dieser Aufenthalt war, und Ihre Tante hatte ein sehr gütiges Herz.«

»Ein gütiges Herz? Ach, wie mich das freut!« rief die Kleine. »Höre nur, Priszilla, Dezimus behauptet, Tante Thusnelda habe ein gütiges Herz gehabt, und der Herr Magister hat doch gesagt, sie wäre eine Heidin gewesen.«

»Gütig können auch Heiden sein, Fräulein Phöbe,« belehrte Dezimus mit Würde. Das erste Merkzeichen seines geistlichen Berufs.

»Mir ist es ganz egal, ob wir hierbleiben, oder wo wir hinziehen,« fiel Bruder Philipp ein. »Wenn ich nur kein Pastor werden muß. Ich will Soldat wie mein Martin werden.«

»Das darfst du ja nicht werden, Philipp.«

»Ich will aber, und damit Punktum!« rief Philipp, mit den Füßen stampfend.

Sie hatten die Terrasse erreicht und drängten sich in eine Gruppe unter dem Ahnensaale zusammen. Eine Weile blieb noch alles still. Dann ertönte die Orgel. Ohne einen gewissen feierlichen Apparat durfte im pröpstlichen Hause kein irgend wichtiger Akt vor sich gehen.

»Lydia spielt: Befiehl du deine Wege!« flüsterte Priszilla.

Die Fräulein falteten die Hände, und auch Dezimus betete das gute Lied im Herzen nach, bis die Orgel schwieg.[309] Alle blickten gespannt in die Höhe. Max öffnete einen Fensterflügel, verschwand jedoch alsobald von ihm. Bei aller Zuversicht mochte ihm schwül geworden sein, während der Justitiar die Siegel des verhängnisvollen Schriftstückes löste. Auch Dezimus wurde schwül zumute. Seltsamerweise richteten seine Wünsche sich indessen lediglich auf Lydia, da doch sonst nichts reich und groß genug war, was er dem herrlichen Max nicht gegönnt hätte. Röschen dahingegen flüsterte ihm in das Ohr:

»Was wetten wir, Dezem, die alte Dame hat Max zu ihrem Erben eingesetzt, und ich an ihrer Stelle hätte es auch getan.«

Von oben herab drang unverständliches Gemurmel; der Rat las vor. Es mußte ein großes Vermögen und eine lange Reihe von Verfügungen sein, denn der Vortrag nahm gar keine Ende. »Wie es scheint,« dachte Dezimus, »bekommen viele ein Teil; und das ist auch besser als einer alles.«

Da – jählings Unruhe oben, Hin- und Widerlaufen, Stühlerücken, ein schriller Schrei. »Es war Mama!« rief Philipp.

Die Kinder stürzten in das Haus; Rose und Dezimus ihnen nach. Auf der Treppe kam ihnen der Vater entgegen, totenbleich, in tiefster Bestürzung.

»Hole schleunigst die Mutter, Rose,« stammelte er. »Sie soll ihre Lanzette mitbringen; es muß eine Ader geschlagen werden. Du, Dezimus, folge mir in den Saal!«

Als Dezimus den Saal betrat, lag der Propst, anscheinend ohnmächtig, auf seinem Stuhle zurückgesunken in Lydias Armen; die Gattin, auf den Knien, umklammerte in Todesangst seinen Leib; sämtliche Zeugen umstanden mit verstörten Blicken die Gruppe; der Justitiarius brachte vor[310] tauben Ohren hastig den Vortrag, der Schreiber das Protokoll zum Abschluß.

»Eilen Sie mit des Pächters Pferden zur Stadt nach einem Arzt; säumen Sie keine Minute!« sagte Pastor Blümel zu Max, der sich alsobald entfernte.

Martin und Dezimus trugen den ungelenken Körper in das Krankenzimmer, lösten seine Kleider und legten ihn auf das Ruhebett; unterdessen kam Mutter Blümel, die als rechte Pfarrersfrau in dringenden Fällen der Chirurgus der Gemeinde war. Röschen, mit ihr zurückgekehrt, blieb auf ihren Wink im Vorzimmer zurück. In der nächsten Minute trat Sidonie aus dem Krankenzimmer, schattenblaß und zitternd.

»Nur einen Augenblick!« stammelte sie. »Ich kann kein Blut sehen. Bitte, hole mir ein Glas Wasser. Der Onkel hat eine Ohnmacht!«

»Aber wer hat denn das Gut?« fragte Röschen, als sie mit dem Wasser zurückkehrte.

»Vorderhand ich,« antwortete Sidonie, sichtlich enttäuscht. »Nach meinem Tode – Gott weiß wer. Hoffentlich werde ich so lange leben, bis Max auf festen Füßen steht.«

Damit ging sie wieder in das Krankenzimmer, und Röschen blieb allein.

Kluge Jüngferchen sind nicht minder wie Nachtigallen und Spatzen neugieriger Natur, und das kluge Pfarrjüngferchen war keine Ausnahme von der Regel, was bei gegenwärtigem Anlaß auch ein Rigorist ihm nicht als Sünde anrechnen wird. Röschen horchte am Schlüsselloch nach einem Lebenszeichen des Ohnmächtigen – Totenstille; Röschen zerbrach sich den Kopf über das Rätsel, das nichts als Verdrießlichkeit angerichtet zu haben schien – keine Lösung. Röschen wurde selbst ganz verdrießlich.[311]

Zu ihrem Glück kam aus dem Ahnensaal der Justitiar, der allein mit dem Protokollführer das Geschäft hatte zu Ende führen müssen. Der alte Rat war nächst ihrem jungen Dezem des Pfarrröschens Spezial; er nannte sie Töchterchen Augentrost und kehrte niemals im Hause ein, ohne eine Tüte gebrannter Mandeln mitzubringen, die Töchterchen Augentrost fürs Leben gern knabberte. Was konnte natürlicher sein, als daß Röschen sich dem alten Herrn an den Arm hängte, ihn eine Strecke des Heimwegs begleitete und ihren Wissensdurst aus erster Quelle zu stillen suchte.

Der alte Herr seinerseits plauderte gern und ein hübsches Kind am Arm doppelt gern. Ein Amtsgeheimnis war die Sache nicht mehr, ein interessanter Fall aber war sie und würde sie noch lange Zeit für die Abendunterhaltung in der Resource bleiben. So erfuhr denn Röschen auf blumigen Wiesenwegen unter einem lachenden Johannishimmel und aus einem lachenden Munde brühwarm und haarklein, denn Lücken duldete Röschens Gründlichkeit nicht, die »Tragikomödie«, die sich im Ahnensaale abgespielt hatte, und ihr Dezem, der währenddessen den Schlußakt miterlebte, erfuhr erst am anderen Tage aus Röschens Munde, daß sich – für Röschen doch die Hauptsache! – wieder einmal ein Täufersegen über sein Haupt ergossen hatte.

Sobald Lydia den Choral beendet hatte, setzte sie sich zur Linken ihres Vaters, dessen kalte Hand in die ihre nehmend. Er war gespensterhaft bleich. Zu seiner Rechten saß die Mutter, neben ihr Martin, die Weinende mit seinen Armen umfassend. Dann folgte Sidonie. Max stand hinter dem Stuhle seiner Braut. Pastor Blümel verhielt sich in der Nähe des Tisches, vor welchem der Justitiar und der Protokollführer Platz genommen hatten. »Zwischen dem Altar,[312] der Orgel, den alten Ahnenbildern und dem alten Pastor im Ornat, gegenüber der kohlschwarzen, feierlichen Gesellschaft, machte der alte Judex unzweifelhaft einen Effekt, wie er ihn in seinem Leben noch nicht vorgebracht,« meinte vergnüglich der Rat.

Von dem Schriftstück, das nunmehr zum Vortrag kam, versicherte er, daß es, wie von A bis Z durch die Testatorin eigenhändig niedergeschrieben, so seinem gesamten Duktus nach, zuverlässig ohne fremden Beirat von ihr ausgeklügelt worden sei.

»Als ob man die alte Harfenkönigin reden hörte! Paragraphen für Paragraphen waren, wie bei einem Gesetzerlaß, die Motive beigefügt. Meist freilich in verzwickt ironischer Fassung. Einfälle wie ein altes Haus; aber von unanfechtbarer Sach- und Fachkenntnis. Summa Summarum ein mustergültiges Dokument! Wenn es viele solche schneidige Köpfe wie den dieses alten Fräuleins unter seinem Blumenhute gäbe, könnten wir Advokaten nur gleich die Bude zumachen.«

Der Vermögensstand, bis in das Detail aufgezählt und nach den im letzten Lebensstadium geführten Büchern kodizillarisch vervollständigt, erwies sich noch umfänglicher, als man erwartet hatte. Eine erhebliche Barsumme, wie auch das Dresdener Haus fielen musikalischen Bildungszwecken zu. An einem Erardschen Flügel, der in jenem Hause zurückgeblieben war, sollte Pastor Blümel in alten Tagen sich von Töchtern oder Enkelinnen sein Abendlied vorsingen lassen; sämtliche römischen Instrumente und Noten, mit Ausnahme der seligen Harfe, erhielt Sidonie. Die Dienerschaft, etliche verarmte Künstler und andere bisher Unterstützte waren mit Legaten und Renten bedacht; ein eisernes Kapital für die Witwen und hinterlassenen ledigen Töchter[313] der Werbenschen Pfarrer und Schullehrer, ein anderes zu baulichen und wohltätigen Gemeindezwecken niedergelegt. Die Verfügung über beide Stiftungen wurde nach freiem Ermessen dem Ortspfarrer überlassen, insofern und solange als der gegenwärtige Herr Konstantin Blümel oder, als dessen Nachfolger, sein Pflegesohn Dezimus Frey in diesem Amte standen. Bei anderweitiger Besetzung fiel die Verwaltung der Gutsherrschaft unter gerichtlicher Kontrolle anheim.

Mit diesem Ehrenamte war Dezimus Frey aber längst noch nicht abgefunden; denn nachdem der dreijährige Genuß des auf Werben ruhenden theologischen Stipendiums dem ersten studierenden Hirtensohne der Gemeinde noch einmal ausdrücklich stipuliert worden war, folgte nachstehender Passus:

»Da es mir einleuchtend ist, daß besagter Dezimus Frey sich leichter am sichtbaren Himmelszelt als im unsichtbaren Himmelreich umtun lernen wird, vermache ich ihm die Summe von zweitausend Talern. Und zwar soll ihm selbige ausgezahlt werden: vor dem Universitätsbesuch, falls er sich von Haus aus für das Studium der Astronomie entschließt, demnach des Stipendiums verlustig geht; oder nach Genuß des Stipendiums, um bei gereifter Erfahrung die Freiheit zu haben, sich in angemessener Sphäre, wenn auch nur als Nebenzweck, weiterzubilden. Wie ich es denn in keiner Weise verwerflich finden würde, wenn man in jedem Pfarrhause ein Observatorium errichtete, zum Merkmal, daß die Welt sich dreht.«

»Der Dezem ist aber doch ein Glücksvogel!« rief Röschen den alten Freund unterbrechend aus. »Und er kennt nicht einmal eine Note, singt und spielt bloß aus dem Kopf! An mich hätte die alte Harfenkönigin doch auch ein bißchen[314] denken können. Ich mache meine Sache doch ganz anders wie der Dezem.«

»Ei nun, Kindchen, sie hat ja eventuell auch an Sie gedacht,« tröstete der Rat.

»An mich? Ich werde doch wahrhaftig keine alte Jungfer werden! Und vor der Pfarrerwitwe in Werben wird der liebe Herrgott mich doch hoffentlich auch bewahren!«

»Aber bedenken Sie doch, das schöne Instrument!«

»Das ist auch wahr! Und am Ende, was dem Dezem gehört, ist ja auch so gut wie mein.«

»Nun sehen Sie wohl! Da können Sie sich auch noch eine faustdicke, goldene Repetieruhr an den Gürtel hängen, die gleicherweise Ihrem Dezem testiert worden ist. Ein Erbstück von Vaterseite, das in der Hand des Hutmannssohnes wiederum ein Erbstück werden und an den Wandel der Geschlechter mahnen soll.«

»Schönen Dank, gnädige Dame!« rief Röschen mit einem Knix und einer Kußhand, die sie gen Himmel warf. »Aber was hat denn nun eigentlich der schöne Herr Max?«

»Der schöne Herr Max, ei nun, der hat das Nachsehen, Kindchen – –«

»Schändlich, empörend! – –«

»Nach meiner unmaßgeblichen Meinung keineswegs! Im übrigen teilt er diesen Blick in das Leere mit diversen anderen ebenso würdigen Expektanten. Nicht ein einziger Familienname ist in dem Schriftstück als Erbe aufgeführt. Keinem zuliebe und manchem zuleide ist eine Ausnahme gemacht worden.«

»Aber ums Himmels willen, wer kriegt denn da das Gut?«

»Nur gelassen, Herzchen. Das dicke Ende kommt allemal nach. Die trauernde Sippschaft im Ahnensaal ist auf eine weit längere Geduldsprobe gestellt worden als Sie, und[315] die Sentenzpillen, die sie derweile hinunterwürgen mußte, werden ihr schwer genug im Magen gelegen haben. Nachdem also über jeden Batzen und Fetzen verfügt worden war, hieß es zu guter Letzt ungefähr so:

Die Unsterblichkeit meines übernatürlichen Menschen würde mir wünschenswert sein, ist aber bezweifelbar. Unbezweifelbar dahingegen ist die natürliche Torheit oder törichte Natürlichkeit jedwedes Menschen, auf dieser wandelbaren Erdenstätte längstmöglich eine unwandelbare Spur zu hinterlassen. Auch ich bekenne mich dieser Torheit schuldig. Da ich jedoch mit leiblicher Nachkommenschaft Gott sei Dank nicht gesegnet bin, und da die Kunst, die zu hegen mir gegeben war, leider eine ist, die verfliegt wie die Blume des Weines, bleibt mir gleich dem ersten besten alten Bauer nur ein Stück unbeweglicher Scholle, um ihr ein Merkzeichen einzuprägen von dem alten Geschlecht, das auf ihr erwachsen ist und, bis auf etliche fremde Pfropfreiser, mit meiner Person erlischt.

Vor zwei Jahrhunderten hatte der von der Werbensche Grundbesitz durch die geschickte und gefüllte Hand einer Frau sich zu einem der umfänglichsten in sächsischen Landen ausgedehnt. In dem Erbe von Mann auf Mann zerbröckelte er, um schließlich in dem Erbe von Mann auf Weib ein Nichts zu werden. Einer ledigen alten Frau, der letzten, die den Namen trägt, war es gegönnt, seinen Grundstock als käufliche Ware wieder in ihre Hand zu bringen. Um diesen vor nochmaliger Zertrümmerung zu bewahren, befestigt sie ihn zu einem Kunkellehn, und um durch die Zersplitterung der Einkünfte sein verblichenes Ansehen nicht noch weiter verbleichen zu lassen, stiftet sie ein weibliches Seniorat.«

»Den blitzartigen Eindruck dieser letzten Worte,« schaltete[316] der Rat lachend ein, »das Aufflackern des leichenhaften alten Herrn wie unter einem galvanischen Strom, das grimmige Lächeln des jungen Doktors, die Grimasse seiner Schwester hätten Sie sehen müssen, Kind. Leider konnte ich das interessante Schauspiel nur eine Minute lang während des eigenen Verschnaufens genießen. In der nächsten las ich weiter, und in der dritten glich der Umschwung der Stimmung einer Revolution.«

»Die den Jahren nach älteste meiner Großnichten eventuell Urgroßnichten,« so stand geschrieben, »das heißt der leiblichen Nachkomminnen meiner beiden Schwestern soundso, fügt, sobald sie das achtzehnte Jahr erreicht hat und nicht verheiratet ist, ihrem Familiennamen den von der Werben bei und tritt fideikommissarisch in den Genuß meines Rittergutes Werben und so weiter und so weiter, mit der Verpflichtung, sich seiner Verwertung und Erweiterung nach Kräften zu widmen und darum es zu ihrem wesentlichen Aufenthalt zu machen. Beim Umbau des Schlosses ist von vornherein darauf Rücksicht genommen worden, daß durch letztere Bedingung das Wohnungsrecht nicht beschränkt wird, welches meiner Nichte Frau Ottilie von Hartenstein zugesagt ist, solange sie lebt oder solange es ihr beliebt. An dem Tage, wo die Nutznießerin mit Tode abgeht oder etwa in den Ehe stand tritt, folgt ihr in dem Benefizium das den Jahren nach älteste Fräulein nicht der ihr zunächst stehenden Familie, sondern des gesamten Geschlechts.«

»Der Propst war schon bei den Worten: solange sie unverheiratet ist, von seinem Sitze in die Höhe gefahren; er stand mit vorgebogenem Leib und glasig starren Blicken, beide Hände gegen das Herz gestemmt. Jetzt, bei der Satzung von dem gesamten Geschlecht, sank er ohnmächtig in seiner Tochter Arm.«[317]

»Das ist der Schluß der Komödie; denn die nun folgenden exakten Bestimmungen im Fall einer Vakanz, oder gar des Erlöschens der Linie und dergleichen, werden für Sie, Dämchen Neubegier, noch gleichgültiger sein als für die enttäuschte Hörerschaft im Ahnensaal.«

»Wie kann denn Sidonie aber sagen, daß sie zunächst die Erbin sei?« fragte Röschen nach kurzem Nachdenken. »Lydia ist ja acht Monate älter als sie.«

»Aber Braut,« versetzte der Rat.

»Braut sein heißt nicht verheiratet sein,« wendete Röschen ein; wonach der Rat ausrief:

»Ei, Sie kluge kleine Maus! Na, da können wir noch ein erbauliches Handgemenge in diesem Familientempel erleben!«

»Und welche von beiden glauben Sie, hat die kuriose alte Dame vor Augen gehabt?« fragte Röschen.

»Sie hat gar keine Person vor Augen gehabt, lediglich ein Ideal,« antwortete lachend der Rat. »Und dieses Ideal heißt: Auf dem Stammschlosse der Werben eine alte Jungfer in Permanenz.«

Nach dieser Seite hin sattsam aufgeklärt, brannte das liebe Röschen vor Verlangen, wiederum inmitten des Schauplatzes so interessanter Entwicklungen zu stehen. Die Erzählung hatte sie eine weite Strecke auf dem Stadtwege vorangeführt, und da just des Pächters Wagen mit Max und dem wohlbekannten Doktor Brand vorüberkam, verabschiedete sie sich hurtig von ihrem alten Gönner, gab ein Zeichen zum Halten und schwang sich behende in das Gefährt. Der arme, schöne, junge Herr tat ihr in der Seele leid. Sie würde, ja wahrhaftig, sie würde ihres Dezem Legat, – nein, das ganze Legat nicht, aber die Hälfte des Legats darum gegeben haben, hätte sie mit dem Opfer den[318] armen, schönen, jungen Herrn zu ihres Dezem künftigen Patron erheben können.

»Ihr Herr Onkel ist von einer Ohnmacht befallen worden?« fragte sie ihn.

»Ich fürchte mehr als eine Ohnmacht,« antwortete er.

Und seine Furcht war begründet. Doktor Brand konnte lediglich bestätigen:

»Der Propst von Hartenstein ist tot.«


Lydia kehrte am Arme ihres Verlobten von dem Grabe zurück, in welches Joachim von Hartenstein versenkt worden war in der nämlichen Stunde des Siebenschläfers, wo vor achtzehn Jahren das arme Hirtenweib seine Ruhe gefunden und nur wenige Schritte von dessen Hügel entfernt.

Nicht Pastor Blümel, Professor Hildebrand, der Getreue, hatte den letzten Segen gespendet; die Feier war so still und schlicht, wie die der Gutsherrin laut und prunkvoll verlaufen; aber die Junisonne ergoß sich in vollen Strömen, als die letzte Spur von einem vielbewegten Menschenleben verschüttet wurde.

Lydia war unverweilt in das Zimmer ihrer Mutter gegangen, die seit der Sterbestunde des Gatten in sinnverwirrendem Fieber lag. Da sie dieselbe schlummernd und Frau Hanna Blümel als sorgsame Hüterin an ihrer Bettseite fand, schlich sie unbemerkt in das Gemach, wo ihr Vater die Augen geschlossen hatte, und saß dort in sich versunken, bis der Abend dämmerte.

Max schritt währenddessen in bitterem Unmut die Terrasse hastig auf und ab. Der bizarre letzte Wille seiner Verwandtin hatte ihn empfindlicher, als er sich merken ließ, enttäuscht. So sollte ihm denn wieder einmal die Dankbarkeit gegen einen Nächststehenden erspart werden, wie[319] sie ihm gegen Vater und Mutter und gegen deren Väter und Mütter erspart worden war. Selbst in seiner Schwester Seele schuldete er sie nicht; war es doch nur ein Zufall, daß sie Jahr und Tag mehr als Priszilla zählte. Berechtigt, weil empfänglich für jede Himmelsgunst, kam er sich vor wie ein Verstoßener.

Tiefer aber noch als seine Enterbung verstimmte ihn Lydias Gebaren. Er hatte sie seit der verhängnisvollen Stunde kaum gesehen, kein Wort aus ihrem Munde gehört. Ihre Tage und Nächte waren zwischen dem Krankenbett der Mutter und der Bahre des Vaters geteilt gewesen; Max schweifte im Freien und suchte Zuflucht in der Pfarre. Er liebte ja den Tod, aber nicht die Toten, und verstand sich auf Krankheiten, aber nicht auf Kranke. Was hieß das nun aber für eine Liebe, die vor einem natürlichen, längstvorausgesehenen Verluste spurlos verschwunden schien? Was hieß das für ein Glück, das nicht dem alltäglichsten Unglück die Wage hält? Die schnödeste Selbstsucht ist es, sich in einen Schmerz wie in eine Austernschale zurückzuziehen; und eine Perle nennen diese Frommen das krankhafte Produkt, das sich in solcher Schale bildet!

Sidonie, die sich zu ihm fand, teilte seine Auffassung. Sie besaß jetzt reichlich die Mittel, ihm die Freiheit, deren er bedurfte, zu gewähren. Was ihr war, war sein. Sobald die Mutter der dringendsten Lebensgefahr entronnen, sollte er Lydia still sich antrauen lassen und sie dieser Atmosphäre der Trübsal entführen. Für eine fernere Zukunft mochten die Pläne in beruhigter Stimmung gefaßt werden.

Mit dem Vorsatz dieser unumwundenen Forderung kehrte Max bei einbrechender Dämmerung in das Haus zurück. Lydia war weder bei der Mutter noch in ihres Vaters Zimmer; nicht ohne heimlichen Schauder ging er, sie zu[320] suchen, in den Saal, wo vor wenigen Stunden der Sarg gestanden hatte. Ein Leichendunst umwitterte ihn.

Das lebensgroße Bild des Propstes war für die heutige Feier über dem Altar aufgerichtet worden; vor diesem lag Lydia auf den Knien. Sie erhob sich, sobald sie ihn kommen hörte; ging ihm entgegen und reichte ihm schweigend die Hand; seiner Umarmung aber entzog sie sich. Er wollte sie aus dem Zimmer führen; sie winkte ihn nach einer Fensternische und nahm ihm gegenüber Platz, so daß sie das Bild des Vaters nicht aus den Augen verlor. Der aufgehende Mond warf sein fahles, kaltes Licht auf die hohe Gestalt im düsteren Priesterkleide; fahl und kalt war auch das Antlitz der Tochter, die in ihrem faltigen Trauergewande dem Bilde so wunderbar ähnelte wie dem Lebenden kaum je.

Ihre eisige Ruhe, die rücksichtslose Zumutung dieses unheimlichen Aufenthaltes, die phantastische Überspannung des Leidtragens reizten den jungen Mann bis zur Unerträglichkeit. Hätte er sie in Tränen schwimmend gefunden, hätte sie diese Tränen an seinem Herzen ausgeweint, seine Anklage würde sich in Mitklage umgewandelt, und nicht herbe wie jetzt würden die Worte geklungen haben, in welchen er, als Herr ihrer Zukunft, eine beschleunigte Verbindung forderte.

Sie hatte ihn ohne einen Laut oder nur eine Regung weder des Widerspruches noch der Entschuldigung aussprechen lassen; nun sagte sie:

»Du weißt nicht, Max, was es heißt, einen Vater begraben und eine Mutter mit dem Tode ringen sehen; du leugnest das Gefühl, das ich als das erste menschliche zu hegen und zu ehren gelehrt worden bin. Darum vergebe ich dir die harte Rede in dieser Stunde. Vergib du nun aber auch mir, wenn[321] meine Rede dir hart klingen wird. Ich kann deine Forderung nicht gewähren, und bestehst du auf ihr, gebe ich dir dein Wort zurück.«

Er starrte sie an wie betört. Sie fuhr fort:

»Ich habe meinem Vater gelobt, und ich habe mir selbst gelobt, ihn in der Pflicht für seine Hinterlassenen zu vertreten. Ich wußte um welchen Preis. Oder trautest du dir die Hingebung zu, mich in dieser Pflicht nicht zu beirren, und den Mut, sie mit mir zu teilen?«

Er lachte bitter auf. »Ich,« rief er, »ich, der Enterbte, der von der Großmut seiner Schwester die Mittel entlehnen muß, seine eigene Existenz und die seines anverlobten Weibes auf unberechenbare Jahre hinaus zu fristen, ich soll die Verantwortlichkeit und die Verbindlichkeit für eine zweite dürftige Familie – –«

»Ich sehe,« unterbrach ihn Lydia, »daß du die Hülflosigkeit unserer Lage und die Last, die dir erwachsen würde, deutlich ermissest; ich wußte auch zum voraus, daß du keine andere Antwort, als die du gegeben hast, mir geben würdest, wohl auch sie nicht geben konntest. Und eben darum, Max, müssen wir scheiden.«

Er verstand sie noch immer nicht vollständig, brauste aber jetzt schon auf in Hohn und Groll.

»Ei, wie versteht ihr doch, ihr Auserwählten,« rief er, »zu paktieren nicht nur mit dem Begriffe Liebe, als einer trüglichen Naturbestimmung, sondern auch mit dem Schriftkanon, auf den ihr euch, wenn es euch paßt, als untrüglichen Gesetzgeber beruft! Ein warmherziges Weltkind würde nicht daran deuteln, daß es Vater und Mutter zu verlassen habe, um dem Manne, dem es Liebe gelobt hat, anzuhangen, auch wenn dieser Mann – ja dann um so weniger! – um berechtigte Lebensaussichten betrogen[322] worden ist und in ehrlicher Selbsterkenntnis sich scheuen muß, eine Aufgabe zu übernehmen, welche durchzuführen er nicht imstande sein würde.«

»Noch bin ich nicht deine Gattin,« entgegnete Lydia, und ihre Stimme bebte zum ersten Male bei den Worten, »für welche der Laut der Schrift Gesetzeskraft haben müßte; noch gilt für mich die älteste Pflicht. Dennoch ahnest du nicht, Max, was es mich kostet, wortbrüchig zu scheinen, nicht es zu sein; ja, was es mich kosten würde, wäre ich nicht einmal deine Braut, dir und der Schwester, die dich liebt mehr als sich selbst, Aussichten zu verkümmern, die ihr für berechtigte achtet.«

Max fuhr in die Höhe, als hätte ihn eine Viper gestochen. Jetzt erst begriff er die Tragweite ihres Entschlusses. »Das also ist es!« rief er mit einem Hohngelächter, das in dem weiten, düsteren Raume unheimlich widerhallte: »Ein Rechenexempel ist des Pudels Kern!«

Auch Lydia hatte sich erhoben; sie preßte beide Hände gegen die Brust, ein Fieberschauer schüttelte ihren Leib. Doch sagte sie fest: »Ja, das ist das schwerste der Opfer, die ich fordere und bringe; schwerer selbst als das deiner Liebe, Max.«

Er ging mit heftigen Schritten im Saale auf und ab; sie fuhr fort:

»Wüßte ich einen Erwerb, irgendeine Lebensstellung, die mir ermöglichte, meine Mutter und meine verwaisten Geschwister so zu versorgen, wie der brechende Blick meines Vaters es von mir forderte, ich würde, wie demütigend der Ausweg, ihn diesem demütigendsten vorziehen. Da ich keine Wahl habe, nehme ich für eine unbestimmte Frist das Erbe in Anspruch, das deine Schwester sich gesichert glaubte und das ihr ein Jahresdatum – und kein Recht außer[323] diesem – verkümmert. Als du eintratest, Max, flehte ich zu Gott um die Kraft der Überredung, Sidonien zu einer zeitweisen Teilung dieses Erbes zu bewegen. Es ist hinlänglich reich, uns beiden zu genügen. Wenn aber der Buchstabe der Verfügung es auch nicht also heischte, die erste Benefiziatin, das heißt die Versorgerin meiner Mutter und ihrer Kinder, kann nur ich sein, nicht sie.«

»Mit anderen Worten,« rief Max, »du schämst dich der Dankbarkeit gegen die Schwester des Mannes, dem du Treue gelobt hast; aber du schämst dich nicht, mit dem Verlobten zu brechen, weil er ein Ärmling geworden, und jenes edle Geschöpf, von Natur und Schicksal mißhandelt, zu einem Ausgleich berechtigt und bestimmt, wie es war, zur Almosenempfängerin zu erniedrigen. Pfui über diesen Stolz!«

Lydia war bis in den Herzgrund erschüttert. So schroff hatte sie die Deutung ihres Entschlusses nicht geahnet, so grausam nicht die Probe ihrer Standhaftigkeit. »Sei barmherzig, Max,« bat sie mit aufgehobenen Händen. »Nein, sei nur gerecht. Ich darf ja nicht anders, und es ist ja auch nur auf wenige Jahre, daß ich die Entsagung von dir erflehe und die schwere Überwindung von ihr. Ich liebe dich, Max, wie in der ersten Stunde, da ich dein geworden bin, ja tiefer als in ihr, denn ich mußte dir wehe tun. Habe ich dir deine Freiheit zurückgegeben, ich werde dir treu sein, werde deiner warten, bis –«

»Bis der Erbe des reichen Mehlborn dir ein Äquivalent zu bieten hat für soundso viel tausend Taler Rente!«

Max war gewiß keine unedle Natur. Eigennutz in diesem gröblichen Sinne lag ihm so fern, daß er ihn auch nicht leicht in einem anderen vorausgesetzt haben würde, am wenigsten in diesem Mädchen. Das schnöde Wort kam[324] nicht aus seinem Herzen und nicht aus seiner Vernunft. Der Zorn hatte es ihm eingeblasen, und der Trotz bäumte sich zu sagen: »Ich war ein Rasender, vergib!« Wehe ihm! Er hatte mit barbarischer Faust sein Bild im reinsten Herzensspiegel zertrümmert, und solange seine Ohren offen stehen, wird er die Scherben klirren hören. Wie reich des Lebens Becher ihm sprudeln möge, daß er den Adel der Liebe verwirkte, ist die Hefe, die ihn trüben wird. Wehe ihm und ihr! Sie schwankte nach ihres Vaters Zimmer; die Tür fiel hinter ihr in das Schloß, wie die der Zelle, in welcher die Jungfrau sich zur Nonne weiht. Mit stürmischen Schritten verließ Max den Saal nach der entgegengesetzten Seite. –

Im Pfarrhause war der Abendsegen früher als sonst gelesen worden; nach drei abspannenden Tagen sehnte ein jeder sich nach Ruhe. Frau Hanna hatte zum ersten Male das Krankenzimmer der Witwe verlassen, auch Dezimus treulich Dienst geleistet als Totenwächter und Vermittler der letzten schweren Obliegenheiten für ein Menschenleben. Nun dachte er in seiner Bodenkammer »einen langen Schlaf zu tun«.

Da wurde hastig die Klingel gezogen, und wie Sidonie vor wenig Wochen außer Atem eingetreten war mit dem Rufe: »Max und Lydia sind verlobt!« so trat sie heute wieder außer Atem ein mit dem Rufe: »Max und Lydia sind entzweit!« Sie kam, um Lebewohl zu sagen, da sie noch diesen Abend mit ihrem Bruder abzureisen gedachte.

Den Hergang des Bruchs stellte sie dar, so wie sie ihn nach einer Unterredung mit ihrem Bruder und einer leider erst darauffolgenden mit Lydia selbst aufgefaßt hatte. Für dieses kluge Mädchen, scharfblickend, gerecht und billig, wie junge Menschen es selten sind, gab es einen Punkt, auf welchem die Bildfläche sich verkehrte, und das[325] war sein Liebespunkt, sein Max. So viel goldene Luftschlösser hatte die kleine Sidi auf die Freiheit des Reichtums gebaut, sich die Zukunft so reizvoll ausgemalt: ein Künstlerleben, ähnlich dem der alten Harfenkönigin, aber durch das Verhältnis zu ihrem Bruder erweitert und vertieft; nun wurmte die Enttäuschung sie nur um seinetwillen, und ihres eigenen Schiffbruchs gedachte sie kaum. Es handelte sich um ihn, darum statt des sicheren Klarblicks blinder Groll. Der höhnende Geifer hatte sich aus seiner Brust in die ihre gestürzt, hatte sich darin gestaut und ergoß sich nunmehr in brausenden Strömen.

»So sind sie, diese Heiligen!« rief sie aus. »Als sie Max für eine Partie hielten, lockten sie ihn an, fingen ihn ein, wie man einen Gimpel einfängt, den man zum Dompfaffen abrichten will. Nun, im Elend, schlagen sie die einzige Pforte der Freiheit vor ihm zu und berufen sich, wie Shylock auf seinen Schein, auf den Buchstaben ihres Rechts. Kaltblütig zerfleischt dieses Mädchen ihm das Herz und behauptet dabei noch, daß sie ihn geliebt. Als ob solch eine Mondscheinsprinzessin wüßte, was lieben heißt!«

Pastor Blümel widersprach der Aufgeregten warmen Herzens mit allen Gründen der Gewissenspflicht; er nannte Lydias Forderung einen Akt kindlicher Pietät, eine Selbstopferung aus stark empfundener Familientreue; worauf denn Sidonie eifernd erwiderte: »Nun, wie Sie wollen, Pastor. Aber was beweisen Sie mit Ihrer Entschuldigung, als daß auch die Familie ihre Jesuiten hat? Abstrakte Idealisten, denen jedes Mittel das rechte ist für einen Zweck, von welchem ihr Herz nichts weiß. Ihren Vater mag Lydia geliebt haben; ich traue es ihr zu, denn sie ist seinesgleichen. Aber liebt sie ihre Geschwister, die ihr so unähnlich sind, liebt sie nur ihre Mutter?«[326]

»Lieben Sie Ihren Bruder etwa nicht, Sidonie, da Sie doch wohl kaum sich für seinesgleichen halten?« wendete Frau Hanna ein.

»Freilich liebe ich ihn,« antwortete Sidonie, »und eben darum, weil ich nicht seinesgleichen bin. – Ach, wie von Herzen möchte ich ihm doch ähnlich sein! – Aber ich liebe ihn keineswegs, weil er mein Bruder, weil er ein Pflichtbegriff für mich ist; sonst müßte ich auch meinen Großvater lieben. Ich liebe ihn, weil er liebenswürdig ist, mein Bertrand de Born, weil ich keinen anderen zum Lieben habe, weil ich gar nicht anders als ihn lieben kann. Wäre ein Fremder so wie er, Sie zum Exempel, Dezimus, ich liebte Sie wie ihn.«

»Für welche schmeichelhafte Versicherung ich mich im Namen meines Dezem schönstens bedanke,« sagte Mutter Hanna lachend, und Sidonie lachte auch.

Dezimus aber vermochte eine ritterliche Wallung nicht länger zu bemeistern. Denn bei aller Bewunderung für das glänzendste Meteor an seinem Jugendhimmel hatte er in dem Kampfe, der an demselben ausgebrochen war, mit Entschiedenheit Partei genommen für den treuen Abendstern, der sich aus seiner gesetzmäßigen Bahn nicht verdrängen ließ. So einfach, als ob es sich um einen mathematischen Folgesatz handelte, sagte er daher:

»Warum will denn aber, gnädiges Fräulein, Ihr Herr Bruder nicht warten, bis seine Braut ihre edle Aufgabe vollbracht oder er selbst sich eine unabhängige Stellung errungen hat? Einem, der begabt ist wie er, sind Tor und Tür ja nach allen Seiten hin aufgetan, und wie viel reiner muß die Freude des Zusammentreffens am Ziel mit dem Bewußtsein erprobter Kräfte sein!«

»Max und warten!« hatte zu Anfang der Rede Sidonie[327] belustigt der Pastorin zugeraunt. Jetzt beim Schluß des Vortrags sagte sie aber schon wieder in hellem Ärger: »Gut Heil Ihnen, Kandidat in spe, auf solchem Philisterwege. Zuvor aber beantworten Sie mir gefälligst die Frage: da die Demut doch noch weit mehr als die Lammsgeduld eine christliche Tugend ist, warum nahm denn Ihre fromme Lydia die Mittel zur Erfüllung ihrer edlen Aufgabe aus meiner Hand nicht an? Durfte sie mir zutrauen, daß ich die Familie, in welche mein Bruder getreten war, in Dürftigkeit gelassen haben würde? Wenn sie sich gegen ihre Gewöhnung einigermaßen beschränken mußte, nun so büßte sie eben ihres Vaters Schuld. So wäre es recht gewesen, so billig. Aber nein! Zum Danksagen ist man zu erhaben. Ein Weltkind aufzugeben, ein anderes zu berauben, ist ganz in der Ordnung; beiden das Gnadenbrot anzubieten, wohl gar noch Großmut, der bloße Gedanke treibt mir die Galle in das Blut! Komme es, wie es mag, ich danke Gott, daß Max sich aus dieser tugendhaften Umstrickung losgerissen hat. Nun und nimmer würde er an der Seite dieser eisigen Jungfrau anders als elend geworden sein.«

»In letzterem Punkte pflichte ich Ihnen bei,« versetzte Mutter Hanna ruhig. »Auf der anderen Seite jedoch muß ich meines Sohnes philisterhaften Vorschlag dahin ergänzen, daß ein Mann, mag er zehnmal ein Genie sein, das Heiraten bleiben lassen soll, wenn er nicht die Lammsgeduld besitzt, sich ein sicheres Brot verdienen zu lernen. Sie aber, Kind, sollten es sich zweimal überlegen und wenigstens eine Nacht hindurch beschlafen, ehe Sie so eklatant mit Ihrer Familie brechen. Bedenken Sie, daß vernünftige Menschen für ihre persönliche Würde weit weniger heikel als für die ihrer Anvertrauten zu sein[328] brauchen; sich selber würde Lydia getrost zugemutet haben, was sie ihrer Mutter nicht zumuten durfte; wie Sie, Sidonie, Ihrem Bruder nicht, was Sie selber getrost sich zumuten dürfen. Lassen Sie ihn denn ziehen, wohin sein Genius ihn treibt. Mit ihm leben können Sie vor der Hand nicht; bleiben Sie also hier, zunächst bei uns. Eine Vermittlung mit Ihrer Familie wird unschwer anzubahnen sein; vielleicht nach mehr als einer Seite hin. Jedenfalls sind Sie die Großmütige, nicht Ihre Cousine, wenn Sie in eine Teilung der Revenüen willigen.«

»Ja, liebe Sidonie,« nahm nun auch Vater Blümel wiederum das Wort, »ja, bleiben Sie bei uns und sammeln Sie feurige Kohlen auf Lydias Haupt. Das unglückliche Mädchen handelte gemäß seinem Grundgesetz, also recht. Es gibt aber kein weheres Geschick, als wenn wir unserem Gewissen nicht etwa bloß unser eigenes Glück, sondern das Glück derer, die wir lieben, zum Opferbringen müssen. Sie retten den Frieden einer Seele, Sidonie.«

Sidonie blieb nicht unbewegt bei diesen Worten. Die erste Wallung war verdampft, und zu trotzigem Stolz war sie zu klug. Sie reichte den beiden alten Freunden über den Tisch hinüber die Hand und sprach: »Handelte es sich um mich allein, würde ich Ihrem Rate vielleicht folgen und Lydia eine Genugtuung gönnen, wie ich an ihrer Statt sie mir selbst gegönnt haben würde. Mir gegenüber ist sie ja faktisch auch durchaus in ihrem Recht. Aber auch ich habe ein Grundgesetz, Freunde, und das heißt Treue gegen meinen Bruder. Ich darf nicht durch die Hand eines Mädchens, das seine Liebe so gering achtete, um sie einem nüchternen Pflichtgebot unterzuordnen, mir meinen Lebensweg – und das hieße indirekt den seinen – bequem machen lassen. Ich muß sein Schicksal teilen.«[329]

»Und was denken Sie zu tun? Wohin wollen Sie sich wenden?«

»Zunächst gehe ich zu meiner Mutter. Ich habe aus der römischen Fülle eine hübsche Sparsumme gerettet, die für den Anfang genügt. Das Weitere wird sich finden. Tor, der man ist, Programme zu entwerfen, die der leiseste Atemhauch des Schicksals oder der Leidenschaft wie Kartenhäuser umbläst. Ich sage wie mein Max: nur auf die Gunst des Augenblicks ist Verlaß.«

Der Wagen fuhr bei diesen Worten vor. Ihrem Bruder den peinlichen Eintritt zu ersparen, eilte Sidonie ihm entgegen. Die Familie folgte ihr herzlich bewegt. Max sah bleich aus und sprach kein Wort.

»Ich schreibe bald!« rief Sidonie vom Wagen herab.

Die Freunde lauschten unter der Tür bis zum verhallenden Räderrollen. Dann sagte Röschen, halb betrübt und halb ärgerlich:

»Euch alle dauert Lydia, und ihr bewundert sie. Mich dauert Max, und ich bewundere seine Schwester. Ach, und wie einödig wird es nun in Werben werden! Wenn du auch noch fort bist, alter Dezem, halte ich es nicht mehr aus.«


Der gemütliche und tätige Anteil an dem Schicksalswechsel der Menschen, zu welchen er hoch emporgeblickt, hatte Dezimus völlig in Anspruch genommen. Es heißt etwas für einen Jüngling, zum ersten Male einen idealen Stern sich verdunkeln, ein Idol verkümmern sehen. Nun jedoch, da der Tageslauf wieder in sein Gleichmaß trat, fiel ihm ein, daß die Freiheitspforte, die sich seinem stolzen, gestürzten Helden geschlossen, für ihn, den bescheidenen, aufgetan hatte.

Es war ihm bis heute nicht ein einziges Mal in den Sinn[330] gekommen, daß sein Leben sich in einem anderen als dem von seinen Wohltätern gezogenen Gleise abspinnen könne. Als Stipendiat von Werben seiner Heimat durch treuen Fleiß Ehre zu machen, dereinst seines Vaters Gehülfe und in ferner, Gott wolle, allerfernster Zeit sein Nachfolger zu werden, das war sein Ziel, und er blickte auf dasselbe mit dankbarem Stolze. Völlig unerwartet war nun auf ein diesem Ziele schnurstracks entgegengesetztes als das seiner Natur gemäßere nicht bloß gedeutet worden, sondern auch mit großmütiger Hand die Bahn zu demselben geebnet, und er spürte ein heißes Verlangen, diese Bahn zu betreten. Die Analyse des sichtbar Unendlichen dünkte ihm auf einmal weit interessanter als die Auslegung der Apokalypse; Sternenbahnen erforschen auf stiller Warte weit zusagender als Predigten halten auf der Kanzel von Werben.

Hieß denn nun aber seinem Gelüste folgen, nicht alle Erwartungen seiner Wohltäter vereiteln? Hieß es nicht schnöder Undank, abzuweichen auf einen Pfad, auf welchen sein Vater und Bildner ihm nicht zu folgen vermochte? Und zumal auf einen, der selbst in weiter Ferne und Fremde ein gedeihliches Ziel noch zweifelhaft ließ, während das gedeihlichste in nächster Nähe gesichert war? Mochte ein leibliches Kind solches Opfer von seinen Eltern zu fordern berechtigt sein, aber auch das Kind der Barmherzigkeit, die hülflose Waise vom ersten Lebenshauche an? Und sein Röschen!

Dezimus stand erst im Aufschritt zu der Jünglingsstufe; sein Puls schlug ruhig, und seine Phantasie schweifte mehr zwischen Sternen- als Menschenbildern; sein Verhältnis zu dem schönen Mädchen hatte im Grunde daher noch nicht Hand und Fuß. Wenn Röschen ein Knabe gewesen wäre, würde es sich kaum anders gestaltet haben. Daß er aber[331] dem Kinde, neben dem er in der Wiege gelegen hatte, angehören müsse bis in das Grab, daß eine Liebe, für die er keinen Anfang wußte, auch kein Ende haben könne; daß, unter welchem Namen auch immer, er zu dieses Kindes Schirmer berufen sei, zu seinem Versorger, seinem nächsten, ewigen Freund, das stand für ihn fest wie ein Naturgesetz, nicht erst seit heute oder gestern, sondern seitdem er sich seines Daseins bewußt geworden. Die kleine Rose war ein Teil von ihm, sein bestes Teil. Und was konnte er auf dem neuen Lebenswege für sie werden?

Noch ein drittes kam dazu. Von dem Augenblicke an, wo sein stolzester Knabentag damit abschloß, daß er das weiße Fräulein aus dem Hutmannshause treten sah und er sich zum ersten Male deutlich als das Kind dieser armen Hütte gefühlt hatte, von dem Augenblicke an waren seine Gedanken häufig zu den unbekannten Brüdern in die Ferne geschweift. Nicht aus Blutszwang, wie Max von Hartenstein geringschätzig solchen Trieb genannt, nicht einmal aus neugierigem Verlangen; einfach aus einem Gefühl der Beschämung, wie es jeden gutgearteten Menschen überkommt, wenn er sich selbst in unverdienter Fülle und Gleichberechtigte in ebenso unverdienter Entbehrung sieht. Er hatte damals auch alsobald den Vater nach dem Schicksale seiner Geschwister befragt und erfahren, daß der treue Gemeindepfleger sie nicht aus den Augen verloren hatte. Je mehr sie freilich selbständig im Leben Fuß fassen lernten, um so seltener war eine Auskunft über sie zu ermitteln gewesen. Die Dezimus im Alter zunächst Stehenden waren früh gestorben; die Erwachsenen wie Heimatslose in der Welt verstreut. Ob, wo und wie viele ihrer vielleicht heute noch leben? Gott Vater wird es wissen, ihr Bruder Dezimus weiß es nicht.[332]

Ein erwünschter Zufall war es daher, daß vor Jahr und Tag der älteste von den beiden, die beim Tode der Eltern bereits Soldaten waren, sich mit dem Gesuch eines Taufzeugnisses, zum Zweck seiner Verheiratung, an den Pfarrer von Werben wendete und daß durch ihn ein schwacher Faden sich wieder anknüpfen ließ. Bruder Klaus war nach Ablauf seiner Dienstzeit Ruderknecht, später Matrose und endlich Steuermann auf einem Kauffahrteischiff geworden; er kam nur selten an das Land, wo er dann im eignen bescheidenen Heimwesen auf einer der friesischen Inseln einkehrte. Wer von seinen Brüdern noch lebte, wußte auch er nicht. Nur durch Zufall war er einmal mit seinem soldatischen Kumpan, dem einzigen, der ihm von Angesicht erinnerlich geblieben, zusammengetroffen, als dieser im Begriffe stand, nach Amerika auszuwandern. Dort, so schrieb der Prediger der Insel, der diese Nachrichten seinem binnenländischen Amtsbruder vermittelte, war auch er verschollen und das Enaksgeschlecht aus dem Hirtenhause demnach wahrscheinlich zusammengeschmolzen bis auf zwei.

Diese Rückwärtsgedanken waren in Dezimus nun aber besonders lebhaft angeregt worden, als er bei Gelegenheit des Werbenschen Erbes die Fragen des Blutszusammenhanges und der Verpflichtungen, welche er auferlege, von den verschiedensten Standpunkten erörtern hörte. Sein ganzes Herz gehörte ja den Wahlverwandten; ein heimlicher Gewissensdrang trieb ihn aber den Naturverwandten entgegen, und als durch Stipendium und Legat ihm die Mittel zu einer Nothülfe geboten wurden, schrieb er an den Bruder Steuermann im Inselhause, schilderte sein eigenes glückliches Los, sprach den Wunsch des Bekanntwerdens aus, bat dringend um gelegentliche Forschung nach dem in[333] Amerika verschollenen Friedrich und erklärte sich zu brüderlicher Handreichung froh bereit.

Sein Herz schlug befreit, nachdem er diesen Schritt in seinen ältesten Zusammenhang zurückgetan hatte. Vermochte er denn aber die verheißene Handreichung wahr zu machen, wenn er die abirrende Bahn zu einem zweifelhaften Ziele betrat? Denn mit dem gutgemeinten Verspruch hatte er leider die Dämonen der langen Zahlen und großen Rohre keineswegs ausgetrieben. Er mochte sich winden und wenden, wie er wollte, er kam aus dem Zwiespalt von Lockung und Pflicht nicht heraus. Sogar sein bis dahin unangefochtenes robustes Hirtenblut zeigte Spuren des heimlichen Kampfes, die roten Backen erblaßten, der Leib magerte ab, der Schlaf wurde unruhig, schlechthin hohläugig sah der arme Junge aus, und so mußte es zweifelhaft erscheinen, ob die großmütige Legatarin, indem sie seine Schülerwiege verrückte, ihm nicht eher eine Wehetat als eine Wohltat erwiesen hatte.

Hätte er nur einen weisen Mann gewußt, den er zum Schiedsrichter der strittigen Parteien in seiner achtzehnjährigen Brust hätte aufrufen dürfen. Aber er wußte nur einen, den weisesten der Weisen, und just vor ihm hätte er den Tummelplatz in undurchdringliche Nebel hüllen mögen. Oder hätte er nur einen mitfühlenden jungen Gesellen gewußt, in dessen Herz er seine Ängste ergießen konnte! Aber er hatte gute Kameraden die Hülle und Fülle; ein Spezial jedoch war ihm seit der Kinderstube immer nur sein Röschen gewesen, und was dieser Spezial ihm raten würde, brauchte er nicht erst zu erfragen. »Dummer Dezem, natürlich mußt du Pastor werden und in unserer hübschen Pfarre bleiben. Für das gnädige Legat machen wir uns alle Jahre eine Lust!«[334]

So fragte er denn Röschen nicht, aber er fragte Peter Kurzen, als dieser das nächste Mal in die Pfarre eingesprungen kam; und Peter Kurze zog die Augenbrauen in die Höhe und antwortete mit salbungsvoller Stimme.

»Verehrungswürdiger Gutfreund, dessen Namen ich nicht auszusprechen wage, das Heu beider Bündel duftet süß. So dächte ich, natur- und vernunftgemäß, wir genössen von beiden.«

Von beiden! Mit Peter Kurzen war freilich ernsthaft keine Sache abzusprechen, im Spaße aber traf er manchmal den Nagel auf den Kopf. Von beiden!

Oftmals dachte Dezimus an sein weißes Fräulein, wennschon er ahnete, daß Lydias Ratschluß nicht anders lauten würde als: »Entsage!« Was verlangte er denn aber Besseres als eine unumstößliche Richtschnur für seinen Willen? Ja, gewiß, er würde dieser Meisterin in der schwersten aller Lebenskünste blindlings nachgeeifert haben, hätte er nur ohne Zudringlichkeit sich irgendwo und wie bei ihr Gehör zu verschaffen gewußt. Allein er hatte seit jenem verhängnisvollen Tage sie nur dann und wann aus der Ferne gesehen, wenn sie im Morgengrauen oder Abenddämmer vor ihres Vaters Grabe stand. Sie war eine Nonne geworden und ihr Bereich in Wahrheit zu einem Kloster.

Ihre Mutter genas allmählich im Laufe des Sommers. Obgleich sie bewußtlos auf dem Fieberbette gelegen, hatte dennoch die Zeit ihr linderndes Wunder an der sanften Seele gewirkt, und nun stumpfte die Ermattung das Herzeleid ab. Ihre Umgebungen, ihre äußere Lage waren die gewohnten geblieben; nichts fehlte als der, dessen Qualen sie seit Jahren in der Stille qualvoll mitempfunden hatte, und der war selig bei seinem Herrn. Für eine Ottilienseele[335] ein erträglicher Schicksalsschlag; unter einer schweren Mutterlast wäre sie zusammengebrochen.

So fand sie sich denn auch leichter, als man gefürchtet hatte, in die Trennung von ihrem Liebling, welche gemäß des Vaters letztem Willen in dieser Zeit stattzufinden hatte; leichter zumal auch dadurch, daß der ungestüme Knabe sich aus der Eintönigkeit des Trauerhauses bereitwillig in einen neuen Zustand versetzen ließ. Phöbe war schon zu Ostern von dem Vater eingesegnet worden; der bisherige Informator schied daher aus der Familie, um in einer kleinen lutherischen Gemeinde der alten Heimat das Seelsorgeramt zu übernehmen. Martin war zu seinem Regiment zurückgekehrt; nur seine beiden jüngsten Schwestern wurden dann und wann noch in der Pfarre gesehen, um für ein paar Stunden fröhlich darin aufzuleben.

In den Augen der gesamten Familie und zumeist in denen der kindlichen Mutter war Lydia an die Stelle des Vaters gerückt. Wie sie des Hauses Versorgerin geworden war, wurde sie bedingungslos dessen Autorität. Ein sonniger Frühlingstraum war verweht, ein düsterer Todesschatten vorübergezogen; das Leben glitt hin in gewohntem, nur noch lautloserem Gleis.

Die Mitteilung, welche Sidonie versprochen hatte, blieb aus; monatelang wußte man weder auf dem Schloß noch in der Pfarre, was aus den Geschwistern geworden sei. Erst zu einer Zeit, die eigentlich bereits in den nächstfolgenden Abschnitt gehört, kam durch Martin – unter dem Siegel der Verschwiegenheit! – eine bewegliche Kunde an seinen Freund Dezimus. Max hatte sich schon vor seiner Reise nach Rom zum Landwehroffizierexamen gemeldet, halb und halb wohl mit dem Vorbehalt eines eventuellen Übertritts zur Linie. Nun war kürzlich seine Wahl in eklatantester[336] Weise von dem Offizierkorps abgelehnt worden. Als Anlaß vermutete man eine Reihe von Gedichten, welche unter seinem vollen Namen in einem neugegründeten freisinnigen rheinischen Zeitblatt erschienen waren und in den höchsten Regionen schweres Ärgernis hervorgerufen haben sollten. Der brave Martin war »ganz aus dem Häuschen«, wie er selber es nannte, über die Schande, welche der ganzen Familie angehängt worden sei und welche er selbst in seiner Karriere gehörig werde ausbaden müssen. Auch dauerte ihn sein Vetter, der, bisher ein Glückskind wie wenige, nun auf einmal aus einer Patsche in die andere gerate. »Und,« so schloß der Brave, »und alles um ein paar elender Verse willen, um die kein Hahn gekräht hätte, wenn man nicht solches Wesen davon gemacht. Und wenn ich ihrer ein dickes Buch voll gelesen hätte, mir wäre, als hätte ich Wasser getrunken.«

Da die betreffenden Zeitungsnummern konfisziert worden waren, lag wenigstens eines der Gedichte dem Briefe bei. Pastor Blümel – für welchen das Siegel nicht unerbrochen blieb – nannte es eine gereimte Umschreibung der zweiten Prometheusstrophe; nur daß der nicht mehr Zeus hieße, »dessen Majestät sich kümmerlich von dem Gebetshauch hoffnungsvoller Toren nährte.« Indessen wollte auch dem guten Blümel das ehrenkränkende Verdikt gegen den »Zornesausbruch eines heilig glühenden Herzens, dem die ersten Blütenträume nicht gereift waren« wenig einleuchten. Er sah in der Offiziersuniform das sicherste Korrektiv aller Titanengelüste und fürchtete die Früchte, welche die Erbitterung zeitigt. Pastor Blümel seufzte viel an diesem Tage und rauchte stark.

Als Lydia zum ersten Male die Einkünfte der Werbenschen Stiftung bezog, sendete sie die Hälfte des Betrags[337] durch Pastor Blümels Vermittlung an Sidonien, unter der Adresse ihrer Mutter. Umgehend erhielt sie die Summe auf gleichem Umwege zurück. Die Professorin behandelte, ohne jegliche Spur von Enttäuschung oder Verletztsein, die Angelegenheit rein als Geschäft. Ihre Tochter, so meinte sie, habe für einen derartigen Ausgleich nicht einmal den Anspruch der Billigkeit, da es keinem Zweifel unterliegen könne, daß Fräulein von Werben bei Abfassung ihres letzten Willens an die aussichtslose Familie ihrer Nichte Ottilie gedacht habe und nicht an Sidonie, die weder zurzeit noch, soweit sich voraussehen ließe, in Zukunft einer solchen Zuwendung bedürftig sei oder sein werde. Im übrigen scheine ihre Tochter sich im mütterlichen Hause heimisch einzugewöhnen, und sie sende den Pfarrfreunden ihre besten Grüße. Des Sohnes wurde nicht erwähnt.

Lydia vermochte mit dieser Abweisung sich nicht zufrieden zu geben. Es widerstand ihr, auf Kosten der Verwandten, die sich – und wie Lydia glaubte mit gutem Grund – für die Nächstberechtigte gehalten hatte, ein mehreres in Anspruch zu nehmen, als zur Versorgung ihrer Familie erforderlich war, und sie ersehnte den Zeitpunkt, wo sie auf das Ganze verzichten durfte. Wie tiefes Elend war um dieses leidigen Mammons willen über sie gekommen! – Durch Pastor Blümels, des zeitweiligen Kurators der Stiftung, Hand legte sie daher die Teilsumme bei jedem Termine hypothekarisch nieder, sei es zur späteren Verfügung ihrer Verwandten, sei es zu einem von diesen zu bestimmenden wohltätigen Zwecke.

Der Herbst war gekommen, ein milder, gedeihlicher Weinherbst; aber keiner im Pfarrhause freute sich wie sonst auf die Lese, da der Sohn sie heuer nicht mitfeiern durfte. Das liebe Röschen war, wie es sagte, ganz desperat. Es[338] stellte in seiner Desperation allen Ernstes den Antrag, mit seinem alten Dezem auf die hohe Schule zu ziehen, ihm den Haushalt zu führen, wie schon manche Pfarrtochter es ihren studierenden Brüdern getan, und nebenbei in einer Fabrik das Blumenmachen zu erlernen. Und während dieses Antrags streichelte das liebe Röschen seinem alten Dezem die Backen, kniff ihm zärtlich die Ohrläppchen und zupfte ihn an seinen langen, strohgelben Haaren. Der alte Dezem aber – ei nun, es war ein Vorschlag zur Güte –, und der alte Dezem hätte sich solch eine rosige Studentenwirtschaft mit tausend Freuden gefallen lassen. Zwei gewichtigere alte Leute ließen sie sich aber durchaus nicht gefallen, und diese gewichtigen alten Leute hießen Papa und Mama. Da schmollte das liebe Röschen ein Weilchen, lachte dann und flocht einen Asternkranz; ihr alter Dezem dagegen schmollte nicht, sondern versank wiederum in sein Sternensehnen.

An einem der letzten Nachmittage waren die beiden jungen Schloßfräulein gekommen, um mit Röschen im Pfarrberge Trauben zu naschen. Dezimus hatte den Vater auf seinem Vespergange durch das Dorf begleitet und saß nun mit ihm unter den rotbeerigen Ebereschenbäumen auf dem Hünengrabe, den Untergang der Sonne genießend. Solch ein himmelreines Schauspiel ist im späten Oktober eine seltene Gunst, und wenn es vielleicht das letzte ist, das binnen einer Sonnenwende in einer lieben Heimat genossen wird, da rührt es ein junges Herz wohl bis auf den Grund.

Auch der Vater hatte in andächtiger Stille der versinkenden Flamme nachgeschaut, bis der abendliche Horizont in ein Purpurmeer verwandelt schien. Dann hob er an:

»Zum ersten Male, mein Sohn, und leider Monde hindurch,[339] bin ich irregeworden an dem sicheren Gefühl, dem ich als dem Leitstern deines Lebens vertraut habe. Ich sehe dich bei zufälligem Anlaß schwindelnd schwanken; und wer bürgt dem Schwankenden, daß er nicht strauchele, dem Strauchelnden, daß er nicht falle?«

Dunkle Schamröte überzog des Jünglings Gesicht; er sah sich durchschaut von dem einzigen, vor dem er seine Blöße hätte verhüllen mögen. Denn die Dankbarkeit, wie jede echte Liebe, ist keusch.

»Durch eine förderliche Fügung«, fuhr der Vater fort, »ist dein Blick auf einen Beruf gelenkt worden, welcher dem von dir bisher in das Auge gefaßten zuwiderläuft und welchen du urplötzlich als den dir natürlich eingeborenen erkennst. Hättest du ihn ohne jene Fügung verfehlen können, wenn er wirklich deine Grundbestimmung gewesen wäre? Und warum willst du eine Entscheidung vom Zaune brechen, da sie dir nach einer Probezeit als reife Frucht in den Schoß fallen muß? Es sind nur wenige Gebiete, auf denen in unserem kurzen Hienieden ein gründlicher Forschersinn heimisch zu werden vermag; aber je eines mehr ist eine Verdoppelung unserer Existenz. Warum willst du nicht ein paar Jugendjahre daransetzen, um jenes dir vorbestimmte Gebiet zu prüfen, das, wie dunkel und begrenzt es auch erscheint, doch des Menschen ewigstes Anliegen umfaßt? Ist es dir denn verwehrt, daneben oder danach auf jenes andere abzuschweifen, das klar überschaubar, sich dennoch in das Grenzenlose verliert und in Ewigkeit ein Bruchstück bleiben wird? Warum willst du den seltenen Vorzug nicht nützen, deine Kräfte nach zwei diametral entgegenlaufenden Richtungen hin zu prüfen?«

»Aber die Zeit, die mir auf diesem Kreuzwege verloren geht, Vater?« wendete Dezimus schüchtern ein. »Ich könnte[340] nahe dem Ziele stehen, wo ich dort vor einem Anfang stehe.«

»Doch als ein gefesteter Mann, der ohne Fehltritt weiterschreitet. Wohl dem Jüngling, der nicht mit seinen Lehrjahren zu geizen braucht.«

»Und dann, Vater, und dann – beraube ich nicht einen Bedürftigen, wenn ich eine Wohltat zwecklos vergeude.«

Der Greis blickte zuerst betroffen vor sich nieder, darauf aber mit einem vollen Liebesblick auf den Sohn, und endlich sprach er in freudigster Entschiedenheit: »Ich danke dir für dieses Wort, mein Sohn. Es soll mir als Schiedsspruch gelten, daß ich deine Wiege an den rechten Platz gerückt habe und daß ich als dein Vater verpflichtet bin, die völlige Reife der Entwicklung von dir zu fordern. Ach, mein Kind, das Leben hat nicht Sonnenschein für alle, und wir berauben jedesmal einen Bedürftigen, wenn wir uns einer Himmelsgunst erfreuen. Wo aber wäre ein Mensch ohne solche Selbstsucht fertiggeworden? Und sich selber fertigbringen, soweit die eingeborene Gestaltungskraft reicht, ist des Menschen oberstes zeitliches Gesetz, denn nur nach dem Maße seiner Fertigkeit wirkt er.«

Der Greis machte eine kleine Pause; dann fuhr er fort:

»Bei deiner ruhig wägenden Gemütsanlage, bei der engen Umfriedigung deines bisherigen Daseins würdest du es nur zu einer einseitigen Ausgestaltung bringen, wenn du mit dem ersten Schritt in die Freiheit dich einbürgertest in einem abstrakt ideellen Reich, in welchem es wohl gilt, stetig vorwärts zu dringen, aber nicht zu ringen, wohl zu wägen, aber nicht zu wagen. Leben aber, Mannesleben, heißt Kampf und Kampfes Zeuge sein. Ein solcher Ringkampf um der Menschheit höchste Güter ist nun aber, ohne daß du es ahnetest, während deiner Knabenjahre aufgelodert[341] und wird in deinen Mannesjahren noch nicht ausgelodert sein. Auf weltlichem Gebiet wie auf dem geistlichen, in welchem du deine Schule durchzumachen hast, stehen die Parteien widereinander unter dem Feldgeschrei: Hie Freiheit, hie Autorität! Aus kindlicher Ferne hast du in dem Propst von Hartenstein und Professor Zacharias zwei bedeutende Männer kennen lernen, die dir als Chorführer gelten dürfen. Zwischen ihnen aber streifen Plänklerscharen, diesseit wie jenseit sich berufend auf das nämliche Schiboleth, aber haarspaltend miteinander, hadernd um die Heischungen des Gemütes, des Verstandes, ja der kennzeichnenden Uniform. Auf einen dieser Tummelplätze sende ich dich nun, mein Sohn, um dir, soweit es dem Menschen gegeben ist, eine reine Lösung für den eigenen Geist zu erringen. Denn eine beherrschende Stellung wird kein Heutiger mehr erreichen; noch niemals hat die Menschheit drei Jahrhunderte zurückgelebt. Die segenfördernde Macht des Gottesgedankens, die ewige Botschaft der Barmherzigkeit in der Seele deines Volkes in bescheidenem Umkreis rege zu erhalten, ihm ein Lehrer, ein Tröster, ein Freund und Vorbild zu sein, das und kein glänzenderes ist dein Ziel auf der von Kind ab vorgezeichneten Bahn. Solltest du während derselben erkennen, daß sie weder dich noch andere zu jenem Ziele führen würde, sollten berechenbare Messungen dich stärker locken als das Geheimnis des Wortes, das du zu ergründen und zu verkünden hast, dann, aber nur dann, ist es nicht bloß dein Recht, sondern deine Pflicht, auf jener sich kreuzenden Bahn vorwärts zu dringen nach dem Urgesetz der Wahrhaftigkeit. So ziehe denn aus, mein Sohn, und wie du nach treuer Arbeit dich entschieden haben magst, du kehrest heim, des bin ich getrost, als unser gesegnetes, unser glückliches Johanniskind.«[342]

Lächelnd, doch feuchten Auges schloß der Greis seine Rede. Dezimus aber, der Junge schlecht und recht, fiel wie erlöst zu seines Vaters Füßen, preßte dessen beide Hände gegen sein Herz, und heiße Tropfen rannen darauf nieder. Ein vernehmliches Wort aber sprach er nicht.

Am anderen Tage, obgleich es der Abschiedstag war, ging er wie auf Federn; ja wahrlich, der stämmige Enakssohn, er schwebte, so leicht war sein Herz. Sein Abiturientenzeugnis hatte brav gelautet, und die Trennung währte ja nur kurz; zum heiligen Christ war er wieder da! Er empfahl sich in beiden Gemeinden Haus bei Haus; selbst bei seinem Vizepaten versuchte er vorzudringen, zu seiner Genugtuung indessen vergeblich. Auch Lydia war nicht sichtbar; Frau von Hartenstein aber entließ ihn mit mütterlichen Tränen, und ihre beiden jüngsten Töchter schenkten ihm die Andenken, die ihm schon zum Geburtstage bestimmt gewesen waren. Die kleine Phöbe hatte eigenhändig 365 Blätter je mit einem Bibelverse beschrieben. Alle Morgen sollte ihr guter Dezimus, so wie es im pröpstlichen Hause gang und gäbe war, sich auf einem dieser Blätter die Tageslosung ziehen. Fräulein Priszilla aber brachte gar ein schönes Album, auf das sie unter einem Kornblumenkranze seinen Namen gestickt hatte und in welches sich, mit Ausnahme des kranken Vaters, sämtliche Familienglieder eingetragen hatten; auch Max, dazumal noch hoffnungsvoller Bräutigam, war darin verewigt, wennschon nicht mit einer eigenen Inspiration, so doch mit einer dem Schüler gemäßen Horazischen Sentenz. Lydia hatte geschrieben:

»Dring durch die Kreise bis zum fernsten,

Vor dessen Licht kein anderes sich behauptet.«

Dante war einer der wenigen Dichter, welche Lydia, als[343] Vorleserin ihres Vaters, gründlich kannte und vielleicht der einzige, welchen Max nicht las.

Am Abend war in dem Hause, aus welchem der Sohn scheiden sollte, die tapfer verhaltene Wehmut nicht länger zu bannen. Kein Scherz und kein Ernst wollten mehr verfangen; ein jeder zögerte, mit dem Aufbruch zu beginnen. Erst als es Mitternacht schlug, erhob sich der Vater, legte schweigend die Hände auf des Jünglings Haupt und stieg hinunter in das geistliche Gemach.

»Ich sehe dich noch, mein Dezimus,« sagte die Mutter, indem sie rasch das Zimmer verließ.

Bruder und Schwester waren allein. Sie schlang die Arme um seinen Hals und sagte zwischen Schluchzen und Lachen: »Daß du mich nur liebbehältst, alter Dezem, unter den Scharteken und Rohren deiner dummen Universität!« Dann lief sie, beide Hände vor dem Gesicht, der Mutter nach.

Das liebe, närrische, kluge Röschen, wie wäre es nur möglich gewesen, daß irgendwo und wie und wann ihr alter Dezem sie nicht liebbehalten hätte!

Er dachte den Weg, wie dazumal auf der Suche nach der fremden Blume, zu Fuß zu machen, legte sich daher gar nicht nieder, sondern saß an seinem Kammerfenster, bis der Morgenstern in voller Herbstpracht aufgegangen war. Dann brach er auf.

Als er die Haustür leise öffnete, kam die Mutter ihm nach, drückte ihn an ihr Herz und schluchzte, ja sie schluchzte: »Vergiß nur die Wäschzettel nicht, mein Dezem!«

Die liebe, närrische, kluge Mutter, als ob ein Sohn, den sie erzogen hat, die Wäschzettel vergessen könnte!

Der nächste Weg zur Landstraße führte über den Friedhof. Während er zu einem Abschiedsgruß vor dem Hügel der Mutter stand, deren Liebe ihm eine Fremde ersetzt hatte,[344] trat hinter dem weißen Marmorkreuz, das den Namen Joachim von Hartenstein trug, eine dunkle Gestalt hervor. Es war Lydia, die an dieser Stelle täglich die Sonne aufgehen sah. Er konnte es nicht lassen, er trat an sie heran und reichte ihr die Hand. Sie hielt sie eine lange Weile in der ihren, und schweigend schieden sie.

Als er unter der Pforte sich noch einmal umblickte, stand die hohe, dunkle Gestalt regungslos wie zuvor neben dem weißen Kreuz. Und so war das letzte Bild, das er aus der Heimat in sein neues Leben trug, das der Jungfrau, über welcher der Morgenstern leuchtete.[345]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 3, Leipzig 1918, S. 237-347.
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