Elftes Kapitel

[94] Die Rekrutierung in Barnow!

Wer in einem der Kotstädtchen des österreichischen Ostens zurzeit verweilt, da dies Ereignis herannaht, dem wird zumute, als befände er sich in einem Ameisenhaufen, in welchen sich[94] jählings ein Stock einbohrt. Alle Bande der Ordnung sind gelöst; in unsäglicher Wirrnis purzeln die Tierchen durcheinander und zappeln und flüchten. Das Gleichnis paßt vollkommen. Denn es ist ja im Grunde nur ein Unterschied: die armen Ameisen können nicht ahnen, ob und wann es einer übermütigen Hand belieben wird, in ihren Bau den zerstörenden Pfahl zu treiben, während die Leute von Barnow recht wohl wissen, daß alljährlich im Frühjahr die kaiserlich-königliche Assentierungskommission in das Städtchen kommt. Aber es trifft sie gleichwohl sehr hart und bringt sie in unsägliche Angst und Bedrängnis.

Die Leute von Barnow, die Juden wie die Ruthenen, machen sich sonst wenig Gedanken über den Staat. Er ist ihnen kaum ein moralischer Begriff, nur eben eine physische Macht, eine einzelne Menschenhand: der Monarch. Sie verehren diese Hand nicht minder, als sie die Hand Gottes verehren und vielleicht aus denselben Gründen; sie spüren den Griff der Hand, aber die Person, welcher sie angehört, sehen sie nicht. Der Kaiser von Österreich und der liebe Herrgott stehen dem podolischen Bauer und Juden gleich fern, und es ist eine Frage, die man kaum entscheiden kann, vor wessen Antlitz zu treten ihnen leichter fiele und wessen Hof ihre Phantasie sich mit abenteuerlicherem Glanze ausmalt! Von Bürgerrecht und Bürgerpflicht, von einer Einsicht in Mittel und Zwecke des Staates, ist unter diesen armen Menschen, die ihr Dasein in tiefem Dunkel dahinschleppen, keine Vorstellung. Was der Staat ihnen Gutes bietet, ist ihnen so gewohnt und vertraut, daß sie nie darüber nachdenken. Der Staat baut die Straßen und schützt ihr Eigentum, ihren Leib und ihr Leben, aber das haben ja auch ihre Großväter so gehabt; sie ahnen gar nicht, daß das vom Staate kommt! Bleiben also nur die Pflichten, um ihnen den Staatsgedanken einzuprägen. Nicht bloß in Podolien, auch anderwärts empfindet der Niedere die Bande, welche ihn an den Staat knüpfen, nur als ein Netz, welches ihm die Geburt schon über den Nacken legt, in welchem er sich sein Leben durch abzappelt, welches ihm erst der Tod von den Schultern nimmt. Aber kaum anderswo tritt dies so grell zutage.

Zwei Pflichten sind es insbesondere, welche dem ruthenischen Bauer, dem jüdischen Städter in Galizien das Staatsbewußtsein[95] einprägen: die Geldsteuer, die Blutsteuer. Die erstere wird ergeben und pflichtgetreu geleistet. Der Jude mindestens läßt es nur im äußersten Falle zur Exekution kommen. Schon aus Klugheit, weil eine Exekution Geld kostet, aber nicht aus Klugheit allein. Die Notwendigkeit dieser Steuer sieht er ein. Der Kaiser, sagt er sich, ist ein hoher Herr, er muß standesgemäß leben und hat überdies so viele Beamte zu füttern! Er verlangt das Geld nicht aus Mutwillen, er braucht es wirklich, also muß man es ihm geben. Anders die Blutsteuer. Wozu man Soldaten brauchen kann, das ist klar: dem Kaiser das Land zu schützen und seine Feinde totzuschlagen. Aber hat denn der Kaiser so viele Feinde? Und wäre es nicht möglich, daß man friedlich mit ihnen einen Ausgleich träfe? Ist denn zum Beispiel der Preuße ein gar so böser Mensch, daß ihm im guten gar nicht beizukommen? Er verliert ja im Kriege auch sein Fleisch und Blut! Sie sind sehr beschränkte Politiker, die Leute von Barnow; die Notwendigkeit des Krieges leuchtet ihnen absolut nicht ein. Auch sind sie Hochgefühlen von antiker Einfachheit und Größe verschlossen, und für den Ruhm haben sie gar kein Verständnis.

Aber weit grimmiger als der Verstand dieser Menschen kehrt sich selbstverständlich ihr Gemüt gegen die Blutsteuer. Es ist keiner Familie angenehm, ihren Sohn jahrelang entbehren zu müssen, ihn vielleicht in der Fremde sterben oder verderben zu lassen. Das gilt von den Christen wie von den Juden. In allen sträubt sich der starke Egoismus des Naturmenschen gegen die Wehrpflicht. Auch der ruthenische Bauer wird ungern Soldat, sehr ungern. Dem Juden vollends erscheint dies Los als das fürchterlichste Unglück. Die Gründe hiefür sind bereits berichtet, und wir haben hier nur die Folgen dieser Anschauung zu betrachten. Die Rekrutierung in Barnow schildern heißt im Grunde nur erzählen, was die Leute anstellen, um nicht rekrutiert zu werden.

Die Ruthenen fassen die Sache minder tragisch auf. Erwünscht ist es keinem, auf den Assentplatz zu gehen, aber wenn er abgestellt wird, so ist er nicht allzuschwer getröstet. Übrigens hält ihn auch der Fatalismus, dieser Grundzug der slawischen Volksseele, von gar zu heftigen Anstrengungen ab. »Wenn es vom Schicksal bestimmt ist«, seufzt der Wassilj oder der Hawrilo[96] und trottet langsam vor die Kommission, das Haupt gesenkt, wie das Schaf vor dem Gewitter. Nur zuweilen hat, solange dies gesetzlich gestattet war, ein reicher Bauer seinen Sohn losgekauft. Nur zuweilen geht ein Assentpflichtiger durch, verdingt sich nach Rußland, nach Ungarn, läuft wohl gar bis in die Moldau. Oder er desertiert dem Transport und schlägt sich in die Karpaten und lebt in dieser ungeheueren Wüstenei vogelfrei, aber auch frei wie ein Vogel. Doch auch dies kommt kaum häufiger vor als anderwärts. Nur ein Mittel gebraucht der Ruthene öfter als der deutsche Bauer: die Selbstverstümmelung. Alljährlich im Frühjahr fällt mancher Daumen; mancher stattliche Bursche macht sich selber lahm. Das nützt ihm freilich nicht viel, statt in die Kaserne kommt er ins Kriminal. Aber der gräßliche Unfug währt fort und wird wohl nie ganz auszurotten sein.

So drastische Mittel gebrauchen die Juden sehr selten; sie suchen sich auf andere Weise zu helfen: durch List. Sie kämpfen gegen die Assentkommission wie die Rothäute gegen die Weißen. Es ist ein Kampf, in dem alle Mittel gelten, auch die sonderbarsten Mittel. Es wäre unmöglich, diese Listen und Schleichwege erschöpfend zu schildern. Denn es ist das scharfsinnigste Volk der Welt, welches hier gegen eine verhaßte Institution streitet, und es kämpft für seinen heiligsten Wahn, für seinen Anteil am Jenseits.

Hier nur einige Andeutungen.

Auf dem Marktplatze von Barnow steht ein kleines Haus, nicht so schmutzig wie seine Nachbarn, sondern noch viel schmutziger. Vielleicht weil es kein Privathaus ist, sondern ein städtisches Gebäude, welches öffentlichen Zwecken dient. Ein solches Haus ist auch anderwärts irgendwie ausgezeichnet, zum Beispiel durch monumentale Bauart, dieses hier durch monumentalen Schmutz. Das ist das Gemeindehaus von Barnow. Über dem Eingang ist schief eine Tafel angenagelt, eine sonderbare Tafel, die einst schwarz war und heute grau ist, die einst viereckig war und heute seltsam ausgezackt erscheint. Auf dieser Tafel steht mit gelben Buchstaben in lateinischer Schrift: »Judisch Gemaind Kanzellaria«. Die Worte müssen übrigens heutzutage schon mehr geahnt als gelesen werden. Zur Zeit, da diese Geschichte sich begab, blinkten sie noch hell und deutlich. Aber wer damals[97] die Türe öffnete und in den einzigen großen, fürchterlich verwahrlosten Raum trat, wußte auch ohne die Tafel, wohin er gekommen. Denn da saß hinter einem wackligen Tische Luiser Wonnenblum, der jüdische Gemeindeschreiber, und verfertigte auf halbbrüchigen Bogen »Eingaben« oder linierte Tabellen.

Luiser Wonnenblum war kein Adonis. Er war klein, pockennarbig, höckrig. Aber aus den enggeschlitzten Äuglein blitzte viel Schlauheit und Geistesschärfe. Nur der Dumme hat Glück, Luiser hatte viel Unglück gehabt. Sein Vater war ein reicher Wucherer gewesen und hatte den Sohn zu demselben Gewerbe erzogen. Und weil er ein Wucherer werden sollte und nicht etwa ein Gelehrter, so durfte er Deutsch lernen, um das bürgerliche Gesetzbuch zu verstehen und – das Strafgesetz. Luiser verstand es vorzüglich; er ward ein sehr reicher Mann. Da kam ihm der drollige Einfall, auch einmal, der Abwechslung wegen, ein ehrliches Geschäft zu machen. Er unternahm einen großen Getreideexport und ging dabei kläglich zugrunde. Nun wendete er sich, um nicht Hungers zu sterben, einer Tätigkeit zu, für welche ihn auch sonst seine Neigungen befähigten, er wurde der Winkelschreiber von Barnow und Geschäftsführer der Gemeinde. In diesen beiden Tätigkeiten kam er wieder zu leidlichem Wohlstand, weil er hier selten Gelegenheit fand, ehrliche Geschäfte zu machen.

Luiser hatte die Matrikeln zu führen. Er allein konnte es, denn fast er allein war der deutschen Schrift mächtig. Und was in den Matrikeln steht, bildet bekanntlich die Grundlage der Rekrutierungslisten. Da wurde also zum Beispiel dem Froim Luttinger ein Sohn geboren. Der Vater war der Ansicht, es sei just nicht nötig, daß Luisers offizieller Griffel dies erfreuliche Ereignis verzeichne. Weil aber Luiser dazu verpflichtet war, so bedurfte es natürlich einiger hundert Gründe, um ihn zu der Ansicht des zärtlichen Vaters zu bekehren. Die Gründe waren zahlreich, aber einer glich dem anderen, und auf jedem stand: Ein Gulden Konventionsmünze. Nachdem diese Gründe gewirkt, erfuhr weder die Kommission noch die Statistik etwas von der Existenz des jungen Luttinger. Er lebte ein völlig dokumentloses und darum völlig unbehelligtes Dasein.

Natürlich durfte Luiser nicht häufig so vergeßlich sein, weil[98] sonst leicht dem Kreisamte die jählings verringerte Fruchtbarkeit in Barnow hätte auffallen können. Aber es gab andere, minder gefährliche Mittel. Die Statistik lehrt als Axiom, daß die Frauen auf Erden zahlreicher sind als die Männer. Aber nirgendwo hat dies Axiom mehr Bestätigung gefunden als in Barnow, solange Luiser als Gemeindeschreiber wirkte. Da ward zum Beispiel dem uns wohlbekannten Simon Galgenstrick, dem munteren Fuhrmann, ein Sohn geboren und Aaron genannt. Verzeichnete Luiser dies gewissenhaft, so mußte zwanzig Jahre später der Jüngling vor der Assentkommission erscheinen. Darum ging der muntere Galgenstrick in die »Judisch Gemaind Kanzellaria« und überzeugte dort den Wonnenblum, daß der Neugeborene eigentlich ein Mädchen sei. Luiser zählte die Gründe nach, und weil er sie genügend befand, so schrieb er in die Rubrik der Geburten: »15. März. Rebekka Galgenstrick.«

Und Rebekka wuchs heran und nahm ein Weib und zeugete fröhliche Kinder, und wenn sie von der Wehrpflicht hörte, so streichelte sich Rebekka behaglich und still lächelnd den langen Bart.

Aber nicht bloß die Geburt, auch das Sterben hatte Luiser zu verzeichnen. Und auch mit dem Tod lassen sich Geschäfte machen, wenn man findig ist. Da stand in den Listen »Jakob Kleinmann«. Es war ein prächtiger Bursche, der diesen Namen trug, groß, stark, tadellos und fehlerfrei. Wer sich so den neunzehnjährigen Fleischergesellen ansah, der konnte, ohne just ein Prophet zu sein, wissen, was er in einem Jahre sein würde: Flügelmann der ersten Kompanie! Da tat Eile not. Jakob Kleinmann mußte sterben, und er starb eines jähen Todes. Während der Stadtarzt von Barnow, ein ehrlicher Mann, krank darniederlag und statt seiner der Wundarzt die Totenbeschau verrichtete, verlor der blühende Jüngling durch einen Schlagfluß sein Leben. Dann ging er auf ein Jahr nach Kolomea, und Luiser trug den erschütternden Todesfall in die Listen ein.

So plump und direkt konnte man aber das Sterben selten bewerkstelligen. Der Stadtarzt war unbestechlich, und auch sonst war die Sache zu gefährlich und konnte leicht entdeckt werden. Dann hätte der Tote nicht bloß lebendig werden, sondern einige Lebendige hätten ins Zuchthaus wandern müssen.[99] Wenn aber jemand in die Moldau ging und dort starb, so war dies weit sicherer. Nach fünf Jahren konnte er immerhin neugeboren und mit funkelnagelneuem Namen in die Heimat zurückkehren und da so lange leben, bis er wirklich starb. So gingen denn viele junge Leute nach Jassy, Roman, Bottuschany, um dort ihren Geist aufzugeben, und Luiser gab ihnen Empfehlungsbriefe an dortige Geschäftsfreunde mit, damit diese ihnen zu einem raschen und billigen Tod behilflich seien.

Noch vielseitiger, noch tätiger war Luisers Konkurrent Beer Blitzer, der »Faktor«. Wer des einen Hülfe nicht gewann, begab sich unter des andern Schutz. Doch war die Konkurrenz keine direkte: während Luiser dafür sorgte, daß der Militärpflichtige nicht vor der Assentkommission zu erscheinen brauche, sorgte der Faktor dafür, daß ihn die Kommission für untauglich erkläre.

Das Geschäft eines Faktor ist fast ebenso schwer zu definieren wie jenes eines Marschallik. Denn beide Berufe sind naturgemäß aus Bedürfnissen und Verhältnissen hervorgegangen, von denen die Gesellschaft des Westens kaum eine Ahnung hat. Auch zum Faktor muß man geboren sein, der bloße Wille und Fleiß genügen nicht. Aber das ist auch die einzige Ähnlichkeit. Den Faktor verachtet jeder, den Marschallik liebt jeder. Der Faktor hat nur ungemütliche Verrichtungen, der Marschallik nur gemütliche. Der Faktor verdient oft viel Geld, der Marschallik bleibt sein Leben lang ein armer Teufel. Der Faktor hat mit Christen und Juden zu tun, und wäre die Kluft zwischen ihnen minder tief, so wäre auch seine Rolle zu Ende. Der Marschallik aber beschäftigt sich nur mit seinen Glaubensgenossen, und es ist nicht abzusehen, wann er ihnen jemals entbehrlich werden könnte.

Notwendig sind sie derzeit beide und naturgemäß auch. Der Marschallik kommt dem Bedürfnis eines gedrückten Volkes entgegen, welches selbst nicht viel Lustigkeit hat und daher einen Lustigmacher braucht, um lachen zu können; eines nüchternen Volkes, welches die Eheschließung wie ein Geschäft behandelt und daher einen Mann benötigt, der dies Geschäft mit vielem Verstand und einigem Gemüt zustande bringt. Der Faktor aber entspricht den Bedürfnissen der slawischen Welt, welche[100] gerne genießt, ohne zu arbeiten, gerne durch andere verrichten läßt, was der Deutsche und Romane selber besorgt; gerne den Taumelbecher des Heute bis zum Grunde leert, mag auch dann der Katzenjammer des Morgen noch so gräßlich sein. Und nicht minder entspricht er den Bedürfnissen jener jüdischen Welt, welche, arg gedrückt und durch den Druck verschüchtert, auf dunklen Wegen ihre Ziele zu erreichen sucht. Und darum hat ein Faktor schier noch mehr zu tun als ein Marschallik.

Die Frau Bezirksrichter braucht ein neues Kleid oder auch nur einen Hut Zucker. Soll sie das etwa selber einkaufen? Bewahre! Erstens kostet das viele Mühe, zweitens droht vielleicht die Gefahr, daß die Leute nichts mehr auf Borg geben. Sie läßt den Faktor rufen und gibt ihm den Auftrag. Beer Blitzer versteht sich auf alles, darum auch auf Kleider und Zucker. Einige Stunden später hat die Gnädige das Gewünschte. Natürlich teurer und schlechter, als sie es selbst hätte einhandeln können – aber was liegt daran? Auch die anderen Frauen bemühen sich ja nicht selbst!

Der Herr Gerichtsadjunkt hat eine kleine unangenehme Affäre gehabt. Er hat einen Juden willkürlich, ohne jeden Grund, acht Tage im Arrest gehalten, vielleicht auch ein wenig prügeln lassen. Acht Tage nur und wenige Prügel, aber der Jude war doch so frech, beim Obergerichte Klage zu führen. Nun ist die Untersuchung angeordnet, und der Herr Gerichtsadjunkt ist in Gefahr, des lumpigen Juden wegen zum Teufel gejagt zu werden. Es kommt alles darauf an, daß der Mißhandelte widerruft oder sich wenigstens nicht mehr genau erinnert, was ihm widerfahren. Beer Blitzer eilt als Vermittler hin und her. Und wenn es überhaupt möglich, dann ist sicherlich er der Mann, eine solche kleine Vergeßlichkeit zustande zu bringen.

Zuweilen kommt es auch umgekehrt: es liegt jemand im Ghetto daran, daß der Gerichtsadjunkt vergeßlich sei. Wolf Bügeleisen hat dem Husarenleutnant Aladár von Felhossy fünfhundert Gulden geliehen, gegen Wechsel und schriftliches Ehrenwort. Das heißt: fünfhundert mußte Aladár schreiben, die Hälfte bekam er. Und der leichtsinnige Mensch hat den Betrag nur in Ziffern geschrieben. Der Verfallstag kommt heran; er kann den Wechsel nicht einlösen, und das ist schlimm, denn er[101] hat ja sein Ehrenwort verpfändet. Wolf drängt jedoch nicht allzusehr. Aber zwei Monate darauf wird er grimmig: er präsentiert den Wechsel, und da steht: 5000. Der Leutnant flucht und droht mit der Betrugsanzeige, worauf Wolf ruhig erwidert, der Herr Leutnant habe sein Ehrenwort gebrochen, und wenn der Herr Leutnant zu Gericht gehe, so gehe er zum Generalkommando. Aladár kann nicht zahlen; er quittiert den Dienst und macht die Strafanzeige. Die Untersuchung beginnt. Aber Beer Blitzer nimmt sich der Sache an, der Akt bleibt lange liegen. Dann kommt ein Ausgleich zustande: die Untersuchung wird eingestellt ...

Der Herr Graf Alexander Rodzicki hat wieder einmal kein Geld. Das ist ein unangenehmer Zustand, der für den Herrn Grafen nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit hat. Aber noch schlimmer ist, daß ihm niemand mehr etwas borgen will. Das ist just kein Wunder, denn es ist sehr zweifelhaft, ob dem Herrn Grafen noch die gräflichen Knöpfe auf seiner gräflichen Czamara gehören. Eine böse Historie also. Da wird Beer Blitzer gerufen, und er weiß Rat, noch mehr, er weiß Hilfe. Er nimmt einen Wechsel und bringt dreihundert Gulden. Wie er das zustande gebracht? Das ist sein Geheimnis. Und welche Summe auf dem Wechsel verschrieben ist, zu welchen Zinsen sich der Graf verpflichtet? Es ist gleichgiltig, am meisten dem Grafen; er gedenkt weder die Zinsen noch das Kapital zu bezahlen!

Ein schöner, leuchtender Zug des jüdischen Volksgemüts ist die große Barmherzigkeit gegen die Armen. Im Westen, wo dieses Volksgemüt unverbittert ist, wo weder Druck noch ungerechte Unbill es verhärten, wendet sich dies Erbarmen auch Andersgläubigen zu. Im Osten, wo der Christ für das »jüdische Hundsblut« nichts hat als Haß und Hohn, kümmert sich selbstverständlich auch der Jude nur um seinen Glaubensbruder. Redlich und reichlich wird für die Armut gesorgt. Das kleinste Städtchen hat genügende Fonds oder doch Vereinigungen, die nach Kräften beisteuern. Nicht bloß für die Armen ihres Orts! – die eiserne Klammer von außen her hat aus diesen Menschen eine große Familie gemacht. Wer immer, mit genügenden Zeugnissen versehen, in eines dieser Städtchen kommt, geht nicht mit leeren Händen davon. Der eine sammelt die Ausstattung[102] für seine Tochter, der andere Brot für die Familie seines Bruders, der dritte für den Aufbau einer verbrannten Schul, der vierte Subskriptionen für ein gelehrtes Werk, der fünfte will den Rest seiner Tage in Jerusalem beschließen, der sechste sammelt Gaben für ein Siechenhaus – und so weiter, eine Aufzählung wäre unmöglich. Daß sich darunter Unwürdige finden, welche diesen edlen Zug ihres Volkes unbarmherzig ausnützen, ist selbstverständlich. Aber niemand versteht dies besser als Beer Blitzer. Im Verein mit Luiser Wonnenblum hat er eine regelrechte Dokumentenfabrik eingerichtet. Wenn ein Jude dieser Gegend »Schnorrer« werden will, kommt er nach Barnow und holt sich hier unter des Faktors Vermittlung die nötigen Papiere. Die fernen Glaubensgenossen in Posen, Litauen und der Moldau müssen die Leute von Barnow für die gelehrtesten, unglücklichsten, heiratslustigsten Menschen unter der Sonne halten. Jeden Tag rückt ihnen ein Barnower mit einem Werk, einer Tochter, einem Brandunglück auf den Hals.

Das sind nur einige Proben von der Tätigkeit des Faktors, aber sie gestatten einen Schluß auf das übrige. Von dem Wechsel der Zeiten ist dieser Beruf selbstverständlich so abhängig wie kaum ein anderer. Neue Geschäftszweige kommen auf, andere gehen unter. So widmet sich zum Beispiel der moderne Faktor auch der politischen Tätigkeit. Er spielt eine große Rolle bei den Wahlen für die Landes- und Reichsvertretung. Natürlich! er kennt ja alle Welt und ihre Schwächen! Übrigens agitiert er nur nach Prinzipien, er ist ein Mann der Überzeugung; er wirkt nur für jenen Kandidaten, welcher ihn am besten bezahlt. Nie für einen anderen!

Das konnte Beer Blitzer nicht mehr, er war längst tot, als Österreich ein Verfassungsstaat wurde. Aber zu seiner Zeit blühte dafür ein anderer Geschäftszweig, der heute nur noch spärlich betrieben werden kann. Damals war der Faktor noch der privilegierte Bestechungsagent bei der Rekrutierung, der Vermittler zwischen der Bevölkerung und der Assentkommission. Das geht heute viel schwerer, weil die Verhältnisse nicht mehr so korrupt sind wie einst, weil sich die Aufmerksamkeit des Staates diesem Menschenhandel zugewendet hat. Aber ganz wird dieser Unfug erst aufhören, wenn unter dem Einfluß einer[103] milderen Zeit aus den geknechteten Juden des Ostens dereinst selbstbewußte Staatsbürger werden, welche die Segnungen eines freisinnigen Staatswesens genießen und darum auch willig seine Lasten tragen. In jenen Tagen aber, da unser Moschko sein zwanzigstes Jahr erreichte, war Beer Blitzer noch allmächtig. Er hatte es wirklich in der Hand, ob ein Jüngling Soldat werden sollte oder nicht. Darum wurde er zwei Male im Jahre zum sichtbaren Schicksal seiner Mitbürger, im Frühling und im Herbste, wenn die Schwalben kamen und schieden: bei der Rekrutierung und der Nachstellung. Wer sich nicht durch die Matrikelkünste Luisers gesichert oder sein Heil in der Flucht gesucht, mußte wohl oder übel mit dem Faktor über den Preis unterhandeln.

Beer Blitzer war ein dämonisch schlauer Mensch. Er forderte stets viel, sehr viel, aber niemals so viel, daß es der Stellungspflichtige oder dessen reiche Verwandtschaft nicht erschwingen konnte. Auch ließ er mit sich handeln. Im Osten gab und gibt es für keinen Artikel feste Preise. Nicht aus Menschlichkeit legte sich der Faktor diese Mäßigung auf; er tat's, um niemand zur Verzweiflung zu bringen. Denn ein Verzweifelter kann mancherlei tun, zum Beispiel: das ganze Treiben anzeigen, oder er kann genügenden Mut finden, um über den Kopf des Faktor hinweg mit irgendeinem Mitglied der Kommission direkte Verständigung zu suchen. In der Regel wurde man also handelseins. Auch in diesem Handel galten natürlich jene Prinzipien, die jeden kommerziellen Verkehr regeln. Wer ein häufiger Kunde war, also etwa ein Vater, der acht Söhne hatte, wurde billiger bedient als ein Mann, der nur zwei Söhne losbekommen wollte; ein Reicher mußte mehr zahlen als ein Armer; ein Schwächling kam billiger davon als ein Starker, und was solcher selbstverständlichen Rücksichten mehr waren. Die eine Hälfte wurde als Anzahlung gegeben, die andere mußte erst dann beglichen werden, wenn die Gefahr vorbei war.

Diese Geschäfte wurden schon mehrere Monate vor dem verhängnisvollen Tage ins reine gebracht. Dann hatten die Jünglinge und ihre Verwandtschaft nichts weiter zu tun, als mit Zittern und Beben der Entscheidung entgegenzuharren. Daß es eine Sünde sei, was sie hier auf sich geladen, fiel keinem dieser[104] Leute ein. Sie glaubten im Gegenteil, vor Gott und ihrem Gewissen recht zu tun, indem sie ihre Söhne davor bewahrten, Sellner werden und Gottes Gebote übertreten zu müssen. Klaget darum nicht so sehr diese armen Menschen an als vielmehr den Aberglauben, der auf ihnen lastet, und jene Mächte, welche sich zwischen sie und das Licht der Welt stellen!

Jener schmähliche Handel aber wurde im ganzen und großen ehrlich eingehalten. Es kam selten vor, daß sich ein Befreiter weigerte, hinterher die andere Hälfte des vereinbarten Betrags zu bezahlen. Und schier noch seltener kam es vor, daß Beer Blitzer sein Versprechen nicht hielt, daß einer der Leute, die mit ihm einig geworden, dennoch das gefürchtete Gewand anziehen mußte. Beer Blitzer wußte eben, was er versprach. Und was gab diesem Menschen eine solche Macht? Das Geld! Der Faktor kannte die Verhältnisse, die Bedürfnisse, die Schwächen aller Menschen, die ihm wichtig waren. Und er hatte die Kraft, die Schlauheit, die Unbarmherzigkeit, diese Schwächen auszunützen.

Nicht jedes Mitglied der Kommission war bestechlich, es gab sehr ehrliche Leute darunter. Aber einer oder der andere waren leichtsinnig oder in gedrückten Verhältnissen, so daß ihm die Vorschläge des Verführers nicht ungelegen kamen. Auch war es gar nicht nötig, alle Mitglieder ins Vertrauen zu ziehen, es genügte, wenn ein Mann gewonnen war, dem ein Veto zustand. Aber es genügte eben zur Not. Auch kompromittierte dann den Bestochenen sein sonderbares Benehmen in den Augen der übrigen. Darum sorgte Beer Blitzer am liebsten dafür, daß die ganze Kommission bis zum letzten Schreiber herab an der Bestechung teilnahm. War aber dies unmöglich, so suchte er mindestens drei Mitglieder zu gewinnen: einen der Offiziere, einen der Beamten, einen der Ärzte. Am liebsten den Militärarzt. Nicht bloß, weil er einflußreicher war, sondern auch, weil die Zivilärzte, obwohl sie unentgeltlich den Rekrutierungen beiwohnen mußten, weit unzugänglicher waren. Das klingt seltsam, aber es war doch so.

Wir wollen die Männer, die ihr Amt mißbrauchten und sich in die Hand des Faktor gaben, gewiß nicht reinwaschen. Aber drei gewichtige Umstände sprechen für sie und sind geeignet, unser Urteil zu mildern.[105]

Vor allem war die Besoldung dieser Staatsdiener eine sehr kärgliche. Wer Familie hatte, konnte kaum das nötige Brot beschaffen. Denn Galizien war und ist kein billiges Land. Die Lebensmittel freilich sind nicht teuer, aber wer menschenwürdig leben, wer nicht auf all den bescheidenen Komfort verzichten will, dessen Entbehrung dem Gebildeten fast bitterer fällt als der Hunger, gerät auch jetzt noch in herbe Not. Wie erst damals, wo das Gehalt kaum die Hälfte des heutigen betrug!

Zudem gerät man nirgendwo in der Welt leichter in Schulden als in der Landschaft zwischen Weichsel und Dnestr. Denn der Neuling sieht zu, wie jedermann um ihn Schulden macht, und es bedarf keiner Mühe, um ein Darlehen zu erhalten, man trägt es ihm ins Haus. Selbst den Wechsel nimmt man nur eben der Form wegen, um Lebens und Sterbens willen. Aber wehe dem Opfer, wenn es den Wechsel nicht pünktlich einlösen kann! Es folgt ein zweiter, ein dritter – der Betrag verdreifacht sich. Denn nirgendwo ist es schwerer, Schulden abzuschütteln, als eben in selbiger Landschaft.

Was aber endlich die Männer, die ihrer Pflicht vergaßen, hauptsächlich entschuldigen mag, ist die Atmosphäre, welche sie umgab. Alle Welt wußte von diesen Rekrutierungsgeschichten, überall hörte man einzelne Fakta, einzelne Preise nennen. Der traurige Handel wurde so offen diskutiert wie etwa der in Aquavit oder Wolle; niemand hatte ein Wort der Mißbilligung. Ist es da nicht begreiflich, wenn ein Neuling, der zum ersten Male in dieses Treiben hineingezogen wurde, endlich dachte: Was will ich tugendhafter sein als alle Leute um mich her?

Im Gegenteil! Es spricht zugunsten der vielverleumdeten Menschennatur, daß sich noch immer viele Männer fanden, welche selbst unter diesen Umständen jeden Faktor, der zu ihnen kam, die Treppe hinabwarfen. Das waren kleine Unannehmlichkeiten, die Ehren-Blitzer weiter nicht drückten. Auch das gehört zum Geschäft, dachte er. Hie und da bildete wohl auch ein solcher Hinauswurf nur das erste Stadium der Verhandlung, und ein Resultat kam doch zustande. Im allgemeinen konnte der Mann mit den Ergebnissen seiner regelmäßigen Orientierungsfahrten in die Kreisstadt zufrieden sein. Denn nachdem er die Geschäfte in Barnow abgewickelt, die Listen[106] geschlossen, die Beträge in Empfang genommen, pflegte er sich an den Sitz der Behörde zu begeben, um zunächst die Zusammensetzung der Assentierungskommission zu erkunden und dann seinen Rundgang zu beginnen. Wohl wurden seine Taschen dabei bedeutend leichter, aber es blieb genug darin übrig.

Nun begann er den dritten Akt seiner Tätigkeit. Es war dies die Organisation, die Verteilung der Rollen, richtiger: der »Krankheiten« und »Fehler«. Ehren-Blitzer war ein erfinderischer Kopf. Aber dennoch kostete es ihm oft viel Mühe, bis er für einen gesunden, zwanzigjährigen Lümmel die entsprechende Krankheit herausgefunden. Wenn einer ein wenig schielte oder schwach gebaut war oder keinen genügend gewölbten Brustkasten hatte, da war freilich die Sache leicht. Aber trotz des Schmutzes und der Dumpfigkeit des Ghetto, trotz der unnatürlichen Erziehungsweise und der frühen Heiraten gediehen doch noch immer einzelne Exemplare in der Gemeinde, denen selbst Beer Blitzer schwer einen »Fehler« andichten konnte. Wenn sich nichts Glaubwürdiges entdecken ließ, dann mußten zwei Krankheiten als Ultima ratio herhalten. Erstens ein organisches Herzleiden, welches sich in beständigem Herzklopfen äußerte. Diese Rolle brauchte nicht erst einstudiert werden; wenn der Hirsch Rosenblum vor der Kommission stand, dann klopfte ihm gewiß auch ohne Vorbereitung das Herz zum Zerspringen. Zweitens Krampfadern. Die mußten freilich erst am Morgen der Assentierung blau angemalt werden; obwohl sonst den bildenden Künsten fremd, besaß Beer Blitzer doch speziell in diesem Zweige der Malerei eine hohe Fertigkeit.

Auch unser junger, armer, betrübter Riese Moschko hätte wohl angemalt werden müssen, wenn – ja wenn überhaupt jemand auch seinetwillen mit dem Faktor abgeschlossen hätte! Doch war dies nicht geschehen, aus verschiedenen Gründen.

Er selbst hatte kaum daran gedacht. Denn während des Winters war er ja so glücklich gewesen, daß er darüber die ganze Welt vergaß, im Frühling aber, als der Meister starb und die Kasia ihm ihr Geständnis ins Ohr flüsterte, da war er wieder so unglücklich geworden, daß ihm die ganze Welt, Beer Blitzer und die hohe Kommission nicht ausgenommen, gleichfalls sehr gleichgiltig war. Er erinnerte sich der Gefahr erst dann, als er[107] zur Losung erscheinen mußte. Es war dies eine Art behördlich autorisierter Lotterie, welche mehrere Wochen vor dem Assenttage im Gemeindehause veranstaltet wurde. Da thronten der Bürgermeister, der Gemeindeschreiber und der Abgesandte der Bezirksbehörde würdevoll um einen Tisch, auf welchem ein Säckchen stand, welches ebenso viele Nummern enthielt, als es Stellungspflichtige gab. Truppweise wurden die Jünglinge eingelassen, und jeder zog, nachdem er das Säckchen kräftig geschüttelt und entweder ein Kreuz darüber geschlagen oder eine hebräische Bannformel gesprochen, eine Nummer heraus, welche die Reihenfolge seines Erscheinens vor der Rekrutierungskommission bestimmte. Da jährlich nur ein bestimmtes Kontingent ausgehoben wurde, so war die Nummer um so günstiger, je höher sie war. Erst als Moschko die Hand in jenes Säckchen steckte und unter den kleinen Papierrollen wühlte, ergriff und rüttelte ihn die Angst. Denn nun, wo er sich in einen anderen Beruf eingelebt, »bei welchem man auch starke Menschen braucht«, nun bangte ihm vor dem Soldatenrock, nicht aus Feigheit, sondern aus richtiger Einsicht. Und obgleich nun von der Gefahr bedroht, brotlos zu werden, und wegen des Unglücks seiner Kasia im tiefsten Jammer, war er doch eine viel zu tüchtige Natur, um sich das zweifarbige Tuch als Rettung aus all den Nöten zu wünschen. Nachdem er lange unschlüssig im Säckchen gekramt, zog er eine der Rollen hervor und überreichte sie dem Gemeindeschreiber.

»Vierhundertzwölf!« las Luiser Wonnenblum. »Bursche, du hast Glück! Du bist der drittletzte!«

Erfreut ging der junge Schmied von dannen und machte sich nun über die Sache keine weiteren Sorgen. Er hatte ja deren ohnehin genug.

Aber ein anderer hörte nicht auf, für ihn zu fürchten und zu sorgen und, soweit dem guten Menschen die schwache Kraft reichte, zu handeln. Das war sein philosophischer Freund, Herr Itzig Türkischgelb. Und eines Tages, da er sich in einem Ausnahmszustande befand und völlig nüchtern war, befiel ihn die Sorge so stark, daß er sich sofort zu einer rettenden Tat entschloß. »Er ist zwar nur ein Schmied«, sagte er und blickte dabei starr zu Boden, soweit ihm dies möglich war, das heißt, auf sein[108] Bäuchlein herab, »nur ein Schmied, und eine Geschichte mit einer Goje hat er wahrscheinlich auch, und gegen das taube Rosele aus Chorostkow hat er sich auch nicht schön benommen, aber, ich kann mir nicht helfen, lieb hab ich ihn doch! Und wenn ich ihn nicht liebhätte, so bleibt er doch ein Mensch und bleibt doch ein Jud und soll kein Sellner werden. Da muß etwas geschehen. Noch heute!« Nachdem er so sein Herz gestählt, begab er sich zunächst zu jenem Manne, bei dem er zwar keine besondere Tatkraft, aber doch ein natürliches Interesse für Moschko voraussetzen durfte, zu Abraham Veilchenduft.

Diesem würdigen Manne war seit jenem Tage vor sieben Jahren, an dem wir ihm zum letzten Male begegnet, dem Tage, als er den dreizehnten Geburtstag seines Jüngsten in tiefer Rührung gefeiert, so viel Trübes und Schmerzliches begegnet, daß er nachgerade das armseligste und reduzierteste Schneiderlein der Welt geworden war. Und leider nicht dies allein! Er hatte sich im Laufe der Zeiten auch jene bedenkliche Art von Rührungen zur Gewohnheit gemacht und war daher nun auch eines der versoffensten Schneiderlein der Welt. Vielleicht war dies auch nur aus Verzweiflung geschehen. Was sein Haupthandwerk betrifft, so war er in währendem Zeitenlauf leider so ganz aus der Mode gekommen, daß man ihm nicht einmal mehr die Rettung siecher Kaftane und Stiefelhosen anvertraute. Für seine zwei anderen Gewerbe, das Wachen bei den Toten und die Krankenpflege, war ihm in dem jungen, rüstigen Totengräber des Ortes ein siegreicher Konkurrent erstanden. Sein viertes Gewerbe, die Schulklopferei, hatte er selbst aufgeben müssen, weil seine Kräfte hiefür nicht mehr ausreichten. Und so hatte er sich allmählich ausschließlich seinem fünften Gewerbe zugewendet, dem Betteln. Er wäre dabei samt seinem Weibe verhungert, wenn nicht die Kinder nach Kräften für ihn gesorgt hätten. Freilich waren auch sie nicht auf Rosen gebettet. Seine drei Töchter waren verheiratet, wie denn überhaupt in Podolien jedes Mädchen heiratet, sei's auch so unpassend, daß die Ehe sofort wieder getrennt werden muß, nur um der Schmach und Sünde zu entgehen, unvermählt geblieben zu sein. Die drei Frauen lebten mit ihren Ehegatten im Frieden, aber keine hatte ein Glück gemacht wie ihre Tante, die dicke Golde Hellstein,[109] vielleicht weil keine so dick war. Die armen Mägde hatten arme Knechte geheiratet und lebten in großem Elend. Auch den Söhnen ging es nicht sonderlich. Der Erstgeborene, Manasse, ein Schneider wie der Vater und »besonders geschickt im Zuschneiden«, vermochte leider seine Talente nicht zur Geltung zu bringen; auch er kam nicht in Mode, und nach wie vor blieb Selig Diamant, das Juwel aus Buczacz, der Schneider der Elegants der Barnower Judenschaft. Auch »golden Mendele«, der zweite, war gar nicht mehr so golden wie früher; sein Schwiegervater war arm geworden, aber sein Weib hielt ihn deshalb doch grimmiglich unter dem Pantoffel. Und was schließlich unseren Moschko betrifft, so war alles andere eher bei ihm zu holen als Geld.

Als daher Türkischgelb sich aufmachte, dem Ex-Schulklopfer einen Besuch abzustatten und die Befreiung seines Schützlings durch Loskauf anzuregen, da war er sich wohl bewußt, daß hier höchstens guter Rat zu haben sei, aber sicherlich kein barer Heller. Er traf den Alten auf dem Bänkchen vor seiner Hütte, wo er gar trübselig saß und sich von der Sonne bescheinen ließ. Gerührt war er gerade nicht, aber darum doppelt grämlich.

»Recht habt Ihr, daß Ihr so sitzt«, begann der Marschallik. »Wir beide haben es nötig, ausdrücklich zu probieren, ob wir wirklich noch wert sind, daß uns die Sonn bescheint.«

Nach dieser höflichen Einleitung teilte er ihm den Zweck seines Besuches mit, worauf Abraham erwiderte, er habe nichts dagegen, wenn jemand seinen Sohn befreien wolle, im Gegenteil, er werde diesen Wohltäter segnen, aber das sei auch alles, was er dazu tun könne.

Türkischgelb schüttelte den Kopf. »Es hängt doch nur von Beer Faktor ab«, sagte er. »Und bei dem kann man nicht mit Segen bezahlen. So eine Münze kennt er gar nicht.«

»Probieren wir es«, sagte Abraham. »Oder wißt Ihr was, gehen wir in die Schenke, vielleicht fällt uns da was ein.«

»Da fallen höchstens wir selbst ein!« erwiderte der Marschallik. »Morsch genug sind wir beide. Nein! Nein! Man muß mit Beer deutsch reden, das heißt –« Er machte die Bewegung des Geldzählens.

»Vielleicht tut er es diesmal um Gottes willen!«[110]

»Um Gottes willen?« meinte der Marschallik. »Nein! gewiß nicht, das wär auch eine Spekulation, die sich ihm gar nicht auszahlen möcht. Er ist ein so großer Sünder, daß ihn Gott gewiß für das siebenunddreißigste der Gehennim (Höllenräume) bestimmt hat. Wenn er eine gute Tat verrichtet, so begnadigt ihn Gott doch höchstens nur zum sechsunddreißigsten der Gehennim. Und das ist schließlich ein so kleiner Unterschied, daß ich's ihm nicht verargen kann, wenn ihm ein paar Zehner lieber sind.«

»Aber woher das Geld nehmen?«

»Nun, wer hat denn das Geld für Euere beiden anderen Söhne gegeben?«

»Für Mendele sein Schwiegervater. Wie, wenn wir Mosche schnell verloben würden?«

»Nein! Nein!« wehrte der Marschallik ab. Er hatte in dem Punkte seine Erfahrungen. »Aber wer hat für Manasse gezahlt?«

»Meine Schwester Golde. Aber jetzt gibt sie nichts mehr her. Wenn es auf sie ankäm, könnt ich verhungern und verdursten.«

»Diesmal muß sie doch dran!« rief der Marschallik. »Kommt, das ist die einzige Rettung.«

»Aber sie hat gedroht, mich hinauszuwerfen!«

»Das tut nichts«, sagte der Marschallik. »Wenn man um Gottes willen hinausgeworfen wird, so tut es gar nicht weh!«

Und die beiden Greise begaben sich zu der dicken Frau. Veilchenduft weinte, Türkischgelb lachte, Veilchenduft bestürmte durch Rührung, Türkischgelb durch Scherz das Herz der reichen Frau. Sie widerstand lange, ergab sich jedoch endlich diesen vereinten Bemühungen. »Wenn Beer Blitzer herkommt«, versprach sie, »und wenn er mir keinen teueren Preis macht, so will ich sehen, was sich tun läßt.«

Dankend entfernte sich Türkischgelb, suchte den Faktor auf und brachte ihn zu der dicken Frau. Ehren-Blitzer war in großer Verlegenheit, welchen Preis er stellen sollte. Der Bursche war stark, also zweihundert Gulden. Aber er hatte das letzte Los gezogen, also zwanzig Gulden. Der Bursche war auch sehr arm, also zehn Gulden. Aber er hatte eine reiche Tante, also fünfzig Gulden. Und dabei blieb es, und alles Feilschen brachte ihn nicht davon ab.[111]

Das wollte Frau Golde nicht bezahlen, und so blieb alles in der Schwebe. Freilich nahm sie sich vor, die Sache bald in Ordnung zu bringen. Aber der Tag der Assentierung kam heran, ohne daß Beer Blitzer das Geld erhalten hätte. Und Beer Blitzer handelte nur gegen bar ...

Quelle:
Rütten & Loening, Berlin, 1984, S. 94-112.
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