Im Jahre 1805

Es war eine ansehnliche Kreisstadt im Flachland der schlesischen Oder, in der Mitte ein weiter Marktplatz, der Ring, darauf das Rathaus. Von den Ecken des Marktes liefen vier Hauptstraßen zu den beiden Toren. Seit dem letzten Brande standen die Häuser unter neuem Ziegeldach, schön rosa, blau und gelb getüncht, die meisten hatten freilich nur ein Erdgeschoß, doch viele auch ein Stockwerk darüber, wenige aber zwei Stock, und diese wurden als merkwürdig gezeigt. Das Ganze war von einer Mauer umgeben, über welcher noch die Tortürme ragten; alles hübsch regelmäßig, wie von einem klugen Riesenknaben aus seinem Baukasten aufgesetzt. Außerhalb der Stadt zogen sich Scheunen und Ställe der Vorstädte weit hinein in die Ackerflur, auf der viele Bürger der Stadt schweren Weizen erbauten. Es war eine alte Stadt, einst eine Festung deutscher Kolonisten gegen fremdes Volk, und mancher wilde Kriegssturm hatte um ihre Mauern getobt. Aber das war lange her, die Mauern waren brüchig geworden, in dem trockenen Wallgraben breiteten sich Obstbäume, und die Gänse des Stadtkämmerers weideten darunter, die Bürger aber lebten unbekümmert um ihre alte Kriegsherrlichkeit und wußten auch nichts davon. Ihre Erinnerung an frühere Zustände begann mit dem Schwedenkriege, sogar dieser war undeutlich geworden, denn die Konfessionen der Stadt verkehrten in brüderlicher Eintracht, die Gebildeten meinten, daß aller Glaubenshader abgetan und in ihrer aufgeklärten Zeit unmöglich sei, die Frauen hörten am liebsten, wenn ihre Pfarrer von der christlichen Liebe predigten, und die geistlichen Herren saßen beim Glase Ungarwein gern einander gegenüber. Wenn sich die Stadt einmal von vergangener Zeit erzählte, so begann und endete ihre Geschichte mit dem Alten Fritz, der die Provinz für seinen Staat erobert hatte. Die älteren Leute berühmten sich, daß sie ihn persönlich gekannt hatten, und in den meisten Wohnstuben hing sein Bild.

In den Mauern der Stadt walteten unumschränkt die guten Geister der Ordnung und Stille, nur am Abend des Wochenmarktes schrie zu weilen ein trunkenes Bäuerlein. Jedermann ging am Sonntag früh auf seinen Platz in der Kirche und nachmittags in den[1175] neuen Kaffeegarten, um sich dort ebenfalls hinzusetzen, und das Hauptfest im Jahre war das Königschießen. Außerdem erschien zur Freude der Jugend zuweilen ein mürrisches Kamel mit seinem Affen und zwei Bären oder ein Seiltänzer mit kleinen Kunstpferden, sehr selten ein Trupp Komödianten, den die Polizei ungern sah, weil er immer Schulden hinterließ. Die Honoratioren besuchten im Winter die Vorstellung eines fremden Künstlers, der die Flöte blies und deklamierte oder ein Schattenspiel zeigte; doch auch neue musikalische Erfindungen wurden aufgeführt: die Glasharmonika, wobei dem Stadtdirektor seine eigene Frau ohnmächtig wurde, oder eine Äolsharfe, welche der Verfertiger am Stadtwalde in abgestecktem Raume aufhing. Dieser Genuß war sehr ergreifend, nur trug er dem Manne nichts ein, weil die Leute den Geistergesang am liebsten von fern vernehmen wollten. Unleugbar war fast alles in der Stadt mäßig und bescheiden, auch der Wohlstand war nicht übergroß, aber die Bürger gediehen doch und merkten, daß sie vorwärtskamen trotz der Mißernten in den letzten Jahren. Ihr schlesisches Geld, Böhmen und Gröschel, war schwärzlich; es war auch weniger wert als das Kurant, aber die Bürger nahmen es willig und wurden, wenn sie es ausgaben, gern lustig. Jeder wußte so ziemlich, was der andere besaß, und einige Kaufleute und Fabrikanten galten für reich, ja einer von ihnen sollte die Absicht haben, in seiner Fabrik eine Dampfmaschine aufzustellen.

Großer Luxus wurde in der Stadt nur im Winter sichtbar, wenn die adligen Gutsherren des Kreises im Gasthofe ihr Kränzchen abhielten und untereinander einen Ball veranstalteten. Dafür wurde der Fußboden des Saals und die Treppe sorgfältig mit Wasser und Bürste behandelt, was sonst nicht häufig geschah, und alle Öllampen des Kronleuchters wurden angezündet. Die Edelleute kamen in geschlossenen Kutschen, manche mit silbernem Pferdegeschirr, und die vornehmsten hatten Läufer in bunter Tracht mit einer großen geflochtenen Lederpeitsche als Bandelier. Dann tanzten die Herrschaften vergnügt miteinander, die Damen trugen Ballkleider aus der Residenz, und die Herren schlüpften in eine Nebenstube, um Pharao zu spielen; und wer von dem kleinen Stadtvolk neugierig war, stand auf der Straße und sah zu den erleuchteten Fenstern auf.

Natürlich war ein verständiger Bürger oft unzufrieden mit den königlichen Behörden, welche seine Stadt und das Land regierten, sich in alles mischten und auch da, wo sie das Beste wollten, herrisch und ungeschickt schalteten; noch häufiger ärgerte er sich über die Garnison, über Roheit der Soldaten und Ungezogenheiten der Offiziere, und wenn vor der Hauptwache das Signal zum Gassenlaufen gegeben wurde, verbot er seinen Kindern und Dienstboten zuzusehen. Er wunderte sich auch über den Lauf der Welt, denn er hatte die ganze Französische Revolution erlebt, wie man dort vor kurzer Zeit[1176] König und Adel in größter Eile umgebracht hatte, und wie jetzt plötzlich ein neuer Kaiser aufgeschossen war. Aber obgleich eine unruhige und kriegerische Zeit gekommen war, in welcher vieles Alte zusammenbrach, das geschah weit draußen, und man unterhielt sich gleichmütig davon, wie von fremden Dingen; denn die Provinz lag abseits in Sicherheit, und das polnische Wesen in der Nähe war zwar übel beleumdet, jedoch nicht mehr zu fürchten.

Und wenn einer von den Bürgern auf rauhen Wegen in seiner alten Kalesche oder in dem unförmlichen Holzwagen der Post nach der Hauptstadt der Provinz fuhr, so fand er dort alles in größerem Maßstab und reichlicher als daheim, doch im Grunde war es nur ein Unterschied in der Größe; er besuchte ebenfalls als Hauptvergnügen den Kaffeegarten, welcher am Abend durch viele bunte Lampen illuminiert wurde, er saß in dem gewölbten Ratskeller und stand im Parterre des Theaters und erzählte nach überstandener Reise vergnügt, daß es in der großen Stadt immer etwas Neues gebe: eine Menagerie, einen Luftballon. Aber im übrigen lebte die Hauptstadt fast ebenso still dahin, wie das ganze Land, höchstens, daß die Schneidergesellen einmal Revolte machten, weil die hohe Obrigkeit sich gar zu einfältig gegen sie benahm.

Heute war Sonntag. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel warm in die reingefegten Gassen, und von beiden Pfarrtürmen läuteten die Glocken. Die Stadt aber befand sich in einem Zustande stiller Aufmerksamkeit und Beobachtung. Denn der neue Arzt war angekommen. »Ein junger, angenehmer Mann«, sagte die Gastwirtin zu ihrer Nachbarin, der Bäckersfrau, »lang von Gestalt und von ernsthaftem Wesen, sein Name steht im Fremdenbuch als Doktor Ernst König. Er hat schöne Wäsche, so stickt hier niemand die Hemden.« Die Bäckerin deutete dasselbe ihren Kunden an, und die Milchfrau trug es weiter; bis endlich der Friseur den Fremden beobachtete und die Neuigkeit zu allgemeiner Kenntnis brachte. Ja, es war nicht zu leugnen, der Doktor sah ansehnlich aus in rundem Biberhut und zierlichen Stulpstiefeln, auch trug er keinen Zopf mehr, sondern das helle Haar halblang, und das Gekräusel dabei war ein natürliches. Das wußte der Friseur genau, denn er traf den Fremden bei seinem besten Kunden, dem königlichen Zoll- und Akziseeinnehmer Köhler, als er diesem den Zopf flocht. Und er sah den beiden Herren bekümmert nach, wie sich diese zu ungewöhnlicher Zeit promenierend nach dem Stadttor bewegten.

»Dort liegt das Riesengebirge«, erklärte der Einnehmer seinem Gast und wies zwischen den Linden des Stadtwalles auf die blauen Berge in der Ferne. »Aber Riesen wohnen nicht mehr in den Tälern, sondern arme Weber, welche wenig zu tun haben, seit der französische Kriegstrubel den Kaufleuten die Wege unsicher macht. Und was Sie in der Mitte sehen, ist die Schneekoppe.«[1177]

Der Doktor wandte sich freudig der Richtung zu: »Ich habe vor Jahren dort oben gestanden und den Sonnenaufgang erlebt. Er war unbeschreiblich schön und erhob mir die Seele. Als über den Nebeln der Erde das goldene Tagesgestirn heraufstieg, kam es mir vor wie die Gottheit selbst, welche in dem Chaos unter ihr blühendes Leben schafft. Glücklich ist der Mensch, welchem Gelegenheit wurde, ein Bild solcher erhabener Größe in seiner Seele zu bewahren.«

Der Einnehmer drückte seinem Gaste die Hand. »Ich freue mich, daß Ihr Gemüt offen ist für die Reize der Natur, darin gleichen Sie ganz dem seligen Kriegsrat, Ihrem lieben Vater. Sind Sie auch auf unseren alten Burgen herumgeklettert?


›Dort, wo wildverschlungene Ranken sich

Über Uhunester schwarz verbreiten‹,


wie Matthison so schön sagt, obgleich mir wahrscheinlich ist, daß er sich bei den Nestern nicht den eigentlichen Uhu, sondern vielmehr die Fledermaus gedacht hat.« Er unterbrach sich selbst. »Von dieser Seite sehen Sie durch das Stadttor bis auf den Markt.«

»Ich habe mich über das gute und saubere Steinpflaster gefreut.« –

»An Steinen fehlt es unserer Gegend nicht«, versetzte der Einnehmer, »auch nicht an Besenbindern, welche ihren Edelleuten die Birkenreiser aus dem Walde stehlen. Nun, Sie werden unsere Herren und das Landvolk zur Genüge kennenlernen.«

»Ich bin ja selbst ein Landeskind«, sagte der junge Arzt, »und mein Beruf macht es mir leicht, mit vornehm und gering fertig zu werden. Jetzt freilich, da ich aus der Fremde heimgekommen bin, sehe ich, daß man hier in manchem zurückgeblieben ist.«

»Still!« warnte der Einnehmer, »wir sind in starkem Fortschritt, und wer uns das leugnet, mag sich hüten. Es gibt hier und da Leute, welche Bücher über uns schreiben; diese sind uns durchaus verhaßt, ich hoffe, Sie gehören nicht zu der Zunft.« Der Gast verneinte. »Im Vertrauen, wir fühlen uns in unserer Haut gar nicht wohl, aber wir können nicht leiden, daß andere uns das zu verstehen geben. Wenn Sie einmal unzufrieden mit dem hiesigen Wesen sind, so schelten Sie nur immer gegen mich, man wird Ihnen sagen, daß an mir nichts zu verderben ist, und ich hoffe, Ihr lieber Vater hat Ihnen auch gesagt, daß ich ein zuverlässiger Freund bin.« Er schüttelte dem Doktor die Hand. »Dennoch wundert mich, daß Sie, dem ich über sein gutes Aussehen keine Artigkeit sagen will, an diesem kleinen Ort niedersitzen.«

»Ich folge dem Wunsche meines Vaters, und mir selbst liegt daran, sobald als möglich eine feste Tätigkeit zu erhalten.«

»Sie waren längere Zeit in der Fremde?«

»Ich wurde als junger Arzt von meinem Professor dem kranken[1178] Prinzen Georg zum Begleiter empfohlen und lebte einige Jahre mit ihm auf Reisen, zuletzt in Paris, wo ich Zutritt zu den Hospitälern gewann.«

Der Einnehmer stand erstaunt still: »In Paris?« rief er, »Sie sind ein Wundermann, und es kann Ihnen gar nicht fehlen. In Paris! Eine lebhafte Stadt, etwas unbändig. Die Straßen sind dort ja wohl mit Köpfen gepflastert, welche die Kleinen den Großen abgeschlagen haben.«

»Jetzt ist gute Ordnung dort«, antwortete der Gast, »und die Polizei strenger als bei uns.« »Natürlich«, versetzte Herr Köhler, »der große Musikus dort versteht es, alle Welt nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Ich sage Ihnen, Ihr Glück unter uns ist gemacht, jedermann schüttelt sich, wenn von Paris die Rede ist, aber jedermann will davon hören.«

Er zog seine silberne Uhr heraus. »Kommen Sie, der Gottesdienst ist zu Ende, wir treffen die Honoratioren jetzt in der Frühstücksstube beieinander; dort werde ich Sie einführen. Auch der Wein ist gut.«

Sie traten in die Weinstube, dort trafen sie die Vornehmen der Stadt an drei runden Tischen versammelt, an dem einen die Offiziere der Garnison, bei ihnen den adligen Stadtdirektor und mehrere Herren vom Landadel, am zweiten die königlichen Offizianten, am dritten Kaufleute und Fabrikanten, den Kämmerer und Apotheker. Herr Köhler stellte den Gast vor und führte zum zweiten Tisch. Alle Augen beobachteten die neue Erscheinung. Der Einnehmer aber deutete leise seinen Vertrauten an, wie es um den Gast stehe, daß er von Paris komme und mit dem Kaiser Napoleon auf der Straße vielfach zusammengetroffen sei. So wurde der Doktor bald Mittelpunkt einer lebhaften Unterhaltung, nur die Offiziere am Herrentisch zeigten eine gesuchte Nichtachtung, sprachen laut und verächtlich von dem revolutionären Wesen und von einem Abenteurer, der durch unerhörtes Glück heraufgekommen sei.

»Ob der Friede dauern wird«, fragte jemand vom dritten Tisch, »bis unser Bündnis mit Österreich und Rußland geschlossen ist?«

»Wir gehören einem so großen Staate an, daß wir nicht nötig haben, von fremder Hilfe unser Heil zu erwarten«, antwortete vom ersten Tisch gewichtig der Stadtdirektor.

»Wir sind so groß geworden«, bestätigte der Einnehmer, »daß niemand mehr recht sagen kann, wo unsere Grenzen sind. Sie werden jedes Jahr geändert. Wie man erzählt, aus Gefälligkeit gegen den Kaiser Napoleon.«

Eine Pause entstand. »Er ist ein Korse«, rief verächtlich der Reiterleutnant Baron Hille, welcher aus einer nahen Garnison herzugeritten war.

»Ohne Zweifel«, bestätigte der Einnehmer. »Ob dieser Mann[1179] aber als Korse, als Franke oder als Gallier nichtsnutziger ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich hörte jede dieser drei Eigenschaften an ihm tadeln. Vielleicht würde der Herr Baron uns sagen, weshalb man der Insel Korsika nichts Gutes zutrauen darf.«

»Der Kerl und sein republikanisches Gesindel werden laufen, wenn sie von preußischen Husaren attackiert werden«, rief der aufgeregte Leutnant wieder. Ein beifälliges Summen der Offiziere bestätigte die Worte. Auch die vom Zivil nickten mit dem Kopfe.

»Der Kaiser trägt hohe Stiefeln«, sagte der Einnehmer, »die mögen ihn wohl bisher am Laufen gehindert haben. Denn diese Eigenschaft hat er noch nicht sehen lassen; wenn er es ja einmal versuchte, ist er noch immer vorwärts gekommen.«

Wieder Stillschweigen. »Tun Sie, als wären die drüben nicht da«, sagte der Einnehmer leise zum Doktor, »Sie müssen Ihnen zuerst guten Tag sagen.« Das geschah auch. Nach einiger Zeit, als der Fremde gerade einmal von seinem Sitz aufgestanden war, erhob sich ein kleiner Herr in zimtfarbigem Rocke und blendend weißer Wäsche, trat zu dem Doktor, gab sich als Kammerherrn von Bellerwitz zu erkennen und leitete das Gespräch mit den Worten ein, daß er den Vater des Herrn Doktors wohl gekannt habe.

Auf dem Markte erscholl rauher Anruf und Tritte. Mehrere der Anwesenden eilten an das Fenster. »Sie bringen ihn!« sagte der Stadtdirektor zu dem Kammerherrn.

Ein schlanker Bursch wankte, den Oberkörper vorgeneigt, zwischen bewaffneten Führern, an dem entblößten Haupte hatte er eine Hiebwunde, das geronnene Blut klebte in den Haaren und entstellte ihm das Gesicht. Vor dem Hause des Weinkaufmanns stand ein Brunnen, der Gefangene schrie mit heiserer Stimme: »Wasser!«, und als die Wächter ihn fortstoßen wollten, warf er sich auf die Steine. Vergebens mühten sich die Männer, ihn in die Höhe zu bringen. Mit dem Stadtdirektor eilte der Doktor auf die Straße, holte Besteck und Verbandzeug aus der Tasche und erbat Erlaubnis, dem Manne die blutende Wunde zu verbinden. Die Frau des Weinkaufmanns trug mitleidig ein Handbecken herzu, und als der Verwundete auf die Schwelle des Hauses geschleift war, reichte ihm der Arzt einen Trunk, wusch und verband die Wunde und sprach ihm tröstend zu. Der Verwundete sah den Hilfreichen dankend an, erhob sich nach einer Weile schweigend und wurde auf Befehl des Direktors vorläufig in das Stadtgefängnis geführt.

In der Weinstube sagte der Direktor: »Der Mensch ist Untertan des Grafen und wird dort durch die Karbatsche von seiner Störrigkeit geheilt werden.«

Der Doktor fragte mit Teilnahme: »Was hat er verbrochen?«

»Er wollte ein Mädchen aus dem Dorfe des Grafen heiraten, welches untertänig ist wie er, und da das Mädchen hübsch und sauber[1180] war, weigerte ihm der Inspektor die Ehe und bestimmte das Mädchen zum Dienst auf dem Hofe, wo sie ihre drei Jahre aushalten soll. Darüber geriet der Bursche außer sich, vergriff sich tätlich an dem Inspektor und entsprang.«

»Der Graf soll den Kerl zu meiner Kompanie geben, bei uns werden ihm die Mucken ausgetrieben«, begann der Kapitän von Buskow, der die Garnison befehligte, ein hagerer Mann mit harten Zügen, dem man wohl ansah, daß er die Fuchtel zu gebrauchen wußte.

»Was wird jetzt mit dem Unglücklichen geschehen?« fragte der Doktor.

»Er wird morgen dem Grafen ausgeliefert werden«, antwortete der Stadtdirektor, »und hat von seinem Inspektor keine nachsichtige Behandlung zu erwarten.«

»Wie ist es möglich, daß er in die Hände desselben Mannes geliefert wird, den er beleidigt hat?« fragte der Doktor. »Ist er schuldig, sich an dem Gutsbeamten vergriffen zu haben, so gehört der Fall doch wohl vor das königliche Gericht.«

»Der Inspektor übt die Polizei auf den Gütern des Grafen, und der Graf hat die Gerichtsbarkeit über seine Dorfleute«, belehrte der Stadtdirektor, »in Kriminalfällen hat der Inspektor erst dem Gericht Anzeige zu machen.«

»Und wenn er den Burschen vorher halbtot schlagen läßt, wie Sie selbst annahmen? Oder wenn er ihn auf andere Weise im Ortsgefängnis mißhandelt, was wird dann geschehen?«

Der Stadtdirektor zuckte schweigend die Achseln und ging an seinen Tisch.

Da verließ den Doktor die Vorsicht, und er sagte nachdrücklich: »Zustände, welche dergleichen möglich machen, sind tyrannisch und im schreienden Widerspruch gegen die Gebote der Humanität.«

»Sansculotte«, murmelte der Reiterleutnant halblaut.

Das Behagen in der Stube war gestört, die Herren verhandelten in leisem Gespräche, vom dritten Tisch ersuchten einige der Herren den Einnehmer, sie mit dem Gaste bekanntzumachen, und der Fabrikant drückte diesem kräftig die Hand und sprach seine Freude darüber aus, daß er sich in der Stadt niederlassen wolle.

Als der Doktor mit seinem Vertrauten auf den Markt trat, begann der Einnehmer: »Die drei Tische, welche Sie heut gesehen haben, finden Sie bei uns überall. Die am ersten Tisch schwadronieren wie der Baron, oder sie drücken lächelnd die Hände wie der Kammerherr, der zweite Tisch versieht die Plackerarbeit des Staates und fügt sich, und der dritte denkt still auf seinen Vorteil und verzieht den Mund über die beiden anderen. Das übrige Volk aber sitzt stumm auf der Bank oder der bloßen Erde. Übrigens wünsche ich Ihnen Glück zu Ihrem Eintritt bei uns.«[1181]

»Ich fürchte, nicht bei allen eine günstige Meinung erweckt zu haben«, antwortete der Doktor, »ich habe Ihre Warnung von vorhin nicht beherzigt.«

»Das ist wahr, aber Sie waren stolz und menschenfreundlich. Sie werden im ganzen Kreise als Revolutionär herumgetragen werden, und jedermann wird begierig sein, Sie kennenzulernen, am meisten unser Adel. Da Sie keinen Talar tragen, der mit Hieroglyphen bedruckt ist, was freilich das Wirksamste wäre, so ist schon etwas wert, daß Sie sich durch abenteuerliche Ideen von den hiesigen Menschen unterscheiden. Kommen Sie, heut sind Sie mein Gast auf ein Gericht Gerngesehen.«

In seiner Wohnung ging der Einnehmer zum Schreibtisch und holte eine seltsam gestaltete goldene Berlocke heraus. »Wissen Sie, was das ist?«

»Es stellt eine Guillotine vor.«

»Richtig! Ich habe sie vor zwölf Jahren dem Kammerherrn abgekauft, der damals noch jung war und sie wohlgefällig an der Uhr trug. Ich hebe sie auf und erinnere ihn zuweilen daran, was ihm unlieb ist. Es hat Stunden gegeben, mein junger Freund«, fuhr er ernster fort, »wo der königliche Einnehmer Köhler hier unter dem Bilde des Alten Fritz die Ansicht hatte, daß ein solches Hackebrett auch anderswo als bei den Franzosen gute Dienste tun würde gegen unerträglichen Hochmut und ein vornehmes Schmarotzertum ohne Kraft und ohne Ehre, welches bei uns alles verdirbt. Trotz alledem sind die, welche wir hier im Kreise haben, noch lange nicht die Schlechtesten. Wer als Rabe geboren ist, von dem kann man nicht verlangen, daß er wie eine Lerche singen soll. Heute habe ich Lust, Ihnen die Berlocke zu schenken.«

»Tun Sie das nicht!« bat der Gast.

»Dann hebe ich sie für den Kammerherrn auf«, entschied der Einnehmer. »Und jetzt denken wir daran, daß Essen und Trinken zu den unvergänglichen Freuden des irdischen Daseins gehört. Ich habe einen Menescher Ausbruch im Keller, an dem Sie Freude haben werden.«

Nach dem Essen ging der Arzt in das Gefängnis, was ihm der Direktor während des Verbandes bewilligt hatte. Er fand den Burschen, dem die Arme von den Fesseln befreit waren, finster auf dem Schemel sitzen. Als er ihm die Wunde besorgt hatte und einige ermutigende Worte sagte, faßte der Gefangene plötzlich seine Hand, und die Tränen stürzten ihm über die bleichen Wangen. »Der liebe Gott bezahle Ihnen, daß Sie so freundlich gegen mich sind. Ich hätte den Inspektor nicht verprügelt, wenn er nicht meinem Mädchen schon lange nachstellte. Jetzt nimmt er sie auf seinen Hof, und was sie dort aus ihr machen –« Er ballte die Faust und murmelte: »Es wird ein Unglück.« »Erzählt mir von Eurem Mädchen«, sagte der[1182] Arzt, »ich bin hier zwar fremd, vielleicht kann ich Euch doch in etwas helfen.« Da begann der Bursch sein Mädchen zu rühmen und wurde darüber wieder weich. »Denkt auch, wie Ihr Euer Schicksal zum Besseren wendet«, mahnte der Doktor, »habt Ihr nicht jemand, der bei dem Grafen für Euch sprechen kann?«

Der Gefangene schüttelte den Kopf und sah unwillkürlich auf ein Fenster seines Arrestes, welches in die Stadtmauer gebrochen war: »Der Inspektor soll mich nicht einsperren.«

»Kann ich noch etwas für Euch tun?« fragte der Arzt.

»Ich habe meine Mütze verloren«, sagte der Gefangene finster. »Die Landjäger haben mich durchsucht und meinen Geldbeutel genommen, in dem einige Groschen waren, da kann ich nicht einmal zu einer Mütze kommen.«

Der Doktor legte etwas Geld auf das Fensterbrett und verließ das Gefängnis.

Von dem Gefangenen ging er nach dem Gasthof und fragte, ob der Kammerherr noch in der Stadt sei. – Der Wagen war bereits vorgefahren, doch wurde er von dem Bedienten gemeldet und angenommen. Er erklärte seinen Eintritt mit dem Wunsche, einem Herrn, der sich seines Vaters freundlich erinnere, sogleich seinen Besuch zu machen, und begann nach kurzem Gespräch: »Ich habe soeben dem Gefangenen den nötigen ärztlichen Beistand geleistet, der junge Mann ist in verzweifelter Stimmung, und die Sache kann weitere Folgen haben.« Und er erzählte von der Eifersucht des Burschen. »Es war bereits davon die Rede«, sagte der Kammerherr unbehaglich, »und der Mensch ist leider im Kreise nicht unbekannt, er gilt für einen guten Musikus und war zur Kirmeszeit und sonst in den Dörfern eine beliebte und auch gefürchtete Person; ich traue ihm wohl zu, daß er neues Ärgernis bereitet.«

»Vielleicht könnte dies vermieden werden, wenn die Braut des Mannes nicht in den gefürchteten Hofdienst treten müßte.«

»Das ist nicht zu verhindern«, erklärte der Kammerherr bestimmt.

»Durch Ihr Fürwort«, sagte der Arzt bittend. Der Kammerherr sah ihn erstaunt über diese Zumutung an.

»Die Ansprüche, welche an das Mädchen gemacht werden, stehen im Widerspruch zu allem, was man Kultur und Zeitgeist nennt, und eine gewisse Unzufriedenheit im Publikum äußert sich gern in Privatbriefen und Pasquillen. Der Graf selbst wird vielleicht ein Interesse daran finden, daß der Vorfall nicht nach der Residenz getragen wird.«

»Wenn er nicht ein näheres Interesse hat, die Person im Dienst zu behalten«, fuhr dem Kammerherrn heraus. Er sah den Doktor mißtrauisch an.

Doch dieser fuhr beharrlich fort: »Ich habe den warmen Wunsch,[1183] mir in dieser Gegend Wohlwollen zu erwerben, und ich glaube dasselbe dadurch zu verdienen, daß ich ein Unglück verhüten helfe. Dies würde hier der Fall sein, wenn sich ein anderer anständiger Dienst für das Mädchen fände.«

»Sie haben nicht ganz unrecht«, gab der Kammerherr zu, der recht gut wußte, daß an höchster Stelle nichts widerwärtiger war als ungünstiges Geräusch im Volke und der Vorwurf der Inhumanität. Und er bedachte, daß der dreiste Fremdling vor ihm vielleicht selbst solchen Vorwurf irgendwo erheben könnte. Deshalb fuhr er fort: »Wie ich höre, waren Sie in Gesellschaft des Prinzen auf Reisen, stehen Sie mit dem Herrn noch in irgendwelcher Verbindung?« »Er hat mir erlaubt, ihm zu schreiben«, sagte der Doktor, sich erhebend.

»Ich freue mich ausnehmend unserer Bekanntschaft«, schloß der Kammerherr sehr artig. »Und was jene Affäre betrifft, ich treffe noch heut mit dem Grafen zusammen, vielleicht finde ich Gelegenheit, ein gutes Wort einzulegen. Kommen Sie in die Nähe meines Hofes, so versteht sich von selbst, daß Sie nicht vorbeifahren.«

Als es Abend wurde, stand der Doktor in seiner neuen Wohnung. Sie sah aus wie viele andere, vielleicht etwas heller und sauberer; die Dielen von Tannenholz frisch gescheuert, die Wand mit blauer Kalkfarbe gemalt, die Möbel bis auf eine alte verschnörkelte Kommode geradlinig, hager, ohne jeden unnützen Schwung. In der Stube und auf dem Lande verkündeten bereits die Eingeborenen, jeder nach seiner Weise, das Lob des Gastes. Der Baron von der Reiterei schalt ihn einen frechen Bürgerlichen, den man schon ducken werde, der Kammerherr sagte daheim: »Er ist dreist, aber er ist ein geistreicher Kopf«, die Gastwirtin lobte den artigen Dank, mit dem er von ihr geschieden war, der Fabrikant erklärte seiner Frau: »Zu dem könnte ich Vertrauen haben«; sogar ein armer Flüchtling gedachte in dieser Stunde des Fremden, während er mit blutenden Händen das Gitter seines Kerkers aus den Steinen brach, und der Einnehmer sagte, vor seinem Schrank die Bände von Jean Paul liebevoll betrachtend: »Endlich eine Seele mit höherem Schwung, nur den ›Titan‹ versteht er nicht zu schätzen.« Alle Welt beschäftigte sich mit ihm und war bereit, ihn nach ihrer Art hoch zu achten. Mußte man ihn nicht glücklich preisen, wie er so dastand, jung, gutgestaltet, freundlich aufgenommen an einem Ort, wo er überreiche Gelegenheit erhielt, seinen Beruf zu üben, nichts auf seiner Seele, keine Leidenschaft, keine arge Tat, die ihm den Frieden stören konnten. Und doch stand er allein, traurig, mit beschwertem Mut: »Du, mein verklärter Vater, dessen Bild ich in der Seele trage als mein höchstes Gut, oft sagtest du mir, daß das Bewußtsein erfüllter Pflicht das einzige dauerhafte Glück auf Erden bleibt. Aber ich fürchte, fröhlich macht es nicht, und den männlichen Stolz, als ein Herr durch das Leben zu gehen, verleiht es doch nicht. So freudige Menschen, wie ich zuweilen unter den[1184] Fremden gefunden, wie sie der englische Dichter zu schildern weiß, sehe ich hier nirgends. Jeder wandelt mit eng angezogenen Armen seine Straße, damit er nicht anstoße. Viele sind wie Freigelassene, welche sich in ihrem Gemüt noch als Knechte betrachten, die Mehrzahl stöhnt in der Sklaverei. Auch der kräftige Mann erhebt sich einmal über die andern, indem er sie neckt und verspottet, und in der nächsten Stunde ist sein Genuß, alles Irdische als verächtlich zu betrauern und vor einer Graburne zu seufzen. Es ist eine edle Poesie, die uns aus der alltäglichen Wirklichkeit in reinere Luft erheben will, aber traurig, traurig ist es, daß in dem Leben des Tages nichts gefunden wird, was mit Begeisterung erfüllt. Die kraftvolle Hingabe an Schönes und Großes, das in Wirklichkeit unter uns lebt, wird sie den Deutschen jemals kommen, und werden wir in unserm stillen Lande auch einen Anteil daran gewinnen? – Vielleicht langsam, nach harten Kämpfen, in einem späteren, glücklicheren Jahrhundert. Das gelobte Land, welches du, lieber Vater, entbehrtest und das ich nicht erblicke, das werden die Späteren einnehmen. – Ich murre nicht mehr, mein Vater; wie du für mich lebtest, so will ich für das nächste Geschlecht mich hingeben; ich will meine Pflicht tun gegen die anderen, und ich will danach ringen, daß ich dies täglich vermag.« Er setzte sich nieder, faltete Bogen zusammen und zog die Linien zu dem Geheimbuch, das er als Arzt für seine Kranken führen wollte.

Am nächsten Morgen kam die Wirtin des Doktors und erzählte, daß der Gefangene in der Nacht ausgebrochen sei. »Wohin kann er sich geflüchtet haben?« fragte der Doktor den Einnehmer. Dieser wies nach dem Gebirge: »Wahrscheinlich wird er Schmuggler, denn er weiß in der Gegend Bescheid.« Und als der Doktor in der nächsten Woche, einem Briefe des Kammerherrn folgend, auf dessen Gut kam, sah er bei der Hausbedienung ein sauberes Mädchen, welches ihm durch die traurige Miene auffiel. Als er in den Wagen stieg, stand sie hinter dem Bedienten auf den Stufen und betrachtete ihn unverwandt. Auf dem Rücksitz fand er hinter dem Kissen einen kleinen Nelkenstrauß eingeklemmt, und bald erfuhr er, daß die Kammerherrin selbst sich entschlossen hatte, die Braut des Flüchtlings in ihren Dienst zu nehmen.

Quelle:
Gustav Freytag: Die Ahnen. München 1953, S. 1175-1185.
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