2.

[184] Der barmherzige Samariter, oder freund-brüderlicher Rath, allerhand Krankheiten und Gebrechen des menschlichen Leibs, innerlich und äußerlich zu heilen, mit geringen und verachteten Mitteln und Arzneien, die eine lange Zeit daher bewährt erfunden worden, und nunmehr aus schuldiger christlicher Liebe aufrichtig, dem gemeinen verlassenen Mann zum Besten an das Tageslicht gegeben durch Eliam Baynon den jüngern, V.D.M. sammt einem Anhang für die Hebammen, in allen zustoßenden Fällen zu gebrauchen. Ganz neu gedruckt.


Keineswegs so verwerflich, als es auf den ersten oberflächlichen Blick wohl scheinen mögte. Ein alter, ehrlicher, wahrscheinlich schwäbischer oder schweizerischer Arzt, der es herzlich gut mit dem Volke meint, unter dem er eine ausgebreitete Praxis gehabt zu haben scheint, theilt hier seine Erfahrungen, seine Entdeckungen und sogar seine Arcana in einer treuherzigen, gutmüthigen, altväterischen Sprache mit; eine Materia medica, nach den Hilfsmitteln des Volkes eingerichtet, eine Diätetik für das Verhalten bei den verschiedenen Krankheiten, und eine faßliche Pathologie der gewöhnlichen Zufälle, wie sie in den untern Ständen herrschen. Natürlich ist er Humeralpatholog aus der Schule des Hippocrates und Galenus; allein gerade diese Schule ist ihrer durchgängigen Plastizität wegen beynahe einzig auch für die populäre Darstellung geeignet. Gerade das Greifbare an der Krankheit, ihr Leib und ihr äußerer Körper ist's, was der gemeine Mann an ihr begreift,[184] und wenn er belehrt werden soll über sein Verhalten im sündhaften Zustande seines Organismus, dann muß die Sünde ihm nothwendig Fleisch werden, damit er sie erkennen und ausrotten möge. Ich weiß recht gut, was man gegen die Popularisirung der Heilkunde eingewendet hat; aber wer hinter die schönen Worte sieht, der findet nur zu oft die Unlauterkeit verborgen, die sie eingegeben hat. Still und verhüllt, wie die Natur in den Eingeweiden der Erde wirkt, so wirkt sie auch in den Tiefen des menschlichen Körpers, die Menschen und ihr Verstand sind über Beide gleich wenig Meister noch geworden. An der Oberfläche pflügen, säen, graben, ärndten sie, aber das matteste Zucken des großen Körpers, das schwächste Erdbeben, vermag keine Menschenkraft noch zu bändigen. Nach vielen Jahrhunderten des Dünkels und der Hoffart, ist denn auch die Heilkunde bald so weit gekommen, daß sie weiß wie wenig sie vermag, und daß auch im Leben die Natur ihren großen Gang durchgeht, wie die höheren Gestirne es gebieten, unbekümmert um die kleinen Zauberkreise, die Formeln, und alles Prickeln des Verstandes. Es ziemt ihr daher wohl auch, die hohe Sprache gegen die sogenannte quacksalbernde Empirie abzulegen: seitdem die Bücherweisheit Gemeingut geworden ist, kennen wir unsere Schwäche wechselseitig, die vornehme Miene will sich nicht mehr behaupten lassen, wir thun daher wohl, wenn wir leben und leben lassen, eingedenk, daß wir allzumal unsern Besitz als ein höheres Geschenk vorgefunden haben, und daß der, dem der Himmel ein Besseres verliehen, wohl auch außer der Facultät damit wuchern soll. Die Volksempirie in der Medizin, derb und einschneidend wie der Volkswitz, beide gern auf die Saburra sich werfend, sollte daher Gnade finden vor der medizinischen Eleganz der obern Stände. Es ist dabei ein unveräußerliches Recht, nach Willkühr über physisches Wohl und Weh seines eigenen Körpers zu verfügen, und mithin ein gegründeter Anspruch des Volkes, Unterricht zu empfangen, in dem was damit in Beziehung steht, um auch außer der Innung für sich selbst seines Lebens Gang reguliren zu können. Und in neun und neunzig Fällen auf hundert, wird eine Arzney aus dem vorliegenden Buche von einem nur einigermaßen auf sich selbst aufmerksamen Menschen sich verordnet, wenigstens eben so heilsam seyn, als eine Andere von dem Schlendrian der gewöhnlichen Aerzte auf geradewohl hin vorgeschriebene Kunstgerechte. Denn die Heilmittel des Samariters sind meist einfach, und im schlimmsten Falle unschädlich; Kräuter und inländische Gewächse, Hollunderschößlinge statt der Sennesblätter, Mastix, gewürzhafte Kräuter und erweichende; von chemischen Bereitungen allein Spiesglas, heroische Mittel, Gifte selten, und dann nur in kleineren Dosen. Freilich ist auch mitunter mancherlei Unsinns darin, von dem man allerdings das Buch reinigen sollte, obgleich keiner, der sehr gefährlich werden könnte; Menschenkoth und Koth jeder Art, spielt noch in der Materia medica seine Rolle; mancherlei Wunderliches läuft mitunter, z.B. die Sachen, welche das Gesicht stärken, sind mancherlei: als schöne grüne Wiesen und Gärten, grüne Gläser, der Stein Saphir, grüne und blaue Vorhänge und Teppiche, klare Wasser, ein Sack voll Ducaten, die man oft ansteht und zählt; lieblich Frauenzimmer weidet die Augen und stärket sie; Blumen,[185] so blaue Farben haben, daraus man Kränze macht und in Zimmern aufhängt: als Borragen, Augentrost, Rittersporn usw. Aber es ist auch Manches darin enthalten, Arzneien und Handgriffe, die eine ernste Erwägung verdienen, und es dürfte sich eben gerade kein Arzt schämen, einen Blick hineinzuwerfen, wäre es auch nur um Manches, was er über den neuern Theorien vergessen, sich wieder zurückzurufen, und manchen genialen Einfall, womit sich die neuere Heilmittelkrämerei brüstet, dort ganz einfältig und bescheiden unter anderm Unscheinbaren wiederzufinden.

Quelle:
Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher, in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808). Köln 1926, S. 184-186.
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