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[265] Wunderbare Geschichte von der edeln und schönen Melusina, welche eine Tochter des Königes Helmus und ein Meerwunder gewesen ist. Nürnberg.


In der Gestalt der Feen wohnte die Fabel zum Letzten unter den Menschen. Die Feen waren die Cryptogamisten der Oberwelt. Von dem indischen Gebürge Hemakuta, das zwischen den Meeren des Aufgangs und Niedergangs im Glanze der Morgen- und Abendsonne den goldnen Gürtel bildet, kamen sie herüber, gleich Vögeln eines fremden Himmels nach Europa, und herrschten durch den Aether; großer Kräfte und vielfachen Zaubers Meister; irdische Gestirne, die im Lufthimmel leben; der Erde Nervengeister, die durch die gewaltige Masse auf- und niederschweben, und, Regenten der Naturorgane, sie nach höheren Zwecken lenken und regieren; denen die Materie nicht undurchdringlich ist, deren Fuß die Schwere nicht fesseln mag, und die auf ihrer Bahn die Finsterniß nicht irrt. Die colossale Phantasie der Zeit hatte sie wie ein warmer Sommerhauch den Frühling hervorgelockt: da aber wendeten die Zeiten sich in sich selber, der Verstand gieng auf und trieb sie in Stein und Erd zurück, und in den Körpern gebannt schlafen die Gemüther wieder, und kalt, aber hell und leuchtend rollt die Materie durch den Raum, weil der Geist in ihr erwacht, und der Gefühle Leben allein im Innersten kocht und treibt. Auf den Mai der Weltgeschichte ist ein heller, kalter Wintertag gefolgt; die Wasser liegen in magnetischer Erstarrung an den Bergen nieder; das Leben ist unter die Erde gegangen, dunkel glimmt es nur noch im verborgnen Samen, der erstarrt im Boden liegt; die Pulse stocken, es geht nur ein leiser Athem aus der Erde, der nicht mehr den Himmel trübt. Die vergangene Zeit ist zum Mährchen geworden, und der Blumenduft niedergeschlagen zu Essenzen, die sie in ihren Büchern als Parfüm bewahren. Aber glorreich wandelt der Geist wie Eisblink in den Schneefluren, und beflügelt gleitet er auf dem Eisspiegel um die Erde hin; er athmet frei und tief und keck, und ihm ist wohl, wie ihn das innere Treiben dahin schnellt, und wohl in seinem raschen Muthe, und durstig nach der Weite, und unersättlich trinkt er die Ferne ein. Das ist der Wandel der Zeiten, durch allen Kreislauf aber geht die Ewigkeit pfeilgerade dahin, wo ankommen müssen die eilenden Jahrhunderte.

Die Melusine ist, soviel man weiß, das erste Feengedicht, und unter Allen das am meisten Verbreitete. Guy Lusignan, der gegen den Anfang des eilften Jahrhunderts um die Zeit, wo Richard Löwenherz den Kreutzzug nach dem[265] heiligen Lande machte, König in Cypern und Jerusalem war, und an Saladin seine Hauptstadt verlohr, war der Sohn dieser Fee. Sie selbst war Tochter Elinas Königs von Albanien und der Fee Pressine; Raimondin, Sohn des Grafen von Forêt ward ihr Gatte, und sie bauten das Schloß Lusineem (Anagramm von Melusine) und wurden Gründer eines mächtigen Hauses, und zählten Könige und Herzoge unter ihren Söhnen. Bis auf die Zeiten der Catharina von Medicis giengen die Sagen von der Fee in der Gegend um; nach Brantomes Bericht erzählte das Volk von dieser Königin, wie man sie oft an der Quelle baden sähe, in Gestalt eines schönen Weibes in Wittwenkleidern. Andere berichteten, wie sie Samstags um die Vesperzeit, aber selten, weil sie sich da nicht gern sehen lasse, badend halb als schönes Weib, halb als Schlange erscheine; noch Andere, wie sie bisweilen auf einem hohen Thurm sich zeige in schöner Gestalt und auch oft als Schlange. So oft ein großes Unglück dem Königreich bevorstehe, oder ihren Nachkommen, wollte man sie gleichfalls drei Tage vorher ein scharfes, furchtbares Geschrei ausstoßen gehört haben. Alle diese Sagen hatte die Familie seit langen Zeiten schon gesammelt, und in ihren Archiven niedergelegt, und daraus hatte Jean d'Arras das Gedicht in Versen um 1387 gebildet, das 1500 zuerst in Fol. Paris gedruckt wurde, 1584 revidirt in 4, nachher in Prosa aufgelöst und modernisirt, und von dieser Umarbeitung von Nodot ist dann das Volksbuch aus gegangen.

Quelle:
Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher, in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808). Köln 1926, S. 265-266.
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