An eben dem vorigen Feste

[309] Evangel. Luc. XII. v. 35. etc.


Text


Umgürthet euch, steckt Lichter an

Und steht auf muntern Füßen

Wie Menschen, die auf ihren Herrn

Bey Nachtzeit warthen müßen,

Damit sie, wenn er kommt und klopft,

Ihm schlechten Eingang machen.

Wohl solchen Knechten, die dem Herrn

Bis zu der Rückkunft wachen!


Er komme zeitig oder spät,

So wird er sie ergözen

Und vor dergleichen treuen Dienst

An volle Tafeln sezen.

Glaubt aber, wüst ein guter Wirth

Die Stunde frecher Diebe,

Daß er vorwahr mit Knecht und Licht

Im Zimmer wachsam bliebe.


Und darum seyd auch ihr bereit,

Zu wachen und zu bethen,

Und scheut euch, einen Augenblick

Von eurem Post zu treten.

Die Stunde, da des Menschen Sohn

Bald zum Gericht erscheinet,

Kan leicht dieselbe Stunde seyn,

Die ihr am mindsten meinet.


Lehre


Wir sehn schon in der lezten Zeit

Den Abend aller Sachen

Und haben desto größern Grund,

Als Christen fromm zu wachen.[310]

Der Tag des Herrn wird als ein Dieb

Bey später Stunde kommen,

Wer faul ist, wird mit Bliz und Schlag

Erschröcklich angenommen.


Auf, Sünder, der du tödtlich schläfst,

Auf, wecke Geist und Sinnen!

Der lezte Wächter warthet schon

Dort auf der Wolcken Zinnen,

Der kräftige Trompetenschall

Wird unverhoft erklingen

Und alle Todten in der Welt

An Luft und Leben bringen.


Mit was vor Regung denckstu denn,

Den Richter anzuschauen?

Mit Zagheit oder Zuversicht,

Mit Jauchzen oder Grauen?

Die Thorheit singt das Rabenlied

Und säumt sich selbst zum Schaden:

Thu bald, was ewig helfen soll!

Heut ist die Zeit der Gnaden.[311]

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 3, Leipzig 1934.
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