5

[85] Schon zeitig am Morgen fingen die Herren wieder zu schießen an. Siegwart von Hundswieben, Gesicht und Hände wie von Ruß geschwärzt, glich einem Betrunkenen in seiner Freude an diesem Gedonner und Rauchgewoge, das über die Firste des Stiftes emporwirbelte, als wäre die klösterliche Stätte verwandelt in eine kriegerische Brandstatt. Der Übermut des jungen Hundswieben steckte die andern Domizellaren, sogar die älterem Chorherren an. Nicht minder lustig waren die neugierigen[85] Leute, die sich auf der Straße um die Mauer des Hirschgrabens drängten und das Zugucken nicht satt bekamen. Ein paar Furchtsame rannten freilich erschrocken davon, als der junge Hundswieben Belagerung spielen wollte und die mit einer kinderkopfgroßen Steinkugel geladene Kammerbüchse gegen die Straßenmauer richtete. Ein banger Schrei der vielen Menschen, ein Rückwärtsweichen und Auseinanderfluten. Dann läutete die Annasusanne – wie Hundswieben sein bedenkliches Spielzeug getauft hatte – ein Pulverblitz, ein Krach, eine kreisende Rauchwolke, ein Gekoller von Steinbrocken, und mitten in dem alten grauen Gemäuer konnte man plötzlich ein rundes Auge des blauen Himmels gewahren. Wie durch ein Wunder war der gefährliche Scherz ohne böse Folgen abgelaufen. Und als die Leute das merkten, fingen sie gleich wieder vergnügt zu schwatzen an. Ein Kreischen wie beim Schembartlaufen erhob sich, als Hundswieben und die andern Domizellaren die Bresche unter fröhlichem Kriegsgeschrei erstürmten, in den Schwärm des Volkes eindrangen und zwei junge hübsche Mädchen haschten, die sie als Siegesbeute mit sich herunterrissen in den Graben. Die eine, die immer lachen mußte und dennoch Zetermordio schrie, wurde rittlings auf das heiße Büchsenrohr gesetzt. Dabei lud man die Annasusanne wieder. Auf der Straße gab's ein johlendes Gebrüll, als die langgestielte Rohrbürste so hurtig ein und aus fuhr. Ganz närrisch lachten die Leute, als die Herren den Pulverdampf eines blinden Schusses dem andern Mädel unter das aufgehobene Röcklein fahren ließen. Dem entsetzten Opfer dieses Scherzes pfurrten die dicken Rauchfäden aus Hemdärmeln und Kittelschlitz heraus.

Ein paar von den Leuten gingen freilich mit zornrotem Gesicht davon. Immer gibt es Dummköpfe, die keinen Spaß verstehen. Wenigstens war der junge Hundswieben dieser Meinung.

Neben dem Scherz und Übermut der Herren schien in dieser knallenden Pulverstunde auch eine ernste Sache zu spielen. Lampert Someiner tauchte mit verstörtem Gesicht aus dem Hof des Stiftes heraus. Er lief, daß ihm die Menschen auf der Straße verwundert nachsahen. In den Flur des elterlichen Hauses stürmend, schrie er den Namen des Stallknechtes. Und weil sich der Knecht nicht sehen ließ, sprang Lampert selbst in den Stall und sattelte in Hast den Moorle.

Für einen Ritt war Lampert nicht gekleidet. Er kam von einer Reverenzvisite bei seinem fürstlichen Herrn und trug ein kostbares Hofkleid, mit einem zierlichen Dolch am Gürtel. Von seiner[86] Mardermütze hing rückwärts eine goldfarbene Seidenschärpe herunter und schwang sich unter dem linken Arme bis zur Brust.

Mit diesem feinen Kleide stapfte Lampert aufgeregt im Dünger des Stalles umher. Er fluchte, als der Pongauer beim Zäumen nicht gleich die Zähne auseinandertat. Schon im Hofe schwang sich Lampert auf den Gaul hinauf und ließ ihn über das Holzpflaster des Flures hinauspoltern auf die Straße.

Die Tür der Amtsstube wurde aufgerissen, und Herr Someiner erschien, mit dem Gänsefähnlein hinter dem Ohr. »Was soll denn das, Bub? Was willst du?«

Lampert war schon draußen im Licht, und nur der lange, buschige Schweif des Moorle wehte dem Amtmann noch eine unverständliche Antwort zu.

Jagende Schritte, ein stammelnder Laut. Und aus dem dunklen Treppenschachte fuhr die weiße Frau Marianne heraus. »Ruppert! Das ist doch der Bub gewesen?«

»Mir scheint –«

Die beiden rannten auf die Straße hinaus. Dem Amtmann stieg das Blut zu Kopf, und ein deutliches Unbehagen redete aus seinen verdutzten Augen. Frau Marianne rief mit schriller Stimme: »Lampert! Lampert!« Aber der Reiter, der den Moorle trotz des löcherigen Pflasters zum Jagen zwang, verschwand schon um die Wende der Marktgasse. »Lampert!« klang noch ein drittes. Mal der schrille, angstvolle Ruf.

Ein Gewirr von Stimmen quoll vom Hirschgraben her. Die fleißige Annasusanne brüllte wieder, und während das Echo des Schusses über die in Sonne flimmernden Berge hinrollte, grub sich in das Herz der Frau Marianne eine bange Muttersorge, von der sie durch fünfzehn Monate nimmer erlöst werden sollte.

Auf den Moorle, der an den letzten Häusern von Berchtesgaden schon vorbei war, hatte das Gebrüll der Kammerbüchse wie ein Peitschenschlag gewirkt. Der Rappe hämmerte mit den Hufen, daß eine wehende Staubwolke um ihn herum war. Roß und Reiter wurden grau. Nur die wehende Schärpe behielt noch ihre Farbe und war hinter dem Reiter vom Luftzug des jagenden Rittes zu einem Halbreif ausgebogen, wie der goldene Henkel hinter einem silbernen Krug.

Dann schlug auf der hochliegenden Straße der Wind um und wehte den aufgewirbelten Staub vor dem jagenden Rosse her. Lampert, ganz eingehüllt in dieses dampfende Grau, sah nimmer auf zehn Schotte weit. Ein Hornruf, den er plötzlich hörte, verriet[87] ihm, wie weit er in der Stunde dieses hetzenden Rittes schon gekommen: bis zum Burgstall am Gwöhr, einem Innenwerke der Befestigungen, mit denen der Hallturm die Berchtesgadnische Grenze gegen Reichenhall und das Landshutische Bayern schützte.

Den Pongauer parierend, schüttelte Lampen den Staub vom Gesicht und streifte ihn von den Augenlidern. Und als die graue Wolke davondampfte, stieg aus ihrem Schleier ein wundervolles Bild heraus. Keine Burg. Nur eine Mauthalle, ein kleiner Turm und ein schlechtes Haus hinter grob geschichtetem Gemäuer. Aber die Sonne vergoldete das alles, und hinter dem leuchtenden Schlößlein glänzte der Sammet hundertjähriger Wälder und die träumende Ferne der ins Blau gehobenen Berge.

Ein paar Söldner, deren Waffen in der Sonne blitzten, guckten aus den Scharten des Turmes herunter und erkannten den jungen Someiner.

Er schrie hinauf: »Sind acht von den unseren da vorbeigekommen?«

»Wohl, Herr, die sind über den Saurüssel aufgestiegen, ein Stündl mag's her sein.«

»Die muß ich einholen!«

Noch eine kleine Strecke ging der Ritt auf der Straße hin. Nun klomm der Rappe über das steile Gehäng einer Wiesenschlucht hinunter und drüben wieder hinauf, er keuchte, immer steiler ging es bergan, auf groben Wegen, durch Bachschluchten und dichten Hochwald. Auf einer ebenen Höhe mußte Lambert den Gaul rasten lassen. Und der Reiter, dessen Blicke immer suchten, sah hoch droben über dem Bergwald die acht Pfändleute auf steiler Windbruchfläche hinaufklettern gegen den Hängmooser Paß, zwei, die ihre Rosse führten, zwei unberittene Spießknechte und vier Troßbuben.

Lampert tat einen Schrei, der ihm die Stimme zerriß.

Die acht da droben hörten nicht, der Lärm ihres Marsches über das dürre Astwerk erstickte jeden Laut der Tiefe. Sie stiegen höher und hoher. Jetzt kamen sie zu dem grasigen Paßweg.

Die beiden Reiter konnten wieder aufsitzen, und so zogen die acht in den von Sonnenlichtern durchfunkelten Wald hinein.

Marimpfel, der die Wege seiner Heimat kannte, ritt voraus. Plötzlich verhielt er den Gaul, hob sich im Sattel und spähte in den Wald. Rannte da nicht ein Bauernbub?

»Halt!« brüllte Marimpfel.

Doch der Bub hetzte durch den Wald hinunter gegen die[88] Hängmooser Schlucht und suchte Wege, wo kein Reiter ihm folgen konnte. Jetzt sah er einen grünen Fleck der Alm. Wie ein blinkender Erzwürfel lag die Hütte in der Mittagssonne. Taumelnd klammerte sich der Bub an einen Baum und schickte einen gellenden Schrei zur Hütte hinauf – und wieder einen – wieder einen. Dann rannte er in die Schlucht hinunter, dem Taubenseer Karrenweg entgegen. Von den Gratwänden kam ein vielfaches Echo der gellenden Schreie. Es klang, als säßen rings um die Alm herum die Hüterbuben dutzendweise, und als kreischte jeder von ihnen einen Jauchzer in die schöne, friedliche Sonne.

Jula stand vor der Hütte. Noch immer war sie des Glaubens gewesen: Die Pfändleute kommen nicht, das ist Unrecht, und das dürfen sie nicht tun!

Nun hörte sie den Buben schreien. Und wie Trauer war es in ihrem Blick, als sie hinunterspähte gegen den Wald und dann hinübersah zu dem von Sonne glitzernden Sumpfgewässer und zu der kleinen, grünschopfigen Insel, von der sie einen Sattel auf sicheren Boden getragen hatte.

»Komm«, sagte sie zum Jungknecht Heiner, den ihr der Vater am Morgen heraufgeschickt hatte, »wir treiben die Küh zum Käser her, daß sich das Unrecht nimmer plagen muß.« Sie zog die Schuhe an und knüpfte mit zitternden Händen die Riemen.

Heiner fluchte und schalt. In seinem Zorn wider die Herren schlug er mit dem Stecken auch auf die Kühe los.

»Tu nit so grob! Das Vieh kann nit dafür, daß die Menschenleut nit anders sind.«

Jetzt waren die siebzehn Kühe bei der Hütte und brüllten, weil sie die wunderliche Sache nicht verstanden. Heiner mußte springen, wehren und treiben, um die Tiere beisammen zu halten.

Den Bruder hatte Jula schon früh am Vormittag hinübergeschickt zur Leite, auf der die zwiesömmerigen Kalben weideten. Zwischen der Leite und dem Käser lag ein Waldstreif von Erlen, Birken und hohen Krüppelföhren. Wer hinter diesen Stauden saß, konnte nimmer sehen, was bei der Hütte geschah. Drum war's ein guter Platz für den Jakob. Und sein totes Ohr, das noch nie einen Laut der Liebe vernommen hatte, konnte auch nicht die Stimmen des Unrechts hören, das da geschehen sollte.

In der Hütte schlang Jula einen Riemen um die kleine Kupferschüssel, die neben dem Herdfeuer stand und das Mahl für den Bruder enthielt. Brot und Löffel gab sie in die Schürze, die sie am Bund ihres Rockes aufsteckte. Mit dem Eisenzagel schob sie[89] auf dem Herd die halbverbrannten Scheite auseinander, die noch ein bißchen flackerten, und bedeckte die glühenden Strünke mit Asche. Solang es den Herren nicht gefiel, durfte von Stund an auf diesem siegelwidrigen Herde kein Feuer mehr brennen.

Jula trat in die Sonne hinaus, um dem Jakob sein Mahl hinüberzutragen auf die Leite. So hatte sie sich's am Morgen ausgedacht, damit der Bruder nicht merken sollte, daß etwas geschah, was wider die Ordnung war.

»Jetzt tu Verstand haben!« sagte sie zu Heiner, dem das Gesicht von Zorn und Plage brannte. »Und mach alles in Ruh, wie's der Vater haben will.« In Sorge warf sie einen Blick über die kleine, zusammengetriebene Herde der siebzehn Kühe hin, die sich unter Gebrüll und Schellengerassel aneinanderdrängten. Julas Augen wurden feucht. Wortlos ging sie davon.

Heiner mußte springen, um die Tiere beisammen zu halten, die der Hirtin folgen wollten. Immer lauter wurde das Gebrüll, immer schriller das Schellengerassel.

Als Jula droben bei den Birken war und das Gesicht wandte, sah der Schwärm der Kühe wie ein plumper, bunter Käfer aus, der immer schwirrte und doch nicht fliegen konnte. Und weit da drüben, aus dem Paßwalde hinter dem Bruchboden, kam etwas Langsames herausgekrochen wie ein kribbelndes Spielzeug. Zehn winzige Figürchen. Und manchmal ging von ihnen ein kurzes und feines Blitzen aus wie von einem unruhigen Spiegel, den die Sonne traf. Die acht Männer mit den beiden Pferden umgingen den Bruchboden nach aufwärts. Bei ihnen mußte einer sein, der auf dem Hängmoos die sicheren Wege kannte.

Jula, mit zusammengezogenen Brauen, spähte gegen den Wald hinüber. Sie sah, das waren Spießknechte und Buben. Der andre war nicht dabei – jener, von dem es hart zu glauben war, daß er die Narretei dieser Pfändung aufgeführt hätte.

Die Hirtin wandte sich und folgte einem Viehsteig, der das Gestrüpp durchquerte. Sie kam zur Leite, einem steilen, saftig bewachsenen Grashang, auf dem die Kalben weideten.

Jakob saß im Schatten einer Birke und schnitzte an der fliegenden Schwalbe, die nur weniger Schnitte noch bedurfte, um sich mit gehobenen Schwingen aus dem Holze zu lösen. Er war in seine Arbeit so vertieft, daß er die Schwester erst gewahrte, als sie neben ihm stand. Seine Augen glänzten, und seine Hände redeten.

Während er das Mahl verzehrte, lag Jula neben der Birke, als[90] wäre sie müd und möchte schlafen. Jakob sollte nicht sehen, was in ihrem Gesichte war. Sie hielt die Augen geschlossen und blieb unbeweglich, während sie unter dem Gehämmer ihres Herzens dem Lärm und den Stimmen lauschte, die von der Käserstätte heraufklangen: Schellengerassel und Gebrüll, das Geschrei der Gadnischen Hofleute und einmal die zornig kreischende Stimme des Heiner. Dann hörte Jula, was sie nicht verstand, ein leises Gekicher wie von vielen Mädchen, dann einen dumpfen Krach.

Als da drunten die Knechte zur Erweisung des Herrenrechtes den Firstbalken des Käsers aus den Fugen hoben, fielen die Schindeln zu Hunderten in den Hüttenraum, auf die Bretter der Schlaftruhe, über die Bank hin und auf den Herd, unter dessen Asche noch die Kohlen glommen. Das Geklapper dieser fallenden Schindeln hatte geklungen wie lustiges Gelächter. Und weil die Knechte den schweren Balken nicht über das Dach hinausschwingen konnten, verschoben sie ihn nur und ließen ihn hinunterplumpsen in den Hüttenraum; er schlug die Querbalken entzwei, warf ihre Trümmer gegen den kupfernen Kessel, auf den Herd – und das klang beinahe, als hätte Siegwart von Hundswieben wieder Krieg gespielt mit der Annasusanne, deren Widerhall seit dem Morgen immerzu wie das Schnarchen eines fernen Riesen in den Lüften war.

Jula sann noch immer, woher dieser schwere Krach und dieses hölzerne Gelächter käme. Da hörte sie neben sich einen lallenden Laut, der wie kindliche Freude war. Sich aufrichtend, sah Jula den Bruder an. Jakobs Augen glänzten, während er der Schwester auf flacher Hand die aus dem Holz geschnittene Schwalbe hinhielt. Wohl glich dieser Vogel mehr einem wunderlichen Mittelding zwischen einem dicken Entenküchlein und einer Maus mit flügelgroßen Ohren. Doch für den Jakob war's eine Schwalbe, die fliegen konnte. Und während er immer wieder die Hand mit dem kleinen Schnitzwerk gegen die Sonne schwang, war so viel Freude in seinem häßlichen Runzelgesicht, so viel Glück in seinen Augen, daß auch Jula alle Sorge dieser Stunde vergaß.

Plötzlich entstellte sich ihr Gesicht. Sie sah, während die Stimmen da drunten durcheinanderkreischten, einen dicken Rauch hinter dem Waldstreifen emporsteigen ins Blau. Erschrocken sprang sie auf und sagte mit den Händen: »Bleib! Gleich komm ich, wieder!« Langsam ging sie bis zu den Stauden hinüber. Als sie gedeckt war, fing sie zu springen an und schlug die Zweige aus ihrem Weg. Am Saum des Gehölzes blieb sie stehen, von Schreck[91] gelähmt. Wo ihre Hütte gestanden, sah sie einen schwarzen Klumpen mit gelbglühendem Sparrenwerk, aus dem die Flammen wie hundert rotblaue Nattern in die Sonne züngelten. Und die Kühe, in vier Reihen zu vieren aneinandergekoppelt, liefen mit Schellengerassel gegen den Wald hinunter, von den Troßbuben fortgezerrt, von einem Spießknecht und einem Reiter getrieben. Viele Ochsen standen um die brennende Hütte her und brüllten. Und eine von den Kühen, die sich losgerissen hatte, keuchte gegen das Gehölz herauf. Ein Spießknecht rannte ihr nach, und ein Reiter schwang dem Tier eine Strickschlinge um die Hörner und warf es zu Boden. Die Kuh überschlug sich und kollerte ein Stück des Hanges hinunter. Diese plumpe, zappelnde Walze war so komisch anzusehen, daß die Spießknechte lachen mußten.

Jula, aus ihrer Lähmung erwachend, schrie mit gellender Stimme: »Heiner – Heiner – Heiner –«

Der Knecht gab keine Antwort. Aber Marimpfel, der noch immer die gefangene Kuh am Stricke hielt, guckte auf, schmunzelte wie bei einem lustigen Einfall, sprang aus dem Sattel und sagte zu seinem Gesellen: »Heb die Kuh und den Gaul ein lützel!« Er machte flinke Sprünge gegen das Gehölz, und bei jedem Sprunge rasselte sein Eisenzeug.

Als Jula ihn kommen sah, umklammerte sie einen dürren Ast, der auf der Erde lag, und wich in das Gehölz zurück. Lustig, mit Lauten, wie man die jungen Gänse lockt, sprang Marimpfel der Hirtin nach.

Da klang, weit über den Bruchboden her, der heisere, kaum vernehmliche Schrei einer Männerstimme. Ein grauer Reiter kam aus dem Paßwalde herausgejagt und machte nach aufwärts hin den Umweg um die Sümpfe. Immer schrie er. Doch das Schellengerassel und Gebrüll der Ochsen, das Rauschen der Brandstätte, das Keuchen und die Hufschläge des eignen Gaules verschlangen die heiseren Schreie. Lampert hetzte den vor Müdigkeit stolpernden Pongauer mit Faustschlägen, mit stoßenden Beinen. Und weil ihm der Umweg zu lange währte, suchte er einen kürzeren Weg zur Brandstätte, geriet in eine Zunge des Sumpfes, mußte aus dem Sattel springen, mußte waten und den Moorle zerren. Hinter dem Feuer sah er einen Spießknecht über den Hang hinunterspringen, sah eine Kuh, einen Reiter und einen hopsenden Knecht da drunten im Wald verschwinden – und suchte mit verstörtem Blick und schrie immer wieder: »Jula, Jula, Jula –«[92]

Beim Brunnen – so nah dem Feuer, daß die quälende Hitze zu spüren war – lag der Heiner vor dem Trog auf den Knien, schöpfte Wasser mit beiden Händen und goß es über den gebeugten Kopf. Wo das Wasser aus dem Haar des Buben heraussickerte, war es rot.

Lampert schrie: »Die Hirtin? Wo ist die Hirtin?«

»Ich weiß nit!« sagte der Bub wie einer, der im Rausche taumelt. Und während Lampert die Zügel über den Stock des Brunnens warf und hinübersprang zur Feuerstätte, tauchte Heiner die beiden Hände wieder in den Brunnentrog, aus dem der Pongauer mit gierigen Zügen das rosafarbene Wasser zu schlürfen begann.

Immer den Namen der Hirtin schreiend, irrte Lampert um die brennende Hütte – barköpfig, denn er hatte die Mardermütze verloren – die verstaubte, goldgelbe Schärpe hing ihm von der Brust herunter bis über das Knie.

Da war ihm plötzlich, als hätte er dort oben in dem Waldstreifen einen gellenden Laut vernommen. »Jula?« Wie Freude war's in seinem heiseren Schrei. Und Lampert sprang über das Gehäng hinauf, hörte eine Stimme, in der sich Zärtlichkeit mit Jammer mischte, und warf sich durch die dicken Stauden, daß die Seide seines festlichen, von Staub und Sumpfkot überkrusteten Kleides in Fetzen ging. Er kam zu dem Viehsteig, sah auf dem Boden ein kurzes, gebogenes Messer liegen und sah die Splitter eines aus Holz geschnitzten Vogels, den ein grober Fuß zertreten hatte. Ein paar Schritte noch. Und nun saß vor ihm die Hirtin auf der Erde, mit niedergerissenem Haar, mit dem Gesicht einer Irrsinnigen. Sie hatte den Jakob über dem Schoß liegen, hielt das aschgraue Gesicht des zwerghaften Krüppels zwischen den Händen, rüttelte immer den leblosen Kopf und bettelte in Jammer: »Tu die Augen auf! Tu doch die Augen auf!«

Daß einer gekommen war, das sah sie nicht. Sie merkte erst seine Nähe, als er neben ihr kniete und ihre Hand fassen, den Arm um ihre Schulter legen wollte. Sie blickte auf, wie aus grauenvollen Träumen erwachend. Und als sie den erkannte, der helfen wollte, verzerrte sich ihr Gesicht. Sie machte mit den Armen eine ringende Bewegung, verstört von Zorn und Jammer, schrie mit erwürgter Stimme ein böses Schimpfwort und stieß dem jungen Someiner die Fäuste vor die Brust, daß er taumelte. Den Bruder umklammernd, wollte sie sich aufrichten, fiel zurück auf die Erde und wurde von einem tränenlosen Schreikrampf befallen, der ihren Körper zucken machte.[93]

Lampert wollte sprechen und brachte keinen Laut aus der Kehle. Sein Gesicht war entstellt. Nun beugte er sich zu Jakob nieder, hob diese kleine, entstellte Mißform des Lebens auf seine Arme und konnte mit der heiseren, zerrissenen Stimme nur sagen: »Komm! Ich bring ihn heim.«

Während er mit der leblosen Last hinunterstieg zum Feuer, hörte er immer hinter sich die schluckenden Schreie der Hirtin.

Die Ochsen brüllten nicht mehr. Sie hatten sich an den Anblick der rauchlos gewordenen Flamme gewöhnt. Und manche von ihnen lagen ruhig schon wieder im sonnigen Gras, wiederkäuend, und scheuchten mit der Schwanzquaste die frechen Bremsen fort.

Lampert mußte denken: »Ob Gott auch so ruhig in der Sonne liegt, wenn Menschen morden?«

Beim Brunnen sagte er zu Heiner, der sich einen Fetzen seines Hemdes um den Kopf gebunden hatte und noch immer ein bißchen duselte: »Du mußt mir helfen!«

Sie hoben den Toten in den Sattel, banden ihn mit Riemen und mit Lamperts Schärpe fest, und während jeder von den beiden mit einer Hand den müd schleichenden Pongauer am Zügel führte, stützte er mit der andern Hand den stummen, immer nickenden Reiter, der eine schlechte Haltung hatte.

Jula, mit hängendem Haar und geballten Fäusten, ging hinter dem Pferde her, schluckend im erwürgten Schreikrampf – wie damals vor achtzehn Jahren, als sie mit der Mutter heimgekommen war vom Erdbeerpflücken im Tal des Windbaches.

Ein dumpfes Gepolter.

Die abgebrannten Dachsparren waren in den Hüttenraum hinuntergestürzt. Und weil nun die feuchten Grundbalken zu brennen begannen, qualmte wieder ein dicker Rauch zum Himmel hinauf.

Man sah diese graue Rauchsäule bis weit hinaus ins Tal.

Beim Taubensee, vor dem Schupflehen des Mareiners, stand die Bäuerin auf dem Karrenweg, guckte immer zu diesem wunderlichen Rauch hinauf, schüttelte den Kopf, lief zum Haus hinüber und sagte zu der alten Frau, die in der Sonne saß: »Auf dem Hängmoos droben, da muß was brennen!«

Bekümmert nickte die Mutter. »Steht am Zäunl! Und geht nit herein zu mir!«

Die Bäuerin wurde ärgerlich. Mit der Mutter war kein Reden mehr. Und von den Mannsleuten war keiner daheim. Malimmes hatte schon im Grau des Morgens mit Wehr und Sack das Haus[94] verlassen. Und gegen Mittag war der Bauer davongelaufen. Wenn er auch als höriger Schupfgürtler beim Taiding der Gnotschaft das Maul halten mußte, er wollte doch dabeisein. Und die Sache lohnte sich. Er war da zu einem lustigen Ding gekommen.

In der Ramsau gab's um diese Mittagsstunde ein großes Lachen. Das ging von Malimmes aus, vom ›Bauernsöldner‹, der gepanzert und mit blankgezogenem Bidenhänder hinter seinem ›Herren‹ stand und aus seinem seltsamen Dienstverhältnis eine muntere Sache machte. Die Bauern gaben sich lachend der Wirkung seiner derben Spaße hin, seit sie wußten, daß sie sich nicht zu sorgen brauchten um ihr bedrohtes Ahnrecht.

Der Weidbrief war aufgewiesen vor den spruchbaren Männern der Gnotschaft, war zu Recht befunden und lag nun wieder in der eisernen Brieftruhe des Seppi Ruechsam.

Vor achtundzwanzig Jahren, in einem dürren Vorsommer, der die Wiesen im Tal verbrannte, hatte Propst Kunrad eines Tages beim Taubensee gejagt und eine gute Strecke gemacht. Als da die Bauern, die beim Weidwerk fronen mußten, ihres Fürsten gute Laune sahen, taten sie die Bitte, ihr hungerndes Milchvieh anstatt einer gleichen Ochsenzahl auf das feuchte Hängmoos treiben zu dürfen. Der Herr war gnädig. Beim Heimritt schrieb er in des Albmeisters Haus auf den alten Ochsenbrief die Gestattung für den Käserbau und den ›ewigen‹ Auftrieb der Kühe und drückte seinen Fürstenring in das Bröcklein Wachs, das man von einer geweihten Kerze genommen hatte.

Was ging es da die Ramsauer an, wenn die Gadnischen Hofleute verzettelt hatten, dieses neugeborene Recht auf ihrem Ochsenbrief zu vermerken? Freilich, damals im dreiundneunziger Sommer war zu Berchtesgaden alles drunter und drüber gegangen. Wenige Tage nach der glücklichen Jagd am Taubensee hatte der böse Handel mit den Salzburgern angefangen, die den Propst Kunrad verjagten und das Stift durch elf Jahre als Schuldpfand in der Faust behielten.

Die Ramsauer hatten an ihrem verläßlichen Recht eine Freude, die nicht frei von übermütigem Spott wider die schlampichten Herren war, und Seppi Ruechsam, der allwissende Albmeister – »Was denn sonst?« – guckte bei dem lustigen Geschwätz der andern so ruhig, stolz und zufrieden drein – Malimmes sagte: »Wie Gott-Vater vor dem Sündenfall.«

Und mit den Juden bei der Bergpredigt verglich Malimmes die Spruchbaren und Maultoten der Gnotschaft, die vor dem[95] Hüttenhügel des Seppi Ruedisam herumsaßen, auf Bänken und Stühlchen, auf Baumklötzen und Holzklaftern, auf den Querbalken des Zaunes, im Straßengraben und auf den Steinblöcken am Ufer der Ache. Mit Weibern, Buben, Mädchen und Kindern war's ein hundertköpfiger Schwärm, der als lustiger Riegel die Ramsauer Straße sperrte. Mochten jetzt die Pfändleute mit den siebzehn Kühen nur kommen! Die Straße war mit Menschenköpfen fest vernagelt und der Seppi Ruechsam mit dem guten Recht war da! Was wunder, daß die Ramsauer lachen konnten, als Malimmes wieder die vier Geschichten vom ungefährlichen Hanf erzählen mußte, die seine Gesellen von der Leuthauskumpanei schon herumgetragen hatten, in der ganzen Gnotschaft.

Sobald Malimmes seine Schlittenfahrt auf dem Landshuter Glatteis gemacht und seine Himmelsbotschaft an den Herzog Heinrich wieder ausgerichtet hatte, schrie unter dem Lachen der andern ein alter, langer Kerl, der Hinterseer Fischbauer, der dürr und braun, und runzlig war wie die Saiblinge, die er räucherte: »Paß auf, Malimmes, daß du beim fünften Hänfenen nit mir unter die Händ kommst! Die Strick, die ich dreh für meine Reusen, heben wie eiserne Dräht.«

Malimmes schmunzelte. »Hast du einen da zur Prob?«

»Was ein Fischer ist, muß allweil einen Strick im Sack haben«

»Her damit! Und tu mir den Strick um das kitzlige Zäpfl!«

Es gab ein heiteres Gedränge, als der Fischbauer das kleinfingerdicke Stricklein zur Schlinge machte und dem Malimmes um den Hals warf.

»So, Mensch«, sagte der Söldner, »jetzt zieh! Aber fest!«

Der Fischbauer zog lachend die Schlinge zu, Malimmes machte die Kehle lang und dünn, dann plötzlich blähte er den Hals auf, straffte die Sehnen, daß es aussah, als ginge ihm der Hals von den Ohren schief herunter bis zu den Schultern – und der Strick des Fischbauern knallte entzwei wie eine schlechte Saite.

Ein vergnügtes Gebrüll. Und einer von den Burschen kreischte in Bewunderung: »Herrgott, ist das eine feine Kunst!« Er versuchte gleich unter drolligen Grimassen den Hals zu blähen.

»Ja, Leut, Übung macht den Meister!« sagte Malimmes, der um den Hals eine Linie hatte, fast so rot wie die große Narbe in seinem Gesicht. Und dann fügte er lachend bei: »Jetzt weiß ich aber nit, muß ich den Hänfenen des Fischbauern als fünften zählen oder geht er als Probstückl drein? Ich komm ein lützel aus der Rechnung.«[96]

Mannsleute, Weiber und Kinder – alle probierten dieses nützliche Spiel und plusterten kräftig den Hals auf, wie es Malimmes ihnen vorgemacht hatte. Sie bekamen blaue Gesichter und mußten husten vor Schmerz und Lachen.

Nur einer, der mitten unter diesen Heiteren saß, blieb ernst. Er hatte den weißen Richtmannsstab in der Faust, immer suchten seine Augen, immer schwieg er und lauschte in die Ferne. Nun erhob er sich.

Viele fragten: »Runotter? Was ist?«

Er sagte: »Der Bub, der zum Lugaus hinauf ist in den Paßwald, kommt über die Schwarzecker Wiesen heruntergesprungen.«

Die andern mußten lange spähen, bis sie den Buben sahen. Und dann dauerte es noch eine geraume Weile, bis er über die Straße herkeuchte. Der Bub war so atemlos, daß er nicht reden konnte. Während die hundert schwiegen, als wäre ihnen plötzlich etwas Unbehagliches in die heiteren Seelen gefallen, fragte Runotter: »Hast du meine Kinder gesehen?«

Der Bub schüttelte den Kopf, warf sich auf den Boden hin und preßte die Fäuste auf seine arbeitende Brust.

Viele Stimmen: »Sind die Pfändleut droben?«

Der Bub nickte.

Ein wirrer Lärm, halb ein Reden in Zorn, halb schon wieder Gelächter und Spott über die Herren.

Einer schrie: »Wenn sie die Küh bringen, muß man den Brief aufweisen. Ein Recht in der finsteren Truchen wirkt nit, ein Recht muß im Licht sein.«

Von den Spruchbaren waren viele der gleichen Meinung. Auch Runotter. Aber der Seppi Ruechsam schüttelte den Kopf und wieder sagte er: »Der Amtmann muß zum Seppi Ruechsam seiner Truchen kommen. Was denn sonst? Recht liegt fest. Das muß man nit umtragen wie einen Bettelsack.«

Die Gnotschafter redeten aufgeregt gegen die zähe Weisheit des Albmeisters. Die Kühe müssen doch leiden unter dem weiten Trieb vom Hängmoos bis zum Stift. In ihren Eutern kann sich bei Plag und Hitze die Milch verschlagen. Für solchen Schaden kommen die Herren nicht auf. Warum soll man ein Recht nicht weisen, wenn man's bei der Hand und in der Truhe hat?

Der Seppi Ruechsam arbeitete mit den Ellbogen. »Ich tu's nit, und ich tu's nit. Wenn dem gewächsneten Brief ein Schaden geschieht, geht's aus am Seppi Ruechsam. Was denn sonst?«

Man trat um den Richtmann her zum Ring zusammen, und[97] der Seppi Ruechsam wurde zum erstenmal, seit er Albmeister war, von den Spruchbaren der Gnotschaft überstimmt. Mit einem Gesicht, als hätte er Essig getrunken, stieg er neben dem Ältestmann und mit den fünf Zeugen zu seinem Haus hinauf, um den Weidbrief aus der Truhe zu holen.

Hinter ihm blieb eine quirlende Heiterkeit zurück. Weil man das Recht aufweisen konnte und des verstandsamen Friedens sicher war, konnte man lustige Spottreden machen über den Ochsenkrieg zwischen Bauern und Herren. Ein halbes Stündl noch, und der Schwarzecker – der auf den Fingern pfeifen konnte, daß man's aus dem Ramsauer Tal bis zum Grat des Steinbergs hinaufhörte – würde zur ersten Schlacht trompeten. Und ob Malimmes, der Bauernsoldmann, auch treu und tapfer für die Gnotschaft dreinschlagen würde? Lachend ließ Malimmes den in der Sonne blitzenden Bidenhänder mit sausenden Kreisen um seinen Eisenhut herumwirbeln unter dem lustigen Schlachtgeschrei: »Hie Baurenschaft, hie guter Mist und gutes Recht!« Und als der Bidenhänder wieder senkrecht auf der Erde stand, drängte sich einer von den Burschen, die sich im Winter zur Holdenwehr der Gadnischen Kriegsmacht stellen mußten, an Malimmes heran und bettelte: »Wie, laß mich das Eisen lupfen ein lützel!« Kreischend wichen die Leute zurück, als der Bub sein ungeschicktes Schwertschwingen begann. Mit dem Knauf des Bidenhänders stieß er sich die Nase blutig. Unter dem Gelächter der andern, das Gesicht von Scham und Ärger brennend, gab er dem Kriegsmann das schwere Eisen zurück und schalt: »So ein klobiges Ding! Da kann man doch keine feinen Streiche mit machen!«

»So? Meinst?« Malimmes schmunzelte. »Mit meinem Bidenhänder mach ich feinere Arbeit als wie der römische Bader mit seinem toledanischen Schermesser, wenn er den Papst rasiert.«

Um die lustigen Zweifler zu überweisen, schickte Malimmes einen Buben davon, der in der Kappe ein Dutzend Eier bringen mußte. Unter heiterem Aufruhr der Leute wurde die blonde Leuthausmagd unterwiesen, wie sie die Eier werfen mußte. Malimmes ließ den blitzenden Bidenhänder kreisen; so oft er »Hoppla!« schrie, mußte ein Ei geflogen kommen – und unfehlbar schnitt das sausende Eisen in der Luft jedwedes von diesen kleinen, weißet, flügellosen Vögelchen mitten durchs Herz entzwei. Da gab's ein Staunen und Lachen! Eiweiß und Dotter spritzten nach allen Seiten umher, die Leute flüchteten, wischten[98] und kicherten, einer kreischte: »Heut ist die Ramsau das Gelobte Land, heut regnet's Milch und Honigmus!« – und obwohl ein altes Weiblein über die sündhafte Vergeudung der Gottesgabe zürnte, erhob sich vor dem Hause des Seppi Ruechsam ein Gelächter, nicht minder laut und heiter als vor dem Gadnischen Hirschgarten beim Spiel mit der Annasusanne.

Den Richtmann schien die Heiterkeit der Leute und dieses kriegerische Eierspiel zu quälen. Er sagte: »Geh, Malimmes, treib keinen Unfürm und laß die Gelägerspäß unterwegs! Mir ist nit zumut darnach.« Da kreischten viele Leute: »Die Pfändleut kommen!« Alles drängte lärmend gegen die Straße hin, und Runotter erhob sich von dem Baumstock, auf dem er gesessen. »Malimmes! Geh in des Seppi Ruechsam Haus hinein! Ich mag nit haben, daß es zwischen dir und den Hofleuten spöttische Reden gibt.«

Der Soldmann nickte, als begriffe er die Vernunft dieses Befehles. Er haschte das blonde Mädel und wischte mit ihrer Schürze das Eigelb von der Klinge weg. Lachend den Bidenhänder schulternd, ging er zum Haus des Albmeisters.

Auf der Straße sah man zuerst nichts andres als eine dicke Staubwolke. Sie rückte näher wie ein graues, kopfloses Ungetüm, das keine Füße, nur wehende Hügel hatte und dennoch plump auf der Erde kroch.

Der Lärm der Leute verstummte. In diesem erwartungsvollen Schweigen hörte man beim Rauschen der Ache aus weiter Ferne wieder ein murrendes Echo des Herrenspiels mit der Annasusanne.

Ein paar hundert Schritte vor dem Menschenriegel, der die Straße sperrte, blieb der Trupp der Pfändleute stehen. Die Staubwolke verdampfte, und langsam entschleierte sich in der Sonne des schönen Tages eine farbig ausschauende Sache: die Troßbuben, der buntgefleckte Schwarm der gepfändeten Kühe mit nickenden Köpfen und pendelnden Schweifen, zur Linken ein Spießknecht, einer zur Rechten, hinter dem Trupp ein Reiter, und voraus, auf hochbeinigem Gaul, der lange Marimpfel als vorsichtig spähender Führer. Er wandte sich im Sattel und redete zu seinen Leuten.

Im Menschenriegel, der die Straße sperrte, sagte der magere Fischbauer: »Jetzt hat er dem Melkvieh höfisch eingeredet, daß viel nit fehlen tät und die Kuh wär ein Ochs.«

Mareiner, der sich in der Gnotschaft wichtig machen wollte, schrie über alle Köpfe weg: »Der Hauptmann ist mein Bruder[99] Marimpfel. Da brauchet ihr nit Angst haben. Mit ihm red ich, und alles ist in Ordnung.« Dieser hilfreiche Vorschlag wurde wenig gewürdigt. Eine Männerstimme rief: »Da reißt ein Schupfgütler das Maul auf! Für die Gnotschaft redet, wer spruchbar ist, sonst keiner.« Eine dünne Stimme quiekste: »Auch nit der Mareiner!«

Das Verslein erheiterte die Leute. Doch als Runotter den weißen Richtmannsstab erhob, wurden alle still.

Der Trupp der Pfändleute kam heran. Ein alter Bauer und zwei Bäuerinnen, die ihre Kühe erkannten, wollten gleich mit Locken und Jammern auf die brüllenden Tiere zu. Doch die Fußknechte streckten die langen Spieße vor: »Ist Herrengut!«

Marimpfel parierte den Gaul. Und da wollte Mareiner reden. Aber der Hofmann zog den Fuß aus dem Bügel, schob den Bauer vom Gaul weg und wandte sich an den Richtmann: »Was rotten sich da auf der Straß die Leut zusammen?«

»Die Leut sind friedsam.«

»So?«

»Und ich steh für die Gnotschaft da –«

»Wer bist du denn?«

Ein Geschrei über die ganze Breite der Straße. Runotter blieb ruhig. »Spießknecht? Ob du mich kennen magst oder nit, ist eins. Aber kennst du den weißen Stab nit?«

»Red du so mit deinen Knechten! Ich bin ein Hofmann.« Aus dem Schwärm der Leute klang ein Lachen, das Marimpfel nicht gerne zu hören schien. Er wurde grob. »Kerl! Siehst nit, daß mein Gaul scheuet? Tu deinen Stecken weg!« Er stieß mit dem Fuß, und des Richtmanns weißer Stab bekam einen grauen Streif.

Die hundert Ramsauer begannen in Zorn zu schreien, und eine Stimme schrillte aus dem Häuf: »Wer den weißen Stab schändet, ist ein Lumpenkerl!«

»Leut!« rief Runotter. »Haltet Ruh!« Auch ihm hatte der Zorn die Stirne rot gemacht. Doch während er den Zaum des Gaules faßte, sagte er ruhig: »Hofmann! Du hast den weißen Stab verunehrt, den mir der Fürst gegeben. Ich muß Klag führen gegen dich beim Fürsten und muß dich schuldig sagen.« Hundert Stimmen schrien das ›Schuldig!‹ nach. »Das wird kommen. Jetzt ein ander Ding –«

»Weg frei für meines Herren Recht!« befahl Marimpfel und kitzelte den Gaul, um ihn scheuen zu machen.[100]

Mit eiserner Faust hielt Runotter das bockende Pferd am Zügel. »Deines Herrn Recht ist heut ein Irrtum.«

»Willst du schimpfen auf meinen Herrn?« Marimpfel machte einen Griff, wie um das Eisen zu fassen.

»Das tu ich nit. Ich ehr den Fürsten. Aber tu unser Vieh vom Strick! Die Pfändung ist geschehen wider Recht und Brief. Albmeister Ruechsam! Weis den Weidbrief auf, der geschrieben und gewächsnet ist!«

»Was denn sonst?« Seppi Ruechsam trat heran, hielt das kostbare Pergament mit beiden Händen fest und wollte seine Rede aufsagen. Er begann: »Das tat der Seppi Ruechsam nit –«

Marimpfel ließ den Gaul steigen und schrie in Zorn: »Was Schrift und Wachs! Das geht mich den Teufel an. Mir ist Recht, was mein Herr geboten. Weg frei!«

»Das tät er nit«, redete der Seppi Ruechsam, »aber die Gnotschaft will: Der Seppi Ruechsam muß den Weidbrief weisen. Da ist der Brief! Ist gutes und festes Recht. Ist geschrieben und gewächsnet. Was denn sonst?«

»Brief? Recht?« Marimpfel faßte mit einem groben Griff seiner Faust das Pergament. Gleich bröselte das geweihte Wachs davon. »Das ist ein Wisch für meine Notdurft.« Er hob sich im Sattel und machte mit dem Hängmooser Weidbrief eine symbolische Bewegung.

Ein hundertstimmiger Zornschrei flog über die Straße hin. Und dem Seppi Ruechsam fielen plötzlich siebzig Jahre vom Buckel herunter. Wie ein Zwanzigjähriger in blindem Jähzorn, so sprang er gegen den Reiter hinauf, faßte ihn mit beiden Fäusten an den Eisenplatten der Brust – und rutschte wie ein müder Greis wieder auf die Erde herunter. Hatte Marimpfels Hand einen neuen Irrtum begangen? War einer von den Fußknechten unvorsichtig mit dem Spieß dazwischengefahren? Niemand wußte, wie es gekommen war, daß dem Seppi Ruechsam, der sich jetzt ganz ruhig verhielt, ein dickes Blutbächlein über das braune Runzelgesicht und über die Bartstoppeln herunterfuhr. »So, so?« sagte er in verständiger Besinnung und wollte mit der zitternden Hand das Blut vom Gesichte wischen. »Jetzt geht der Seppi Ruechsam zum deutschen König. Was denn sonst?« Dann fiel er um und war tot.

»Mordio! Mordio!« kreischten die Ramsauer. Sie griffen nach den Messern, rissen Prügel vom Zaun, und die Weiber hoben Steine von der Straße auf, während die Kinder in grillender[101] Angst davonrannten, über die Planken kletterten und durch die Ache patschten. Runotter, mit einer Stimme, die den tobenden Lärm noch übertönte, schrie gegen des Seppi Ruechsam Haus hinüber: »Soldmann! Soldmann!«

Marimpfel sah einen gepanzerten Kriegsknecht mit blitzendem Bidenhänder über den Hügel herunterspringen, schlug seinem Gaul die Sporen in die Weichen und brüllte: »Hofleut! Durch! Die verschimpfen den Fürsten! Die machen Meuterei!«

Wie ein von einem Riesenhammer getriebener Keil, so fuhr der Trupp der Pfändleute mit Reitern, Fußknechten und Troßbuben unter dem Schellengerassel der galoppierenden Kühe in den Schwarm der schreienden Menschen hinein. Der kreischende Hauf wich auseinander und flutete wieder zusammen in einen wirren Knäuel. Und alle mit Schimpfworten und Flüchen hinter den Gadnischen Hofleuten her. Prügel wirbelten durch die Luft, und Steine flogen. Und in dem wüsten Lärm unterschied man nimmer, was ein Todesschrei oder eine Stimme des Lebens war.

Mit entfärbtem Gesichte, in der Rechten den zerbrochenen Stab des Friedens, stand Runotter neben dem Seppi Ruechsam, der nicht von der Stelle gekommen und doch zum mächtigsten aller Könige gegangen war. Und mit der Linken hielt der Richtmann den Arm des Malimmes umklammert. »Bleib Mensch! Tät ich dich schlagen heißen, das wär Unrecht. Doppelt Unrecht Dein Bruder ist dabei. Man soll nit Bruder gegen Bruder hetzen.«

Malimmes sagte mürrisch: »Bei einer Fehd heißt's Freund oder Feind. Da ist kein andres Wörtl nit.« Er sah den Seppi Ruechsam an, dessen Gesicht wie von einem roten Tuch umwickelt war. »Bauer? Was hat's denn gegeben da?«

»Schier weiß ich's nit. Ist mir alles wie ein böser Nebel. Das haben die Herren nit wollen. Schlechte Diener sind für die Herren ein Elend und ein übler Ruf.«

»Herr oder Knecht? Sag lieber: Narretei der Leut. Die macht so Herr wie Knecht zu blindwütigen Gockeln.«

Sie hörten ein wildes Geschrei. »Komm, Mensch!« sagte Runotter. »Da müssen wir abwehren!«

Die beiden liefen der Straße nach, dem tobenden Lärm entgegen. Aus den Fenstern und Türen der Hütten guckten verstörte Kindergesichter heraus. Dann liefen drei Kühe vorüber, mit rasselnden Schellen, mit klunkernden Eutern und gestreckten Schwänzen, die Stricke schleifend, die von ihren Hörnern[102] herunterbaumelten. »Guck«, sagte Malimmes, »für die ist auch der Hänfene ein lützel mürb gewesen.«

Wie ein steifes Holz lag ein Mannsbild auf der Straße, und ein schreiendes Weib war hingeworfen über seine rote Brust.

»Ist der Schwarzecker!« stammelte Runotter. »Der so fest hat pfeifen können.«

»Komm! Den pfeift man nimmer herein ins Leben. Ist schon draußen.«

Fünf Kühe kamen gezottelt, klatschten durch das reißende Wasser der Ache, blieben drüben auf einer Wiese stehen, guckten dumm herum und fingen zu weiden an. Hinter den Stauden sprang ein Mensch, der sich nicht sehen lassen, sich immer verstecken wollte. Es war der Mareiner vom Taubensee. Der packte zwei von den Kühen an den Schellengurten, spähte ängstlich nach allen Seiten und zerrte die Kühe davon.

Immer näher kamen die zwei springenden Männer dem tobenden Lärm auf der Straße. Und plötzlich schien es, als flute das Geschrei zurück. Man hörte fernher eine schmetternde Trompete. Rennende Menschen erschienen bei einer Straßenwendung, es folgte ein dicker Schwärm, und schrille Stimmen waren zu hören: »Da kommen Herren und Hofleut, zwanzig Reiter, vierzig, sechzig, hundert!« Andere Stimmen schrien wieder etwas anderes. Der flüchtende Haufe kam ins Stocken, die Leute guckten und fragten, und dann hörte man eine kreischende Weiberstimme, die immer die gleichen Worte schrie: »Hilf in der Not! Das ist Hilf in der Not! Hilf in der Not!«

Männer mit erhitzten Gesichtern kamen gelaufen und holten den Schwarzecker und den Seppi Ruechsam. Zwischen dem Leuthaus und dem Hag des Richtmannes legte man die zwei Toten auf die Straße hin. Und noch zwei andere legte man dazu: einen jungen hübschen Buben, an dem man keine Wunde sah, und ein Weib, dessen Gesicht vom Todesschreck verzerrt und in dieser Grimasse des Grauens wie versteinert war.

Diese vier Stummgewordenen sollten reden für die Not der Ramsauer und sollten mit schweigendem Betteln die Straße sperren vor einem geistlichen Fürsten, der da geritten kam.

Quelle:
Ludwig Ganghofer: Der Ochsenkrieg. Berlin, Darmstadt, Wien 1959, S. 85-103.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Ochsenkrieg
Das brennende Tal:
Der Ochsenkrieg : Roman aus d. 15. Jh. , d. 2 Bücher in e. Bd.
Der Ochsenkrieg - Roman aus dem 15. Jahrhundert
Das Schweigen im Walde/Edelweißkönig/Der Jäger von Fall/Der Klosterjäger/Schloß Hubertus/Der Ochsenkrieg
Der Ochsenkrieg - Roman aus dem 15. Jahrhundert (Teil 1 und 2)

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Cardenio und Celinde

Cardenio und Celinde

Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon