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[277] Der Abend war lau und milde – einer von jenen linden Abenden des Hochgebirges, die man nicht schildern kann, nur genießen. Kein Lufthauch regt sich, kein Blatt an den Bäumen. Die Geräusche des Lebens und die Stimmen der Bäche klingen gedämpft und dennoch klar. Der wolkenlose Himmel ist von mattleuchtender Bläue, ein wenig ins Grünliche spielend. Die Zinnen der Berge haben weißes Licht, doch die sinkenden Wälder sind in blauen Schatten gehüllt, aus dem sich die bunten Farben der welkenden Laubkronen hervorheben, so weich und sanft, daß der Blick unersättlich an diesen zarten Tönen hängt wie an einem zauberhaften Reiz.

Das Tal mit seinen Gärten, Häusern und Wiesen liegt von schleierfeinem Duft überflossen. Halb ist es dünner Nebel, der aus dem See hervorquoll, halb bläulicher Rauch, der aus den Dächern stieg und sich zerteilte in der ruhigen Luft. Sie atmet sich gut und würzig – es ist, als würde das Blut mit jedem Atemzuge leichter. Es prickelt in allen Nerven. Man wandert, ohne den Körper zu fühlen, und ein gedankenloses Wohlbehagen, die Freudigkeit eines traumhaften Genießens überkommt die Sinne.

In solcher Stimmung schlenderte Willy, der bei dem erste[277] Schritt auf die Straße die Tragödie des Adlerkäfigs schon wieder vergessen hatte, dem Dorf entgegen.

Da tauchte an einer Biegung der Straße das feine Lieserl auf. Die Kleine schien übler Laune zu sein und ließ das kokett frisierte Köpfchen hängen. Die rechte Hand hielt sie in die Hüfte gestützt, mit der linken schlenkerte sie in müdem Phlegma eine gehenkelte Blechkanne, die erraten ließ, daß das Lieserl zum Mooshofer wanderte, von dem die Zaunerin ihre Milch bezog.

Bei Willys Anblick wurde Lieserl rot. Schmollend verzog sie das Mäulchen, und dem Feind das Feld überlassend, schlug sie sich seitwärts in die Büsche.

Der zürnende Fluchtversuch schien Willy zu erheitern. Mit ein paar flinken Sprüngen holte er die Ausreißerin ein. »Na, na, na! Das sieht ja aus, als wäre man beleidigt?« Er faßte Lieserl um die Hüfte. »Du niedlicher Käfer! Was hab' ich dir denn getan?«

»Da können der Herr Graf noch fragen!« stieß das Lieserl in einem Hochdeutsch hervor, dessen gespreizter Wortlaut sich bei dieser zornigen Schärfe drollig anhörte. »Lassen Sie mich aus, Herr Graf! Ich bin keine solchene, die man das eine Mal abbusseln kann und das andere Mal beleidigen.« In Tränen ausbrechend, ließ sie die Blechkanne fallen.

»Aber Lieserl,« stotterte Willy erschrocken und gab die Weinende frei.

Sie machte ein paar taumelnde Schritte, sank auf eine Steinplatte und schluchzte wie vom Bock gestoßen.

Ein Mädel weinen zu sehen – dazu noch ein so schmuckes Mädel wie das feine Lieserl – das ging über Willys Kräfte. Er dachte in diesem Augenblick an nichts anderes, nur an diese Tränen. Es waren so hübsche Tränen! und die Wangen, über die sie rollten, waren so rund und frisch! Und der Mund, über den sie flossen, so weich und rot. Bei jeder neuen Träne schienen die Lippen noch heißer zu glühen.

»Aber Lieserl!« Willy setzte sich auf die Steinplatte und schlang den Arm um den Hals des Mädels. »So hör' doch zu weinen auf! Ich hab' dir doch nichts zuleid' getan, ganz im Gegenteil! Und wenn ich dich kränkte, ohne daß ich es wußte, so will ich es gerne wieder gutmachen!«

Lieserl klagte, ihr Hochdeutsch plötzlich vergessend: »Na, Herr Graf, da is nix mehr gut z'machen! Heut haben S' mich ins Herz[278] troffen. So was tut weh! Sie wissen ja net, wie gut ich Ihnen gwesen bin!«

Willy quittierte diese kurzgefaßte Liebeserklärung, indem er das Mädel fest an seine Brust drückte.

Lieserl sträubte sich nicht, doch allen Ernstes wiederholte sie: »Na, dös wissen S' net! Ich hätt mein Leben für Ihnen hergeben können. Die ganzen Täg hab ich allweil an Ihnen denken müssen und hab mir schier d' Augen ausgschaut auf die Berg auffi!«

»Wirklich?« Willys Rührung wuchs. »Du liebes, liebes Kerlchen du!«

»Und heut z'Mittag – 's allerschönste Nagerl hab ich abgrissen und hab's Ihnen zugworfen. Und Sie –« Lieserls Tränen kamen wieder ins Rollen. »Dös arme Nagerl haben S' mit 'm Fuß davongstössen, als tät Ihnen grausen vor dem Blümerl und – vor mir!«

»Aber Schatz!« Willy küßte das Lieserl auf die von Tränen nassen Lippen. »Wie kannst du nur auf den Einfall kommen, daß ich die Nelke mit dem Fuß fortgestoßen hätte? Ein unglücklicher Zufall. Wie ich die Blume haschen wollte, bin ich gestolpert.« Er herzte die Weinende, recht wie ein Verliebter, der in Wärme kommt. »Geh, du Närrlein! Welche Ursache könnt' ich denn haben, um dich zu kränken? Ich hab' dich ja lieb und –« Er küßte und küßte.

Lieserl sträubte sich nicht, sondern schmiegte sich immer enger in Willys Arme. Dabei weinte sie immerzu, als wäre der Zustand dieser fließenden Kümmernis für sie ein Behagen.

»Ich bitt dich, Schatz, hör' doch zu weinen auf! Ich kann das nicht sehen! Wenn ich nur wüßte, wie ich dich beruhigen könnte!« Da fiel ihm der Rubin ein, den er beim Verlassen seines Zimmers mit den beiden Hirschgranen in die Hosentasche geschoben hatte. »Schatz! Ich hab' was für dich!« Hurtig holte er den Stein hervor und hielt ihn vor Lieserls Augen; trotz der sinkenden Dämmerung glühte der Rubin, als wäre in seinem Innern ein Funke roten Sonnenlichtes eingeschlossen.

»Nimm, Lieserl! Den Stein schenk' ich dir. Und wenn du willst, laß ich ihn für dich zu einer Nadel fassen oder in einen Ring. Aber hör' zu weinen auf!«

Halb erschrocken, halb gierig starrte Lieserl das funkelnde Kleinod an. Und als ihr Willy den Rubin in die Hand drückte, schloß sie über dem Stein die Finger zu einer Faust und guckte zweifelnd zu[279] Willy auf, als könnte sie noch immer nicht an die Wahrheit dieses Geschenkes glauben.

»Na also? Bekomm ich keinen Dank? Der Stein ist mehr wert, als dein Vater in einem ganzen Jahr verdient.«

Mit dem Rubin in der krampfhaft geschlossenen Faust warf Lieserl die Arme um Willys Hals und küßte ihn, daß ihm der Atem verging.

Linde Klänge gaukelten durch den Wald – im Dorfe läutete man den Abendsegen.

»Mar' und Joseph!« stotterte das Mädel. »Betläuten! Jetzt hab ich mich schön versäumt!« Sie streifte Willy mit einem Funkelblick ihrer schwarzen Augen, und die Faust mit dem Rubin in die Tasche ihres Röckleins grabend, raffte sie mit der anderen Hand die Blechkanne von der Erde und wollte Reißaus nehmen. Willy haschte die Fliehende, riß sie wie ein Berauschter an seine Brust, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und flüsterte: »Ich komm an dein Fenster!«

Mit Wangen so rot wie blühender Mohn duckte Lieserl das Gesicht. »Aber! Warten S', Sie Schlimmer Sie!« Kichernd wand sie sich aus seinen Armen und huschte davon.

Mit dem Hochgefühl eines Siegers nach heißer Entscheidungsschlacht sah Willy dem Mädel nach. Doch als das flatternde Röckl hinter den Buchenstauden verschwand, schien ein Gefühl in ihm zu erwachen, das mit einem moralischen Katzenjammer eine unleugbare Ähnlichkeit besaß. »Natürlich,« murrte er vor sich hin und schob die Mütze in den Nacken, »da wäre mein heißer Schimmel glücklich wieder mit meinen guten Vorsätzen durchgegangen!« Eine Weile überlegte er. »Na also! Den letzten Unsinn noch, und dann Schluß!«

Wie sehr sich auf dem Wege bis zum Seehof seine Stimmung noch zum Besseren wandelte, verriet das Wort, mit dem er auf der laut belebten Terrasse die Kellnerin begrüßte: »Flink, Mädel! Eine Flasche Monopol ins Eis! Dann reden wir weiter!«

In rosiger Laune nahm er das ausgiebige Souper – Seelachs, Paprikahuhn und Omelette mit Pilzen –, steckte die Zigarre in Brand und vertiefte sich in die Sektpulle. Träumend blies er die Rauchringe vor sich hin, schmachtete die funkelnden Sterne an oder blickte unter lyrischen Regungen auf den stillen See hinaus. In immer kürzeren Zwischenräumen leerte er den schlanken Kelch,[280] füllte ihn wieder und stieß die Flasche zurück in den rasselnden Eiskübel.

Dieses Geräusch weckte die Aufmerksamkeit der Gäste, und wenn sie nach dem stillvergnügten Zecher blickten, redete das Wohlgefallen aus ihren Augen. Die schmucke, schlanke Jünglingsgestalt in der knappen Uniform, das hübsche, liebenswürdige, von Wein und Träumen erwärmte Gesicht, diese lächelnde Verlorenheit und dieses glückselige, um keine Umgebung sich bekümmernde Behagen – das sah sich an wie ein Urbild gesunder und froher Lebenskraft, die sich sorglos einem Stündlein irdischen Genusses ergibt und ein leuchtendes Luftschloß in die Wolken baut.

»Glückliche Jugend!« flüsterte ein bejahrter Herr, der den Heimweg antrat und trotz des lauen Abends den Überrock bis zum Hals zuknöpfte.

Die Terrasse leerte sich immer mehr; immer stiller und träumerischer wurde die schöne Nacht.

In der Schifferschwemme waren die Klänge der Ziehharmonika verstummt. Als vorletzter Gast verließ der alte Mooshofer das Wirtshaus. Er hatte schwer geladen. So breit die Straße war, sie wäre ihm fast zu schmal geworden. Häufig geriet er bis an den Rand der Schlucht, in deren Tiefe der Seebach rauschte; doch es erwies sich an ihm die Wahrheit des Sprichwortes, daß Kinder und Betrunkene einen starken Schutzengel haben; oft galt es nur einen letzten Schritt, und der Mooshofer wäre nie wieder aus seinem Rausch erwacht; aber immer im rechten Augenblick schwankte das Gesicht seines taumelnden Körpers wieder einwärts gegen die Straße. Vor Meister Zauners Garten tat er einen Plumps in den ungefährlichen Straßengraben, richtete sich brummend auf und torkelte weiter.

An dem einsamen Haus waren zwei Fenster noch erleuchtet: in Lieserls Kämmerchen brannte eine Kerze vor dem Spiegel und in der ebenerdigen Wohnstube die Hängelampe über dem Tisch. Hier saß die Zaunerin auf der Ofenbank, während der Meister beim Fenster stand, mit den Fäusten hinter dem Rücken. Den roten Gesichtern der beiden war es anzumerken, daß sie einen heißen Kampf miteinander ausgefochten hatten.

Nun schwiegen sie. Der Waffenstillstand währte nicht lange. Energisch wandte sich der Meister zu seinem Weib und drohte mit dem Finger. »Von heut an steck ich andere Kerzen auf. Und wenn[281] ich dahinterkomm, daß du als Mutter dei' Pflicht und Schuldigkeit net tust – da kracht's aber ordentlich!«

»Jetzt laß mir endlich mei' Ruh! So an Spitakl machen! Wegen nix und wieder nix!«

»So? Meinst, ich kenn unser Lieserl net? Den ganzen Abend hab ich's gmerkt, daß mit dem Madl was los is. Sie hat was im Sinn. Und nix Guts net! Aber ich tu mei' Pflicht als Vater, ich halt meine Augen offen.«

»Meintwegen!« murrte die Zaunerin, trat auf den Tisch zu und blies die Lampe aus; ein Gewaltstreich, der den Meister Zauner sprachlos machte. Auf einem Umweg tastete sich die Zaunerin in den Flur und stieg über die finstere Treppe hinauf. Sie wollte noch zu einem kleinen Plausch in die Kammer ihrer Tochter treten. Die Tür war von innen versperrt.

»Lieserl?«

»Ja, Mutter?« klang es in der Kammer.

»Geh, mach auf!«

»Ich lieg schon. Gut Nacht!«

»Gut Nacht, Schatzerl! Laß dir was Guts träumen!« Mit diesem Segenswunsch wollte die Zaunerin ihre Schlafstube aufsuchen; aber da gewahrte sie den Lichtschein, der durch die Ritzen der Tür quoll, und wurde neugierig. Sie guckte durch das Schlüsselloch und sah, daß ihr feines Lieserl vor dem Spiegel saß und sich frisierte, als ging es zur Kirche oder zum Tanz. Schmunzelnd richtete sich die Meisterin auf, schlich auf den Zehen in ihre Stube, und während sie ihren grauen Schopf der Schlafhaube anvertraute, monologisierte sie im stillen: »Schau, jetzt hat er am End doch recht? Sie muß was im Köpfl haben! No also, in Gotts Namen! Warum soll man ihr an unschuldigs Spassetterl net vergönnen? 's Madl is gscheit, 's Madl wird schon wissen, was verlaubt is und was net! Man is ja nur einmal jung!« Sie ließ sich in die Federn fallen, streckte sich, legte die Hände auf die Bettdecke und gähnte. Es währte nicht lange, und die Zaunerin schnarchte.

Drunten ging der Meister noch überall im Haus umher, versperrte die Küchentür, die Zimmertür und zuletzt das Haustor; alle Schlüssel zog er ab und schob sie in die Tasche. »So,« brummte er, als er an Lieserls Kammer vorüberkam, »jetzt flieg aus, du Stieglitz, du leichtsinniger! Heut hab ich den Käfig versichert!«

Er trat in die Schlafstube, öffnete das in den Garten führende[282] Fenster und suchte sein Bett, ohne daß die Meisterin erwachte. Mit offenen Augen lag er neben dem schnarchenden Weib, wälzte seine Vatersorgen, überlegte, wie er sein »narrisches« Lieserl auf »verstandsame« Wege bringen könnte, und sann auf ein Mittel, durch das sich der Eigensinn seiner Tochter brechen ließ und ihr Herz für den braven Pointner-Andres zu gewinnen wäre.

Die Turmglocke hatte schon Mitternacht geschlagen, als auch bei Meister Zauner das Bedürfnis nach Schlaf sich fühlbar machte. Da hörte er drunten vor dem Haus ein sachtes Geräusch. Lauschend richtete er sich auf und vernahm ein leises Klirren, als wäre ein Steinchen gegen eine Fensterscheibe geflogen.

»Richtig! Da kommt er schon! Aber wart, dem will ich heimleuchten!«

Er konnte sich mit dem Ankleiden Zeit lassen, weil er wohlweislich dafür gesorgt hatte, daß Lieserls Absicht, für einen heimlichen Plausch zur Hausbank hinunterzuschleichen, auf Hindernisse stoßen würde. Eben wollte er in die Joppe schlüpfen, als es merklich an der Mauer raschelte. »Da hört sich doch alles auf! Jetzt kraxelt er gar am Spalier in d' Höh!« Der Zauner sprang zum Fenster. Draußen an der Mauer ließ sich ein Brechen von Ästen und Staketen hören, ein erstickter Schrei, der dumpfe Aufschlag eines schweren Körpers. Der Zauner überhörte diesen Lärm, denn in kochendem Ärger hatte er zu schelten begonnen: »Was is denn dös da draußen in der Nacht? Himmel Kreuz Teufel! So was möcht ich mir verbitten!« Er fuhr mit dem Kopf zum Fenster hinaus. Der Garten lag still und dunkel unter ihm. Kein Geräusch in den Büschen, auf der Straße kein enteilender Schritt, kein Laut an Lieserls finsterem Fenster.

»Teufel! Is er am End gar schon herin im Haus?« Der Meister machte Licht.

Die Zaunerin riß die verschlafenen Augen auf. »Was is denn? Um Gotts willen! Was is denn schon wieder?«

»Du red nur gar nix, du mit deiner saubern Tochter! Aber wart, jetzt komm ich ihr mit der Richtung!« Die flackernde Kerze in der Hand, eilte der Zauner auf die Treppe hinaus und rüttelte an Lieserls verschlossener Kammertür. »Wird aufgmacht oder net?« Drinnen kein Laut. »Aufgmacht, sag ich, oder ich mach mir selber auf!« Er wartete den Erfolg dieser Drohung nicht ab, sondern warf sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen die Tür. Die[283] Bretter krachten, und der Riegel sprang. Auf der gewaltsam eröffneten Schwelle stand der Zauner mit erhobener Kerze und leuchtete in die Kammer.

Lieserl war allein. In ihrem besten Gewand und kokett frisiert, lehnte sie neben dem offenen Fenster an der Mauer, mit leichenblassem Gesicht, wie gelähmt an allen Gliedern.

»Du gottvergessens Madl du!« So wollte der Zauner seine Moralpredigt beginnen.

Da wankte ihm das Mädel verstört entgegen. »An Unglück, Vater! An Unglück!«

»Ja freilich! Du! An Unglück bist für Vater und Mutter!« Der scheltende Fluß seiner Worte stockte plötzlich; er schien zu erkennen, daß aus dem entsetzten Gesicht seiner Tochter noch etwas Schlimmeres redete als nur die Angst eines auf Heimlichkeiten ertappten Mädels.

»Vater! Vater! Unser guter, lieber Herr Graf –«

»Graf? Was Graf?« stotterte Meister Zauner.

»Der junge Herr Graf! Ans Fenster is er kommen – ich kann nix dafür, ich hab ihm halt gfallen! Und wie er am Fenster war –« Die Stimme des Mädels versagte fast. »Ich weiß net, was er ghabt hat – gahlings hat er husten müssen, und 's Köpfl is ihm auf d' Seiten gfallen, als tät ihm schwindlig sein. Mit alle zwei Arm hab ich griffen nach ihm, aber ich hab ihn nimmer halten können. Vater! Jesus Maria, Vater! Ich fürcht, es is ihm was gschehen.«

Der Zauner hatte keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht und starrte die Tochter an wie ein Gespenst. Alle väterliche Entrüstung war untergegangen in namenlosem Entsetzen. »Mar' und Joseph! Wenn da was gschehen is! Bei mir! Wenn dös der gnädig Herr erfahrt!« Die Knie wurden ihm schwach; er schob den Leuchter auf das Spiegeltischchen, wankte zum Fenster, beugte sich hinaus und rief mit gepreßter Stimme in den Garten hinunter: »Herr Graf? Herr Graf? – Ich bitt, so geben S' doch an! – Is Ihnen was? Herr Graf? – Herr Graf?«

Im Garten kein Laut.

Halb angekleidet erschien die Zaunerin und sah das Mädel in Angst und Zittern auf einem Schemel kauern. »Kindl? Hat dir der Vater was tan?« kreischte die Meisterin. Sie eilte auf ihr Lieserl zu, und da schrie sie plötzlich auf, als hätte man ihr einen Dolch ins[284] Herz gestoßen. »Jesus Maria! So a Rabenvater, der die eigene Tochter blutig schlagt! Wegen nix und wieder nix!«

»Blutig?« stammelte Lieserl; ein Schauer rüttelte ihre Schultern, als sie an ihrer Brust und am rechten Arm die großen roten Flecken gewahrte.

Am Fenster tat der Meister einen erstickten Schreckensruf. »Alle Heiligen im Himmel! Da drunten liegt er und tut kein Rührer nimmer!« Wie ein Wahnsinniger packte er den Leuchter und stürzte zur Kammer hinaus.

Nun dämmerte auch in der Zaunerin die Ahnung auf, daß alles sich anders verhalten müßte, als sie in ihrer blinden Mutterangst vermutet hatte. Wohl brachte Lieserl nur ein paar abgerissene Worte heraus, aber sie sagten genug, um die Zaunerin in Verzweiflung zu versetzen. »Jesus, o Jesus! Mein Lieserl hätt Gräfin werden können! Und so an Unglück muß dazwischenfahren! O du lieber Herrgott! Lieserl, komm! Vielleicht is ihm net viel passiert! Der liebe, gute, süße Mensch! Wär dös a Glück! Wär dös a Glück!« Mit beiden Händen zog sie das zitternde Mädel zur Kammer hinaus und über die Treppe hinunter, auf deren letzter Stufe die Kerze flackerte, die der Zauner zurückgelassen hatte, als er die Haustür aufriß.

Jammernd nahm die Meisterin den Leuchter. Als sie in die Nacht hinaustreten wollte, kam ihr der Zauner schon entgegen, wankend unter der Last, die er auf seinen Armen trug. Lieserl taumelte gegen die Mauer, als würde ihr übel, und die Mutter erhob ein Wehgeschrei, als hätte sie um den eigenen Sohn zu klagen.

»Sei still, Weib!« keuchte der Meister. »Daß uns kein Mensch net hört! Es muß verheimlicht werden, dem gnädigen Herrn Grafen z'lieb!« Schwer atmend sah er das kalkweiße Gesicht an, das an seiner Schulter lag. »Es wird doch um Gotts willen so weit net fehlen!« Er trat in den Flur. »Weib! Zieh mir den Schlüssel aus'm Sack und sperr die Stubentür auf.«

Die Zaunerin öffnete in wortloser Hast die Tür, sprang in Lieserls Kammer hinauf und brachte zwei geblumte Kissen; dann hielt sie betend und weinend den Leuchter, während der Meister den regungslosen Körper, von dem die Glieder kraftlos niederhingen, auf das Sofa bettete. Lieserl drückte sich in den Winkel, den der Geschirrkasten mit der Mauer bildete; sie hatte die zitternden Finger am Mund und blickte verstört nach dem blassen Gesicht, das halb in die[285] Kissen versunken war. Willy war nicht entstellt, nur bleich; doch die Lippen, auf denen ein mattes, gutmütiges Lächeln wie erstarrt erschien, waren rot; und rote Tropfen hingen am Kinn. Er atmete mit Anstrengung, in kurzen Stößen, von denen jeder sich anhörte wie ein Seufzer. Die Augen standen offen; sie hatten fieberhaften Glanz, ihr Blick war ins Leere gerichtet.

Meister Zauner, der vor dem Sofa kniete, schob den Arm unter die Kissen. »Herr Graf! Lieber, guter Herr Graf! Wo haben S' denn Schmerzen?«

Willy schien zu hören, zu verstehen. Ein Zittern lief ihm über die Arme, und wie ein leiser Hauch klangen die Worte: »Bitte – meiner Schwester – sagen lassen –« Die Lider fielen ihm halb über die Augen, und von den Mundwinkeln sickerten zwei dünne, rote Fäden über den Hals.

»Lieserl! Den Doktor!« stammelte Meister Zauner.

Das Mädel fuhr mit der Hand in den Weihbrunnkessel, besprengte das Gesicht und stürzte davon. Auf der finsteren Straße brach sie in Schluchzen aus und rannte, daß ihr der Atem verging.

Quelle:
Ludwig Ganghofer: Schloß Hubertus, Berlin [1917], S. 277-286.
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