10.

[147] Wenn auf sonnverbrannten Matten

Die Zikade schrillt von fern,

Rast' ich in des Lorbeers Schatten

Bei den alten Dichtern gern.


Sanft wie voller Segel Schwellen

Trägt Homers geflügelt Wort

Mich durch Sturmgefahr und Wellen,

Volksgewühl und Schlachten fort.


In Olympias staub'ge Bahnen

Reißt mich Pindars Siegeschor,

Und des Äschylus Titanen

Steigen trotz'gen Blicks empor.


Doch von allen, die ich wähle,

Schwichtigt mit erhabner Ruh'

Keiner mir so ganz die Seele,

Hoher Sophokles, wie du.


Von erliegender Heroen

Unverstandnem Riesenleid

Führtest du dein Volk zum hohen

Urbild schöner Menschlichkeit;


Riefest aus dem Schoß der Nächte,

Die von Mitleid nie gewußt,

Ihren Teil der Schicksalsmächte

In die freigewordne Brust;


Daß, was aus des Herzens Falten

Rätselvoll gezeitigt sproß,

Mit der Götter hehrem Walten

Sich zum goldnen Ring beschloß.[147]


Also zwischen starrer Sitte,

Zwischen frecher Neurung Wahn

Walltest du in schöner Mitte

Hoch und heiter deine Bahn;


Klärtest mit dem Hauch der Musen

Fromm der Leidenschaften Glut,

Und ein heilig Maß im Busen

Priesest du als höchstes Gut.


Sel'ger, dem sein Wort zu lohnen

Das entzückte Griechenland

Seine reichsten Lorbeerkronen

Um die Priesterschläfe wand;


Der noch heut, vom wandelbaren

Strom der Zeitflut unversehrt,

Heut nach zweimal tausend Jahren

Schönheit uns und Weisheit lehrt!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 147-148.
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