2.

[347] Zwei Reiter reiten vom Königsschloß,

Sie reiten hinab zum Strande;

In hohen Lüften pfeift der Wind,

Die Wellen schäumen zu Lande.


Der König spricht zum Pagen sein,

Er spricht's in finsterem Mute:

»Wer gab das Röslein dir, Gesell,

Das Röslein auf deinem Hute?«


»Das Röslein gab die Mutter mir,

Da sie mich ließ in Sorgen!

Ich stell's in Wasser jede Nacht,

So blüht es jeden Morgen.«


Sie reiten entlang an der blauen Bucht,

Die Woge murrt eintönig,

Die Möwen fliegen kreischend auf,

Zum andern fragt der König:


»Wes ist die Locke, die ich sah

An deine Brust geschlungen,

Da dir vorhin vom scharfen Ritt

Das Reitwams aufgesprungen?«


»Das ist meiner Schwester lichtbraun Haar,

So fein und weich wie Seiden!

Es duftet süß wie Rosenöl,

Sie weinte drauf beim Scheiden.«


Sie reiten hinauf den Felsensteig;

Am Pfad sind eingeschnitten

Blutrunen aus uralter Zeit,

Der König fragt zum dritten:


»Sag' an und rede die Wahrheit mir,

Gesell, es gilt dein Leben,

Wer hat den Ring am Finger dir,

Den goldnen Ring gegeben?«


»Die mir den Ring am Finger gab,

Gab mir ihr Herz desgleichen;[348]

Das ist die allerschönste Maid

In allen deinen Reichen.«


Des Königs Stirn wird rot wie Blut,

Die Augen zornig ihm brennen;

»Der Ring ist meines Kindes Ring!

Sein Blinken muß ich kennen.


Und wagtest du in frecher Lust

Um ihren Leib zu werben,

So dauert dein jungfrisch Leben mich nicht,

Des Todes mußt du sterben.«


Er zieht hervor sein scharfes Schwert,

Er stößt es durchs Herz dem Gesellen;

Das Blut fließt über den Runenstein

Hinunter in die Wellen.


Er wirft den Leichnam in die Flut:

»Und steht so hoch dein Sinnen,

So magst du um die Königin jetzt

Der Wassernixen minnen!«


Den Strand entlang zum Königsschloß

Heimreitet ein düsterer Reiter;

Hinaus ins Meer die Leiche schwimmt,

Die Wellen rauschen weiter.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 347-349.
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