Wiedersehen

[275] Ich schritt mit meinem schönen Kinde

Den Fluß hinab im Morgentau,

Das Schilfrohr wogte sacht im Winde,

Die Wasser glänzten still und blau.


Erst gestern war aus weiter Ferne

Ich heimgekehrt nach manchem Jahr,

Doch war mit mir gleich einem Sterne

Ihr Bild gezogen immerdar.


Und ob im Lande der Zypressen

Manch dunkles Auge mich gebannt;

Des blauen hatt' ich nie vergessen,

Das, als ich schied, in Tränen stand.


Und jetzt gedacht' ich's ihr zu sagen,

Wie lieb sie mir von Herzensgrund;

Allein ein nie gekanntes Zagen

Verschloß mir, wie ich ging, den Mund.


Auch sie ließ stumm das Köpfchen hangen,

Das sonst so munter umgeschaut;

Doch lag's wie Glut auf unsern Wangen,

Und unsre Herzen pochten laut.


Und als zum Lindenborn wir kamen,

Der unsrer Kindheit Spiel gekannt,

Nur leise nannt' ich ihren Namen

Und drückte fester ihre Hand.


Da überkam sie's: all mein Sehnen

War plötzlich wortlos ihr bewußt,

Und heiß beströmt von sel'gen Tränen

Barg sie das Haupt an meiner Brust.[275]


Der Frühling ließ Maiblumendüfte

Herüberwehn vom Waldeshang,

Und über uns im Blau der Lüfte

War nichts als Glanz und Lerchensang.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 275-276.
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