10.

[44] Im Herbste, wann die Trauben glühn

Und froh die Keltern schallen,

Da hebt der Sinn mir an zu blühn,

Das Blut mir an zu wallen.


Es treibt das Herz mich hin und her

Und zuckt wie eine Flamme;

Verleugnen kann ich's nimmermehr,

Daß ich von Winzern stamme.


Denn kam ich auch am Ostseestrand

Das Licht der Welt zu suchen;

Mein Stammhaus steht im Frankenland

Im Dorf zu Wachenbuchen.


Da lauscht aus Rebenlaub hervor

Das Zeichen der Familie,

Auf hellem Schild hoch überm Tor

Die rot' und weiße Lilie.[44]


Und ringsumher ist Weingebiet,

Und goldne Ströme rinnen,

Es klingt der Tanz, es schallt das Lied

Der ros'gen Winzerinnen.


Erst meinen Vater trieb sein Stern

Zur Hansastadt im Norden,

Wo er im Weinberg dann des Herrn

Ein rüst'ger Winzer worden.


Und wie mein Urahn Most geschenkt

Für durst'ger Wandrer Kehlen,

Hat er mit Gnadenwein getränkt

Die gottesdurst'gen Seelen.


Wohl zog sein hoher Geist auch mich

Auf ernste Lebensbahnen,

Doch stets, wann's herbstet, rühret sich

In mir das Blut der Ahnen.


Und Ruh' noch Rast nicht hat mein Sinn,

Bis ich im Kreis der Zecher

Geküßt die schönste Winzerin,

Geleert den vollsten Becher.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 44-45.
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