2.

[40] O gedenkst du der Stund', als auf schimmernder Bahn

Überm See von Sankt Wolfgang uns wiegte der Kahn,

Wo die Felswand sich gipfelt aus laubiger Nacht,

Und die Tiefe der Flut ist wie lichter Smaragd?


Hochsommerzeit war's, und der Tag war uns hold,

Denn der Abend zerrann wie in schmelzendes Gold,

Und sein Widerschein wölbte sich leuchtend im See,

Mit Wald und Geklipp und den Firnen von Schnee.


Von dem Kirchlein am Hang mit den Fenstern voll Glut

Schwamm festlich Geläut zu uns her auf der Flut,

Zwei Glocken, die eine wie hellster Gesang,

Tiefstimmig die andre von schütterndem Klang.


Und als wär' er begabt mit Empfindung und Sinn,

Zog leiser und leiser der Nachen dahin,

Wie getragen von wehender Fittiche Schlag

Durch den Himmel, der über und unter uns lag.


O Stunde des Heils, da im endlosen Ring

Wie des Himmels Umwölbung die Lieb' uns umfing,

Und, was tief in den schauernden Herzen uns klang,

Ineinander verschmolz wie der Glocken Gesang!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 40.
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