Vierzehnter Auftritt

[410] Julchen. Der Magister.


JULCHEN. Herr Magister, wollen Sie mir etwa sagen, was mir Lottchen Neues erzählen will?

DER MAGISTER. Nein, ich habe sie gar nicht gesehn. Ich komme aus meiner Studierstube und habe zum Zeitvertreibe in einem Deutschen Fabelbuche gelesen. Wenn Sie mir zuhören wollten: so wollte ich Ihnen eine Fabel daraus vorlesen, die mir ganz artig geschienen hat. Ich weiß, Sie hören gerne witzige Sachen.

JULCHEN. Ja, aber nur heute nicht, weil ich gar zu unruhig bin. Sie lesen mir ja sonst keine Fabeln vor. Wie kommen Sie denn heute auf diesen Einfall? Ja, ich weiß wohl eher, daß Sie mir eine ziemliche finstere Miene gemacht haben, wenn Sie mich in des Fontaine oder Hagedorns Fabeln haben lesen sehen.

DER MAGISTER. Sie haben recht. Ich halte mehr auf gründliche Schriften. Und das Solide ist für die Welt allemal besser als das Witzige. Aber wie man den Verstand nicht immer anstrengen kann: so ist es auch erlaubt, zuweilen etwas Seichtes zu lesen. Wollen Sie die Fabel hören? Sie heißt die Sonne.

JULCHEN. O ich habe schon viele Fabeln von der Sonne gelesen! Ich will es Ihnen auf Ihr Wort glauben, daß sie artig ist. Lesen Sie mir sie nur nicht vor.

DER MAGISTER. Jungfer Muhme, ich weiß nicht, was Sie heute für eine verdrießliche Gemütsart haben. Ihnen zu gefallen, verderbe ich mir etliche kostbare Stunden. Ich arbeite für Ihr Glück, für Ihre Beruhigung. Und Sie sind so unerkenntlich und beleidigen mich alle Augenblicke dafür? Bin ich Ihnen denn so geringe?[410] Verdienen meine Absichten nicht wenigstens Ihre Aufmerksamkeit? Sind denn Ihre Pflichten gegen mich durch die Blutsverwandtschaft nicht deutlich genug bestimmt? Warum widersprechen Sie mir denn? Kann ich etwas dafür, daß Sie nach der Vernunft verbunden sind, zu heiraten? Habe ich den Gehorsam, den Sie Ihrem Herr Vater und mir schuldig sind, etwa erdacht? Ist er nicht in dem ewigen Gesetze der Vernunft enthalten?

JULCHEN. Sie schmälen auf mich, Herr Magister; aber Sie schmälen doch gelehrt, und deswegen will ich mich zufrieden geben. Darf ich bitten: so lesen Sie mir die Fabel vor, damit ich wieder zu meiner Schwester gehn kann. Sie wissen nicht, wie hoch ich Sie schätze.

DER MAGISTER. Warum sollte ich's nicht wissen? Wenn Sie gleich nicht den schärfsten Verstand haben, so haben Sie doch ein gutes Herz. Und ich wollte wetten, wenn Sie statt der Bremischen Beiträge und anderer solchen leichten Schriften eine systematische Moralphilosophie läsen, daß Sie bald anders sollten denken lernen. Wenn Sie die Triebe des Willens und ihre Natur philosophisch kennen sollten: so würden Sie sehen, daß der Trieb der Liebe ein Grundtrieb wäre, und also ...

JULCHEN. Sie reden mir so viel von der Liebe vor. Haben Sie denn in Ihrer Jugend auch geliebt? Kennen Sie denn die Liebe recht genau? Was ist sie denn? Ein Rätsel, das niemand auflösen kann ...

DER MAGISTER. Als wer Verstand genug hat, in die Natur der Dinge zu dringen. Die Liebe ist eine Übereinstimmung zweener Willen zu gleichen Zwecken. Mich deucht, dies ist sehr adäquat. Oder soll ich Ihnen eine andere Beschreibung geben?

JULCHEN. Nein, ich habe mit dieser genug zu tun. Sagen Sie mir lieber die Fabel. Ich muß zu meiner Schwester.

DER MAGISTER. Ja, ja, die Fabel ist freilich nicht so schwer zu verstehen als eine Kausaldefinition. Sie ist kurz, und sie scheint mir mehr eine Allegorie als eine Fabel zu sein. Sie klingt also: Die Sonne verliebte sich, wie man erzählt, einstmals in den Mond. Sie entdeckte ihm ihre Wünsche auf das zärtlichste; allein der Mond blieb seiner Natur nach kalt und unempfindlich. Er verlachte alle die Gründe, womit ihn einige benachbarte Planeten zur Zärtlichkeit gegen die Sonne bewegen wollten. Ein heimlicher Stolz hieß ihn spröde tun, ob ihm die Liebe der Sonne gleich angenehm war. Er trotzte auf sein schönes und reines Gesicht,[411] bis es eine Gottheit auf das Bitten der Sonne mit Flecken verunstaltete. Und dies sind die Flecken, die wir noch heutzutage in dem Gesichte des Mondes finden. Dies ist die Fabel. Was empfinden Sie dabei?

JULCHEN. Ich empfinde, daß sie mir nicht gefällt, und daß der Verfasser ihrer noch viel machen wird. Ich will doch nicht hoffen, daß Sie diese Erzählung im Ernste für artig halten.

DER MAGISTER. Freilich kann der Verstand bei witzigen Sachen seine Stärke nicht sehen lassen. Aber wie? wenn ich die Fabel selbst gemacht hätte?

JULCHEN. So würde ich glauben müssen, daß die Schuld an mir läge, warum sie mir nicht schön vorkommt.

DER MAGISTER. Sie wissen sich gut herauszuwickeln. Ich will es Ihnen gestehen. Es ist meine Arbeit. Ich will mich eben nicht groß damit machen, denn Witz kann auch ein Ungelehrter haben. Aber wollten Sie diese Fabel wohl auflösen? Was soll die Moral sein?

JULCHEN. Das werden Sie mir am besten sagen können.

DER MAGISTER. Die Moral soll etwan diese sein: Ein schönes Frauenzimmer, die gegen den Liebhaber gar zu lange spröde tut, steht in der Gefahr, daß das Alter ihr schönes Gesicht endlich verwüstet.

JULCHEN. Sie sind heute recht sinnreich, Herr Magister. Ich merke, die Fabel geht auf mich. Ich bin der Mond. Herr Damis wird die Sonne sein, und die Planeten werden auf Sie und meine Schwester zielen. Habe ich nicht alles erraten?

DER MAGISTER. Ich sehe wohl, wenn man Ihnen seine Gedanken unter Bildern vorträgt: so machen sie einen großen Eindruck bei Ihnen. Jungfer Muhme, denken Sie unmaßgeblich an die Fabel, und widerstehen Sie der Liebe des Herrn Damis nicht länger. Was soll ich Ihrem Papa für eine Antwort bringen?

JULCHEN. Sagen Sie ihm nur, daß ich über Ihre Fabel hätte lachen müssen: so verdrießlich ich auch gewesen wäre. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 410-412.
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