Zweiter Teil

[58] Ich bin gegen das Elend, das der Graf in Rußland ausgestanden, zu empfindlich, als daß ich's nach seiner Länge erzählen und in eine gewisse Ordnung bringen sollte. Allein ich brauche auch diese betrübte Mühe nicht. Ich habe ein halb Jahr nach seiner Zurückkunft noch zween von denen Briefen erhalten, die er in seiner Gefangenschaft an mich geschrieben. Den einen hatte er an einen Geistlichen auf seinen Gütern in Livland adressieret, der aber nichts von meinem Aufenthalte erfahren können. Den andern brachte mir ein Jude, wie man in dem Verfolge dieser Erzählung sehen wird. Diese Briefe enthalten den größten Teil von dem, was ihm in Moskau und Siberien begegnet ist. Ich will sie also unverändert hier einrücken. Es ist immer, als wenn man mehr Anteil an einer Begebenheit nähme, wenn sie der selbst erzählet, dem sie zugestoßen ist. Sie werden über dieses den edlen Charakter des Grafen und seine beständige Liebe gegen mich in ein größer Licht setzen. Wie groß ist sie nicht gewesen! Und eben zu der Zeit, da er mich so brünstig geliebt und alles für mich gefühlt hat, was nur sein Elend hat vergrößern können, habe ich in den Armen eines andern Gemahls der Freuden der Liebe und des Lebens genossen. Wieviel tausend Tränen hat mich dieser Gedanke schon gekostet, und wie oft bin ich vor meiner unschuldigen Liebe zu dem Herrn R... als vor einem Verbrechen errötet!

Der erste Brief ist aus der Stadt Moskau geschrieben.


»Euer unglücklicher Gemahl lebt noch. Wollte doch Gott, daß Ihr diese Nachricht schon wüßtet oder sie wenigstens durch einen Brief erführet! Ein plötzlicher Überfall, den die Russen drei Tage vor meiner angesetzen Hinrichtung auf das Dorf taten, in welchem ich gefangen und krank lag, hat mir das Leben errettet. Ja, liebste Gemahlin, diese Vorsehung ist eine Frucht Eurer Tränen und meiner Unschuld. Ich habe etliche Tage nach dem geschehenen Überfall kaum mehr gewußt, daß ich lebte. Nachdem ich von meiner Krankheit wieder zu mir selber kam und mich in den Händen der Russen sah: so gab ich mich zu meiner Sicherheit für einen Kapitän aus und nannte mich Löwenhoek. Unter allen denen Gefangenen, mit welchen ich bald in diese, bald in jene Festung,[58] und endlich nach der Stadt Moskau geschleppt worden bin, sind nicht mehr als zween Offiziere, die mich kennen. Sie sind beide Engelländer von Geburt, und die treuesten und besten Gefährten meines Elends, die ich mir nur wünschen kann. Der eine von ihnen Steeley, hat vor wenig Tagen die Freiheit erhalten, einige von seinen Landsleuten, die hier handeln, zu sprechen, und durch diese hat er mir, einen Brief nach Livland zu bestellen, die sicherste Gelegenheit ausgemacht. Wenn er doch schon in Euren Händen wäre! Wenn ich doch nur eine von den Tränen der Freude sehen sollte, die Euch die Nachricht von meinem Leben auspressen wird! Wo habt Ihr Euch denn nach meinem letzten traurigen Briefe hingewandt? Hat Euch die Rache des ungerechten Prinzen nicht verfolgt? Ist mein Freund R.. mit Euch geflüchtet? Und wohin? Arme und unglückliche Gemahlin! Gönnt mir doch den Trost, daß ich alle mein gegenwärtiges Unglück und das noch künftige Eurer Tugend und Eurer Liebe gegen mich zuschreiben darf. Nichts als diese Ursache ist vermögend, mir mein Elend zu versüßen und mir die Schande und das schreckliche Andenken eines gewaltsamen Todes, den mir der Prinz zugedacht, zu erleichtern. Ertraget meine Abwesenheit gelassen, ich bitte Euch bei unserer Liebe, und hofft, wir werden uns gewiß wiedersehen. Aber, o Gott! wenn? Und ach, wo weiß ich denn, ob Ihr mein Unglück habt überleben können? Schrecklicher Gedanke, den ich ohne Zittern nicht niederschreiben kann! Nein, mein einziger Wunsch in der Welt, Ihr lebt noch. Mein Herz sagt mir's, und es verspricht mir die Wollust, Euch noch einmal, ehe ich sterbe, zu umarmen. Um diese Glückseligkeit bitte ich die Vorsehung alle Tage und in dem Augenblicke, da ich dieses schreibe. Kann mir Gott mein Leben wohl zu einem geringern Vergnügen gelassen haben, als daß ich noch einen Teil davon, und wenn es auch nur etliche Tage wären, mit Euch zubringen soll? Stellt Euch doch die Zufriedenheit vor, die wir schmecken werden, wenn uns die Zeit einander wiedergeben wird. Wie lange werden wir vor Entzückung nicht reden! und wie lange werden wir nach tausend Umarmungen sprechen, ehe wir uns satt reden und unser Herz und unser Schicksal einander ausschütten werden! Bekümmert Euch nicht zu sehr um mich! Mir fehlt zur Erleichterung meines Elends nichts als die Nachricht von Euch und meinem lieben Freunde R... Erlauben es Eure Umstände: so überschickt mir einen Wechsel, ob ich vielleicht dadurch meine Zurückkunft bewerkstelligen kann. Ich bin seit meinem Arreste von allem[59] entblößt gewesen. Ich habe alle Beschwerlichkeiten ausgestanden, die einem Gefangenen auf einem Wege von mehr als hundert Meilen begegnen können. Eben der kümmerliche Proviant, der noch etliche hundert gemeine Mitgefangene gesättiget hat, ist die ganze Zeit über gut genug für mich gewesen. Die Erbitterung der Russen gegen die schwedische Nation hat uns das Elend, gefangen zu sein, am beschwerlichsten gemacht. Sie nennen ihre Sorglosigkeit gegen uns, ihre Unempfindlichkeit gegen unsere Klagen eine gerechte Vergeltung für das barbarische Bezeigen, womit unser König, wie sie sagen, den gefangenen Russen begegnen ließ. Das Schrecklichste, was wir, nachdem wir über die polnischen Grenzen waren, erfahren haben, ist der Mangel an frischem Wasser gewesen, weil wir oft, um die Moräste zu umgehen, einen Umweg durch sandichte Gegenden nehmen mußten.

Mein ganzes Vermögen seit meiner Gefangenschaft hat in zwanzig Talern bestanden, mit denen mich ein gemeiner schwedischer Soldat unlängst beschenkt hat. Er starb einen Monat zuvor, ehe wir in der Stadt Moskau ankamen, an einer Wunde, und zwar in einer Nacht, die wir unter freiem Himmel zubringen mußten. Er hatte mir auf dem Marsche viele Dienste erwiesen, und ich belohnte seine Treue dadurch, daß ich die ganze Nacht bei ihm blieb und auf sein Verlangen mit ihm betete. Er hatte in seinem Brusttuch ein Goldstück von zwanzig Talern eingenäht, womit ihn seine Braut in Stockholm bei seinem Abschiede beschenkt. Dieses gab er mir und bat mich, wenn ich wieder nach Stockholm kommen sollte, seiner Braut seinen Tod zu melden und ihr einige Wohltaten zu erzeigen. Ich schicke Euch den Zeddel, in welchem das Geld eingewickelt war, und in welchem der Braut ihr Name steht. Wenn es möglich ist: so laßt ihr den Tod ihres Bräutigams melden, und schickt ihr für die zwanzig Taler, die mir und meinem lieben Steeley so viele Dienste getan haben, hundert. Als mein Landsmann, der mich bis auf den letzten Augenblick bei der Hand hielt, tot war: so schlief ich neben ihm ein. Damals träumte mir, Ihr kämet mir an einem Flusse entgegen. Wie erschrakt Ihr, meine Liebenswürdige, wie schön entsetztet Ihr Euch, mich wiederzufinden! Ich erwachte über diesem Traume und lag auf dem toten Landsmanne und dankte dem Himmel, ehe ich noch aufstund, für diesen glücklichen Traum. Die Freundschaft, die ich dem Sterbenden erwies, brachte mir die Liebe von sechs andern gemeinen Schweden zuwege, die bei seinem Tode zugegen waren. Es gefiel ihnen, daß ich ihren Kameraden so[60] wohl zum Tode bereitet hatte. Sie baten mich, daß ich ebendas an ihnen tun möchte, wenn sie etwan auf dem Marsche sterben sollten; sie beeiferten sich recht von diesem Tage an, mir zu dienen, und darbten sich oft das frische Wasser ab, damit sie es mir und Steeleyn im Notfalle anbieten könnten. Ich ward kurz darauf krank und konnte nicht mehr gehen, so hinfällig war ich. Allein ehe mich meine sechs Landsleute zurückließen: so trugen sie mich lieber etliche Tage lang in Stöcken; an Stricken gebunden und mit Binsen durchflochten, fort und nahmen alle die Mühe aus gutem Herzen über sich, zu der sie außerdem weder Furcht noch Belohnung würde fähig gemacht haben. Ich habe in dieser Krankheit insonderheit den großen Unterschied gesehen, der unter den Diensten ist, die man uns aus Gehorsam und Hoffnung erzeigt, und unter denen, die man dem andern aus einem geheimen Triebe der Freundschaft und des Mitleidens erweiset. Ihre Begierde, zu dienen, wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die niemals sinnreich in Anschlägen, noch geübt in Gefälligkeiten gewesen waren, wurden sorgfältig und sinnreich an Mitteln, mir das Leben zu erhalten, weil sie es gern erhalten wissen wollten. Dieses ist die einzige Krankheit gewesen, die mir auf dem Wege nach Rußland zugestoßen. Vor sechs Wochen sind wir hier in der Stadt Moskau angekommen und die ersten gefangenen Schweden in diesem Kriege gewesen, an denen die wilden Einwohner dieses Orts ihre rachsüchtigen Augen befriedigt haben. Wir mochten unsrer wohl drei- bis vierhundert sein, die man in einem sehr traurigen Aufzuge dem Pöbel einen halben Tag lang öffentlich darstellte. Er würde uns mit Freuden umgebracht haben, wenn wir nicht von einer starken Wache umgeben gewesen wären. Indem wir eine Zeitlang auf einem freien Platze gestanden und tausend Schimpfreden, die wir aus den Gebärden unsrer Feinde erraten konnten, angehört hatten: drängte sich eine alte Frau zu einem Russen, der mit uns angekommen war. Sie fragte, wo sein Kamerad, ihr Sohn, wäre. Der Russe, der vielleicht nicht wußte, nach wem sie fragte, antwortete ihr, daß ihn die Schweden totgeschlagen hätten. In dem Augenblicke fuhr sie auf mich und schrie: ›Was? hast du meinen Sohn umgebracht?‹ und riß mich, der ich vor Mattigkeit mich kaum selbst mehr aufrecht halten konnte, zur Erde, bis die Soldaten mich von ihrer Wut befreiten. Bedenkt nur, meine liebe Gemahlin, wie mir damals zumute gewesen sein muß. In ebender Stadt, in welcher mein Vater in seiner Jugend die Ehre eines königlichen Abgesandten genossen,[61] war ich ein nichtswürdiger Schwede, und vielleicht auf ebendem Platze, wo er seinen Einzug gehalten, war sein Sohn itzt der Raserei eines Weibes ausgesetzt.

Wodurch habe ich doch das traurige Schicksal verdient, fern von Euch, in einer öden Mauer eingeschlossen zu sein, in einem Behältnisse, in dem ich außer der Gesellschaft meines Steeley alles entbehre, was das Leben angenehm macht, und von keiner Freude weiß als von der, mich Eurer mit ihm zu erinnern und mit ihm über unser Schicksal zu seufzen? Er hat, wie ich Euch schon gesagt, durch ein Geschenke, das er dem Aufseher über die Gefangnen von dem Reste unsrer zwanzig Taler gemacht, endlich die Freiheit erhalten, mit einigen Kaufleuten aus London zu sprechen. Diese haben ihm hundert Taler vorgeschossen und alles für ihn zu tun versprochen. Durch dieses Geld hoffen wir uns von unserm Gebieter zuweilen den Schatten einer Freiheit zu erkaufen denn durch Geld lassen sie sich, wenn sie anders mitleidig sein könnten, am ersten mitleidig machen. Er brachte mir bei seiner Zurückkunft eine Flasche Wein und etwas Zwieback mit. ›Ihr denkt etwan‹, sprach er, da er die Flasche aus der Tasche zog, ›daß ich bei meinen Landsleuten schon Wein getrunken habe? Nein, mein lieber Graf, ich würde mir nicht die Freude entzogen haben, das erst Glas in Eurer Gesellschaft zu trinken. Ich habe noch keinen Tropfen gekostet. Aber nun kommt, nun kann ich nicht länger warten. Kommt, wir wollen unser Unglück einige Augenblicke vergessen und die Freuden des Weins fühlen und uns alles das als gewiß vorstellen, was wir wünschen.‹ Wir tranken ein Glas. Welche Wollust war das für uns! Wir ehrten durch unsre Entzückung den Gott, der dem Weine die Kraft geschenkt, unsere Herzen zu begeistern, und dankten ihm durch ein stilles Nachdenken für ein Vergnügen, das wir seit ganzen Jahren nicht genossen hatten. Wir brachten einen ganzen Nachmittag über unsrer Flasche Wein zu. Wir wollten nicht an unser ausgestandnes Schicksal denken; aber es war uns unmöglich. Es war, als ob uns eine große Zufriedenheit fehlte, daß wir nicht mit einem Blicke die Reihe unsrer betrübten Begebenheiten übersehen sollten. Wir wiederholten sie einander, als ob wir sie einander noch nicht gesagt hätten. Wir richteten uns bei unsern Klagen mit der Wahrheit auf, daß ein gütiger und weiser Gott dieses Schicksal über uns verhängt hätte, daß wir uns unser Elend nicht leichter machen könnten, als wenn wir uns seinen Schickungen geduldig überließen, bis es ihm gefiele, uns das Unglück[62] oder das Leben zu nehmen. Wir gaben einander die Hände darauf, alles, was uns begegnen würde, mit einer uns anständigen Gelassenheit zu ertragen. ›Aber‹, fing Steeley an, indem er meine Hand betrachtete, ›dürfen wir denn nicht wünschen, diese Hände denen noch einmal zu reichen, die wir in unserm Vaterland lieben? Und wenn Gott dieses nicht wollte, werden wir auch da gelassen bleiben?‹ – ›Wenn Gott dieses nicht wollte ...,‹ sprach ich und konnte nichts mehr sprechen. Es ward finster in meinem Verstande. Ich sah keine Gründe zur Gelassenheit mehr, aber Ursachen genug, mich zu beklagen und Euern Verlust zu beseufzen. Wir schwiegen eine Zeitlang still, als ob wir uns schämten, den Entschluß zu widerrufen, den wir nach langen Betrachtungen gefaßt hatten. ›Wie Gott will,‹ fing endlich mein Freund mit einem Tone an, der doch die größte Unruhe verriet, ›wie Gott will! Ich will durch meine Gelassenheit gar nicht einen Anspruch machen, daß er seine Schickungen nach meinem Wunsche einrichten soll. Nein, er soll sie ordnen. Aber ist denn das Verlangen, unser Vaterland wiederzusehen und aus dieser Barbarei erlöset zu sein, ein ungerechter Wunsch? Sollen wir denn in diesem kläglichen Zustande unser ganzes Leben zubringen und nur den Tod hoffen?‹ So sah es mit unserer Gelassenheit aus, und so ist es uns oft gegangen. Wenn wir uns bemüht haben, recht ruhig zu sein, sind wir am unzufriedensten geworden. Man sieht, wenn man den Betrachtungen über die Vorsehung nachhängt, die Unmöglichkeit, sich selbst zu helfen, deutlicher, als wenn man sich seinen Empfindungen überläßt; man sieht die Notwendigkeit, sich ihren Führungen zu überlassen, und man will doch zugleich nicht von dem Plane seiner eigenen Wünsche abgehen. Man will ihn gewiß, man will ihn bald ausgeführet wissen, und man sieht doch, daß die Umstände dazu nicht in unserer Gewalt stehen. Für diese traurige Entdeckung will sich unser Herz gleichsam durch die Unzufriedenheit rächen, und es umnebelt den Verstand, damit es von seinem Lichte nicht noch mehr zu befürchten habe.

Zur Arbeit hat man uns, wie die gemeinen Gefangnen, noch nicht gezwungen, und gleichwohl verstattet man uns nicht die geringste Freiheit, auszugehen. Mein erstes Geschäfte in meinem itzigen Gefängnisse ist dieser Brief; und daß wir keine Geschäfte haben, über denen wir uns zuweilen vergessen könnten, dieses macht unser Elend vollkommen. Wenn auch die Erlaubnis, die sich Steeley erkauft hatte, seine Landsleute einige Stunden zu sehen, uns[63] nichts zuwege gebracht hätte als etliche Bogen Papier und Dinte und Feder: so würde sie uns doch schon kostbar genug sein; denn dieses haben wir für alles Geld nicht erhalten können. Sidne, Steeleys Landsmann und Vetter, ist zu unserm Unglücke in ein ander Teil der Stadt gelegt worden; und so elend wir beide daran sind: so muß es ihm doch noch weit kümmerlicher gehen, da er von allem Gelde entblößt ist. Steeley grüßt Euch tausendmal und ist so sehr Euer Freund als der meinige. Wenn ich ihn nicht hätte: so würde mir die Gefangenschaft eine Hölle sein. Er hat bei einem redlichen und zärtlichen Herzen gewisse Fehler, für die ich ihm recht verbunden bin, weil sie oft unsere traurige Stille unterbrechen und uns etwas zu tun geben. Er liebt die Verdienste seiner Nation auf Unkosten der übrigen Völker. Diese Parteilichkeit, ein natürlicher Ungestüm und der Fehler des Widersprechens machen mir ihn notwendig und zugleich schätzbarer. Seine Widersprüche kommen aus einer Fülle des Geistes und der Lebhaftigkeit, aus einer Liebe zur Freiheit im Denken, aus einem Hasse gegen alles niederträchtige Nachgeben und aus einem Überflusse der Aufrichtigkeit und leicht aufwallender Empfindungen her. In seinem Charakter und in seinem Munde verliert also das Widersprechen das meiste von seiner beleidigenden Natur und wird eine Quelle zu vertrauten Gesprächen und kleinen Zänkereien, deren Mangel uns die lange Zeit und die Gefangenschaft noch weit verdrießlicher machen würde. Kurz, wir sind füreinander gemacht. Seine Fehler sind von den meinigen das Gegengewicht und machen seine guten Eigenschaften nur desto sichtbarer. Er ist sehr vorteilhaft gebildet, und seine Miene ist so lebhaft als sein Herz. Er ist noch jung. Das Unglück in der Liebe ist Ursache, daß er sein Vaterland verlassen und wider seine Neigung, bloß aus Unzufriedenheit, in Schweden Kriegsdienste angenommen hat. Ich will Euch sein Unglück kurz erzählen und ihm Euer Mitleiden dadurch verdienen. Als er nebst seinem Vetter Sidne die Universität zu Oxford verlassen, begibt er sich auf seines Vaters Landgut, etliche Meilen von London, um desto ruhiger studieren zu können. Hier wird er mit einem liebenswürdigen Frauenzimmer, der Tochter eines benachbarten Landedelmannes, bekannt und fängt an, das erstemal zu lieben. Nach zwei Jahren, nach tausend besiegten Hindernissen und nach tausend Beweisen ihrer Treue, erhält er endlich von ihren Eltern das Ja und von seinem Vater die Einwilligung. Der Tag zur Vermählung mit seiner geliebten Antonia wird angesetzt. Sie soll morgen auf[64] seines Vaters Landgute vor sich gehen, und heute reist er mit ihm zu ihr, um sie nebst den Ihrigen abzuholen. Sie kommen um die Mittagsmahlzeit an, und nach derselben soll die Rückreise erfolgen. Er sitzt mit seiner Antonia in der zärtlichsten Vertraulichkeit unter einer Laube, als man ihnen meldet, daß die Wagen angespannet würden. ›Verlaßt mich einen Augenblick,‹ fängt sie zitternd zu ihm an, ›und wenn alles fertig ist: so holet mich ab.‹ Er kömmt wieder und fordert sie zur Abreise auf. ›Nun bin ich‹, spricht sie, indem sie ihm die Hand reicht, ›bereit, Euch zu folgen. Es war mir so bange, und ich weiß nicht warum. Bin ich denn nicht glücklich genug, da ich in Euern Armen der Zufriedenheit der Ehe entgegeneile? Kommt, ich bin die Eurige!‹ Er setzt sich darauf mit ihr in die Kutsche, und die übrigen folgen in zween andern Wagen nach. Die Liebe, die unschuldigste und seligste Liebe, ihr Ursprung, ihr Fortgang, alles, was sie füreinander gefühlt haben, ist in dem Wagen ihr Gespräch. Indem sie noch so reden und etwan noch eine Stunde bis auf seines Vaters Landgut haben, zieht sich ein Gewitter auf. Im kurzen wird der ganze Himmel schwarz, und ein Schlag folgt auf den andern. Der Donner erschlägt eins von ihren Pferden. Antonia springt darauf in der größten Angst aus dem Wagen und reicht Steeleyn die Hand, ihr nachzufolgen und mit ihr in das nächste Dorf zu eilen. Indem sie ihn bei der Hand nimmt, tut es einen entsetzlichen Schlag, und er sinkt in den Wagen zurück. Als er wieder zu sich selbst kömmt, sieht er seine Braut noch an der Türe des Wagens, vom Blitze getötet, lehnen, so wie sie ihm die Hand reichte. Kann wohl ein größer Unglück sein? Der arme Freund! Ein halb Jahr darauf nötigte ihn sein Vater, eine Reise vorzunehmen, um seine Schwermut zu zerstreuen. Er tut ihn in das Gefolge des englischen Gesandten, der nach Stockholm geht, und gibt ihm seinen Vetter zum Gefährten mit. Und eben in dieser Stadt entschließt er sich aus Schwermut und aus Verdruß gegen sein Leben, ohne Wissen des Gesandten, Kriegsdienste anzunehmen, und muntert seinen Vetter zu ebendiesem Entschlusse auf. Er hat nunmehr an diesen Gesandten geschrieben und ihm sein Unglück und seine Gefangenschaft geklagt und zugleich für mich unter dem Namen des Kapitäns Löwenhoek gebeten. Vielleicht vermag dieser Mann etwas zu unserer Befreiung. Adressiert Eure Briefe nach der beigelegten Abschrift an den Sekretär dieses Gesandten; er ist Steeleys guter Freund. Ich würde noch nicht zu schreiben aufhören, wenn wir mehr Papier hätten. Wird Euch denn dieser Brief[65] auch antreffen? Ja, ich hoffe es und tröste mich schon mit einer Antwort von Euch.« –


Mein Gemahl hat, wie er mir erzählte, in allen dreimal an mich geschrieben. Zweimal aus Moskau und einmal aus Siberien. Der andere Brief aus Moskau ist ganz verloren gegangen. Er ist ohngefähr ein Jahr nach dem vorhergehenden und zu einer Zeit geschrieben gewesen, in der es ihm in seiner Gefangenschaft am erträglichsten gegangen. Steeley hatte nämlich durch seine Landsleute und durch ihr Geld den Aufseher der Gefangenen immer mehr gewonnen. Er hatte es so weit gebracht, daß sein Vetter Sidne ihm und meinem Gemahle beigesellet worden war. Durch den Beitritt dieses Unglückseligen, von dem in dem folgenden Briefe eine traurige Nachricht enthalten ist, war ihr Ungemach einige Zeit sehr gemildert worden. Mein Gemahl hat mir von diesem Sidne nicht Gutes genug erzählen können. Er war von Natur liebreich und furchtsam gewesen und bloß Steeleyn zuliebe ein Soldat geworden. Er hatte nach seiner natürlichen Beschaffenheit die Beschwerlichkeiten der Gefangenschaft empfindlicher gefühlt als sie beide; und so traurig er selbst gewesen war: so war er doch, wenn Steeley und mein Gemahl ihren Mut verloren hatten, aus Liebe für sie gelassen und ihr Beruhiger geworden. Der Brief, den mein Gemahl aus der Stadt Tobolskoy in Siberien an mich geschrieben, ist folgender:


»Liebste Gemahlin!


Ich hoffe, daß Ihr noch lebet, weil es mein Herz wünscht, und ich hoffe sogar, daß dieser Brief, den ich in dem entferntesten und schrecklichsten Teile der Welt schreibe, gewiß in Eure Hände kommen soll. Ein polnischer Jude, der nach Tobolskoy handelt und im Begriffe steht, wieder nach Polen abzureisen, ist mein Freund und großer Wohltäter geworden, und vielleicht wird er gar mein Befreier aus der Gefangenschaft. Ich habe ihm vor einem Jahre in einem nah an der Stadt gelegenen Gehölze, wo ich nach dem Willen meines Schicksals noch, wie andere Unglückliche, auf Zobel ausgehen mußte, das Leben erhalten und ihn aus dem Schnee, in den er mit dem Pferde gefallen und fast schon erfroren war, mit der größten Gefahr gerettet. Dieser Mann ist auf die edelste Art dankbar gewesen und hat mir bewiesen, daß es auch unter dem Volke gute Herzen gibt, das sie am wenigsten zu haben[66] scheint. Er hat nicht eher geruht, bis er mich vor den Gouverneur gebracht, bei dem er seines Reichtums wegen in Ansehen steht. ›Herr,‹ sprach er, ›dieser schwedische Offizier hat mir, wie Ihr wißt, das Leben erhalten, und ich habe Dankbarkeit und Geld genug, ihn zu ranzionieren.‹ Der Gouverneur antwortete, daß dieses nicht bei ihm stünde, und daß er ohne Befehl von dem Hofe keinen Menschen freigeben könnte. Darauf gab ihm der Jude einen Beutel mit Golde und bat, daß er mir die beschwerlichen Dienste eines ins Elend Verwiesenen erlassen möchte. Der Gouverneur versprach ihm dieses, doch unter der Bedingung, daß er täglich etliche Kopeken für mich erlegen sollte. Mein Wohltäter bezahlte das Geld mit Freuden auf ein ganzes Jahr voraus und bat sich zugleich aus, daß er mich in dem Gefangenhofe einen Tag um den andern besuchen dürfte. Doch ehe ich Euch meine itzigen Umstände weiter beschreibe: so muß ich Euch erst sagen, wie mir's seit drei Jahren in Siberien gegangen ist, und wie ich in dieses Land gekommen bin.

Wenn Ihr meinen letzten Brief aus Moskau erhalten habt: so werdet Ihr wissen, daß Sidne, Steeleys Anverwandter, nunmehr mit uns an einem Orte verwahret wurde. Das Geld, das Steeley von seinen Landsleuten aufs neue bekommen, langte einige Monate zu, unsere äußerlichen Umstände zu verbessern. Wir durften nicht bloß von der elenden Kost leben, die man den Gefangnen reichte. Wir konnten wenigstens zu Mittage etwas Bessers haben. Wir hatten dem Aufseher lange angelegen, uns einige englische oder französische Bücher zum Lesen zu verschaffen: allein wir erhielten keine. Er gab uns etliche russische Chroniken und einen Popen oder Geistlichen, der uns diese Sprache lehren sollte. Wie froh waren wir, daß wir etwas zu tun bekamen! Es waren sehr mittelmäßige Bücher, und dennoch lasen wir sie wohl zehnmal durch. Wir konnten wenigstens, solange wir sie lasen, nicht an unser Elend denken, und dieser Vorteil war groß genug für die Mühe, die wir anwenden mußten, wenn wir die Geschichte der alten barbarischen Fürsten in Rußland verstehen wollten. Unser Pope vertrieb uns durch seinen Unterricht in der Sprache alle Tage etliche Stunden für ein geringes Geld. Er brachte endlich einige kleine Bücher mit, welche von der griechischen Religion handelten. Er war so unwissend darinne, als man nur sein kann. Steeley widersprach ihm nach seiner Gemütsart sehr oft, und so wenig er noch das Russische sprechen konnte: so konnte er doch genug, um ihn zu widerlegen.[67] Ich und Sidne baten ihn oft, es nicht zu tun, weil wir nach und nach viel Bosheit bei dem Popen merkten. Da endlich unser Geld alle wurde und der Pope auf die Letzt meistens betrunken zu uns kam: so dankten wir diesen Geistlichen ab. Dieses verdroß ihn. Er schalt auf Steeleyn und den armen Sidne, der ihm das letzte Geld für seine Unterweisung auszahlte. Wir suchten ihn bald durch gute Worte, bald durch Stillschweigen zu besänftigen; aber vergebens. Der Branntwein und eine niederträchtige Seele tobten aus ihm, und er lärmte und schrie, bis die Wache hereintrat. Sie fragte, wer es wäre, und der Bösewicht beschuldigte uns, daß wir wider den Zar und die Kirche gesprochen hätten. Die Wache ward über diese Beschuldigung so rasend, daß wir in der Gefahr waren, umgebracht zu werden. Der Oberaufseher kam und versprach dem Popen Genugtuung; wir aber wurden gleich als die größten Missetäter geschlossen. Ach, meine Gemahlin, soll ich Euch unsere damalige Angst beschreiben? Soll ich Euch alles sagen? Wir wurden den andern Tag zum Verhör gebracht. Der Pope, dessen Wort unbetrüglich war, wiederholte seine Beschuldigung zuerst gegen Steeleyn. Mein Freund berief sich auf seine Unschuld; aber vor diesem erschrecklichen Gerichte galt sie nicht. Man verfuhr nach ihrer barbarischen Gewohnheit, die Wahrheit vor Gerichte herauszubringen. Man ließ ihn niederwerfen und ihm die Bodoggen geben, damit er bekennen sollte. Er stund diese Marter vor unsern Augen standhaft aus und ließ unter den Händen der Barbaren, die ihn mit zween Stäben auf den bloßen Leib schlugen, nicht die geringste Klage hören. Als seine Qual vorüber war, ohne daß man ihm ein Geständnis hatte abzwingen können: so kam die Reihe an den unglückseligen Sidne. Der Pope bekannte wider ihn, und Sidne, der mit tausend Tränen und Bitten dieser Marter vergebens zu entgehen suchte, ward endlich niedergerissen. Ich wollte das Gesicht wegwenden, um seiner Qual nicht mit zuzusehen; allein die Wütriche nötigten mich, der nächste Zeuge davon zu sein. Er erduldete sie, ohne sie zu überleben. Sobald man ihm die gesetzte Zahl von Streichen gegeben hatte: so lag er ohne Bewegung da. Man nahm ein Geschirr mit Wasser und goß es ihm über das Gesicht, um ihn wieder zu sich selbst zu bringen; doch es war kein Leben in ihm; und dieses befremdete unsere Richter um desto weniger, weil viele von den Angeklagten unter dieser Marter das Leben einbüßen. Steeley war wegen seines Unvermögens beiseite geschafft! Sidne war tot, und ich erwartete, ohne mir recht bewußt zu sein, mein Schicksal. Der[68] boshafte Pope verlor entweder mit dem Leben des Sidne seine Rachbegierde, oder er hielt sich von mir am wenigsten beleidiget. Er beschuldigte mich keiner Lästerungen wider den Staat, er begehrte nur, daß ich gestehen sollte, daß meine beiden Kameraden welche ausgestoßen hätten. Ich verteidigte mich, daß ich von nichts wüßte. Man befahl, eben die Marter an mir vorzunehmen. Man legte mich auf die Erde und fragte noch einmal, ob ich nichts gehöret hätte. Die Furcht vor der Pein und vor dem Tode bestürmten mich entsetzlich. Dennoch beschloß ich, eher zu sterben, als durch ein falsches Bekenntnis mir das Leben zu retten und es Steeleyn vielleicht zu nehmen. Ich weiß nicht, ob mein trauriger Anblick den Popen zum Erbarmen bewegte; genug, er bat für mich um Gnade und sagte, daß ich vielleicht die Lästerungen nicht könnte verstanden haben, weil ich nicht so viel Russisch könnte, als die beiden andern. Man ließ mich also wieder aufstehen und brachte mich in unser Gefängnis zurück, in welchem ich Steeleyn sinnlos antraf. Ich warf mich zu ihm auf das harte Lager und umarmte ihn mit der einen Hand; denn mit der andern war ich noch geschlossen. Er sprach die ganze Nacht kein Wort und lag in einem gefühllosen Schlummer. Der Morgen brach an. Ich redte auf meinen Freund, und er schlug endlich zu meiner Freude die Augen auf und reichte mir die Hand. Unser Aufseher kam und erkundigte sich, ob Steeley noch lebte. Er ließ mir die Banden abnehmen und schien uns beide zu bedauern. Ich versicherte ihn bei allem, was heilig ist, daß mein Freund so unschuldig wäre als ich. ›Das hilft euch nichts,‹ sprach er. ›Das Zeugnis des Popen als eines Geistlichen gilt, und ihr seid beide verurteilet, nach Siberien geschickt zu werden. Gott helfe euch! Ich kann euch nicht helfen, sonst muß ich alles von dem Popen befürchten. Seid zufrieden, wenn euch die Zunge nicht aus dem Halse geschnitten wird, ehe ihr nach Siberien verwiesen werdet; denn dieses widerfährt denen, die wider den Staat oder die Kirche gesprochen haben. Warum seid ihr so unvorsichtig gewesen und habt den Popen beleidigt? In ein paar Tagen wird man euch nebst andern Gefangnen nach Siberien schicken. Ich werde euch wohl nicht wieder sehen.‹ Ich warf mich neben Steeleyn nieder, der immer noch in seiner Betäubung lag und wenigstens itzt glücklicher war als ich, weil er sich seiner nicht mehr bewußt zu sein schien. Anstatt, daß der Aufseher mir einen Trost hätte zusprechen sollen: so forderte er für die grausame Nachricht, und für seine Dienste überhaupt, noch eine Belohnung. Ich griff in[69] Steeleys Taschen, um für ihn etwas zu suchen; allein die Wache hatte ihm alles genommen. Da der Aufseher kein Geld mehr sah: so schien der Schatten von seinem Mitleiden zu verschwinden. Er ging mißvergnügt fort und ließ mich in einem Zustande liegen, den ich Euch nicht beschreiben kann. Ich versank in Schwermut und Traurigkeit. Von Gott und Menschen in meinen Gedanken verlassen und feindselig im Herzen wider beide, schlief ich, schrecklicher Mensch, ein, indem ich mir den Tod tausendmal wünschte. Es war viele Nächte kein Schlaf in meine Augen gekommen, und meine zerstörten und ermatteten Glieder hatten eine lange Ruhe nötig, wenn sie wieder zu sich selbst kommen sollten. Ich glaube, daß ich länger als vierundzwanzig Stunden in einem Stücke geschlafen habe. Ich erwachte und sah meinen Freund mit aufgeschlagenen Augen neben mir liegen. Er fragte mich, wo Sidne wäre; denn er war weggeschafft worden, ehe Sidne starb. Ich konnte ihm nicht antworten. ›Ist er tot? ach, wenn doch Gott das wollte; so wäre er glücklicher als wir! So ist er nicht mehr in den Händen der Henker?‹ Ich sagte ihm, daß er tot wäre. Ich fragte ihn, ob er noch große Schmerzen empfände, und er fragte mich, ob ich sie noch sehr fühlte; denn er glaubte, daß ich seine Marter ebenfalls ausgestanden hätte. ›Also hat man Euch verschont?‹ fing er nach meiner Erzählung an. ›Nun bin ich doppelt zufrieden. Sidne ist tot, und Ihr habt meine Qual nicht gefühlt. Für beides müssen wir Gott danken.‹

Ich konnte ihm die Nachricht von unsrer Verweisung nach Siberien nicht länger verschweigen. Ich sagte ihm, was ich von dem Aufseher gehöret hatte. Er schien durch das erlittene Unglück schon so unempfindlich geworden zu sein, daß ihn Siberien nicht mehr schreckte. Als ich aber davon anfing, daß man uns vielleicht noch grausamer begegnen würde: so rang er die Hände. ›Nein, nein,‹ schrie er, ›lieber den Tod, tausendmal lieber, als jenes! Wollt Ihr noch leben, wenn man Euch so mißhandelt?‹ Wir überließen uns der Wut und der Verzweiflung vom neuen. Indem trat der Aufseher in unser Gefängnis und kündigte uns an, daß man uns morgen früh nach Siberien abführen würde. ›Wird man uns‹, rief Steeley, ›noch etwas mehr tun?‹ – ›Nein,‹ sprach der Russe, ›nichts mehr, ihr seid beide nur verurteilt, nach Siberien zur Arbeit verwiesen zu werden.‹ Nun schien uns das größte Elend geringe zu sein, da wir nur hörten, daß man keine weitere Gewalt an uns ausüben wollte; und wir fanden in dem Verluste dieser Furcht eine Art des Trostes,[70] den uns alles andre nicht hätte geben können. Steeley wollte dem Aufseher noch eine Belohnung geben, allein sein Geld war ihm genommen. Nachdem er lange gesucht, fand er endlich noch zween Rubel. Er stund vor Freuden zum ersten Male von seinem Lager auf und sagte dem Aufseher, daß er seinen Reichtum mit ihm teilen wollte. Dieser war auch so menschlich, daß er ihm die Hälfte zurückgab. Steeley fragte darauf, wo man den toten Körper des Sidne hingetan hätte, ob er ihn nicht noch einmal sehen könnte. Der Russe antwortete, daß man ihn schon an dem Orte eingescharret hätte, wo die Missetäter begraben würden. ›Er liege, wo er wolle,‹ fing er mit einem tränenden Ungestüm an, ›er ist doch ein ehrlicher Mann und mein Freund: es ist ihm unrecht geschehen.‹ – Ich rief ihm zu, daß er schweigen und sich aus Liebe zu seinem toten Freunde nicht noch unglücklicher machen sollte. Er fragte, ob es nicht noch möglich wäre, einen von seinen Landsleuten zu sprechen; aber daran war nicht mehr zu denken. Nunmehr nahm unser Aufseher Abschied. Wir dankten ihm unaussprechlich für seine Menschenliebe, ob wir sie gleich meistens erkauft hatten. Wir umarmten ihn und fragten ihn immer, ob es auch gewiß wäre, daß man uns nichts weiter tun würde. Er versicherte uns dieses mit dem größten Eide, den sie in ihrer Sprache haben. Wir wollten ihm noch etwas Geld geben, daß er uns zu essen schaffen sollte; denn es war wohl der dritte Tag, daß wir nichts zu uns genommen hatten. Auf einmal ward er großmütig und sagte, daß er uns zu essen und auch ein Glas Branntwein auf unsere traurige Reise und Steeleyn ein Pflaster über den Leib bringen wollte, welches ihm gute Dienste tun würde. Er hielt sein Wort und brachte uns, was er uns versprochen hatte. Wir aßen den Abend ziemlich ruhig und ergaben uns in alles, was uns begegnen würde, weil wir sicher waren, daß uns fast nichts Schrecklichers begegnen konnte. Der Schmerz, den Steeley noch in dem Leibe fühlte, minderte sich durch das empfangne Pflaster. Der Morgen brach an, ohne daß wir geschlafen hatten, und man forderte uns zur Reise auf. Der Aufseher empfahl uns dem Offizier, der uns zu den übrigen acht Gefangnen führte, welche mit uns nach Siberien sollten gebracht werden, und welche, wie ich nachdem erfuhr, meistens vornehme Russen und wegen der Rebellion verdächtig waren. Wir wurden alle zehen auf zwei Fahrzeuge verteilt, und ich hatte gleich das Unglück, daß man Steeleyn von mir trennte und auf den andern Wagen wies. Mehr hatte zu meinem Elende nicht gefehlt. So wie wir auf einer Station[71] ankamen, mußten wir auch wieder fortgebracht werden; also kam Steeley niemals zu mir, und ich habe auf dem ganzen Wege nichts als einzelne Worte mit ihm sprechen können. Drei von meinen Gefährten waren Russen, und ihre Herzen waren so wild als ihre Gesichter. Ihr Unfall machte ihre Gemüter nur mehr erbittert, und sie schämten sich, daß sie, als russische Knees, mit einem Schweden und einem Franzosen, denn dieser war mein vierter Gefährte, ein gleiches Unglück teilen sollten. Der Franzose, der Major gewesen war und sich unglücklicherweise seinem Obersten mit dem Degen widersetzt hatte, ward bald mein Vertrauter, und wir waren um desto glücklicher, weil die Russen kein Französisch verstunden. Er hatte die edlen Meinungen einer guten Erziehung im Felde nicht verloren; und so unterschieden seine Gemütsart von der meinigen war: so machte uns doch das Unglück schon halb zu Freunden. Er hatte ein von Natur ehrliches Gemüt, und das Mißtrauen, das ich anfangs bei ihm merkte, verlor sich völlig, da er mein Herz kennen lernte. Ich bildete ihn auf unserm elenden und beschwerlichen Wege so, wie ich ihn haben wollte, und wie er sein mußte, wenn er mir Steeleys Verlust einigermaßen ersetzen sollte. Je näher wir Siberien kamen, desto unfreundlicher wurden wir an denen Orten aufgenommen, wo man uns weiter fortschaffen mußte. Wir achteten die Niederträchtigkeiten, ich und Remour – so hieß der Franzose – kaum mehr, mit denen man uns begegnete. ›Wir bleiben doch rechtschaffne Leute,‹ sprach der Major immer zu mir, ›wenn uns gleich der Pöbel verunehrt.‹ Er, ich und die vornehmen Russen, wir waren einer so arm als der andere; und wenn wir auch etwas gehabt hätten: so würde uns doch der Pöbel oder unsere eigene Bedeckung nichts gelassen haben: so feindselig geht man mit denen um, die das Unglück haben, nach Siberien bestimmt zu sein. Wir hatten nichts als trocknes Brot, und auch damit waren wir zufrieden. Die Kälte quälte uns am meisten. Niemand empfand sie mehr als der arme Steeley an seinem mißhandelten Körper. Nach ungefähr sechs oder sieben Wochen kamen wir in Tobolskoy an, wohin wir verwiesen waren. Wir fanden, daß ich's kurz sage, hier alles, was eine Gegend fürchterlich und das Elend eines ins Elend Verwiesenen traurig machen kann. Wir wurden dem Gouverneur vorgestellt, und ich hatte das Unglück, von meinem lieben Steeley getrennt zu werden; doch blieb mir Remour. Der Gouverneur legte uns allen nach der eingeführten Gewohnheit einerlei Schicksal auf, nämlich die elende Beschäftigung, Zobel zu fangen, deren Felle an[72] den russischen Hof geliefert werden. Stellt Euch vor, was ein Mann von meinem Stande und von meiner Gemütsart fühlen muß, der sich zu der niedrigsten Verrichtung verdammt sieht, der mit stumpfen Pfeilen in den Wäldern herumirren und Zobel erlegen oder sie mit Fallen fangen und unter den Befehlen solcher Menschen stehen muß, die nicht viel vernünftiger und oft grausamer als Tiere sind. Wenn nicht die größte Plage durch die Länge der Zeit etwas von ihrer Last verlöre; wenn nicht die größten Beschwerlichkeiten dem Körper endlich zur Gewohnheit würden oder – daß ich mehr sage –, wenn Gott denen, die ohne ihre Schuld unglücklich sind, nicht selbst ihr Schicksal durch ihre Unschuld und durch die geheimen Vergnügungen eines guten Gewissens in gewissen Stunden erleichterte: so würde mein Zustand in Siberien ein Stand der Verzweiflung gewesen sein. So elend jeder Tag verstrich: so fand ich doch wenigstens alsdann eine Beruhigung, wenn ich meinen Remour sehen und sprechen und das, was mir begegnet war, und auch das, was ich schon hundertmal gesagt hatte, in seine Seele ausschütten konnte. Ein Sklave zu sein, bleibt allemal das größte Unglück; allein einen Freund in diesem Elende zum Gefährten zu haben, ist zugleich die größte Wohltat. Eine Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm, alles ist ein Trost, der sich nicht ausdrücken läßt, alles ist Mitleiden; und was sucht ein unglückliches Herz, das der Notwendigkeit, elend zu sein, unterworfen ist, mehr als Mitleiden? Ich würde undankbar gegen mein Schicksal sein, wenn ich, da ich Euch mein Ungemach erzähle, nicht auch der kleinen Annehmlichkeiten gedächte, die der Elendeste noch in seinen Umständen zuweilen empfindet. Die Natur der Dinge scheint sich, dem Unglücklichen zu Gefallen, oft zu verändern; und das, was mir im Glücke eine Betrübnis gewesen sein würde, war mir im Unglücke ein Trost. Ich habe, seitdem ich so glücklich bin, weniger ein Sklave zu sein, diesen Spuren der Vorsehung oft mit tiefer Ehrfurcht, obgleich mit einem innerlichen Schauer nachgedacht. Vielmal habe ich, wenn ich der Verzweiflung am nächsten war und in der Ferne einen andern Verwiesenen erblickte, in diesem Augenblicke einen Trost gefunden. Der Tod selbst, der uns sonst so schrecklich scheint, ist mir tausendmal zur Wollust geworden, und der Gedanke von ihm, der uns sonst niederschlägt, hat mich unter der Last, unter der ich seufzte, recht göttlich aufgerichtet. Ich bin in der Vorstellung, daß ich in dieser oder jener Nacht vielleicht sterben könnte, oft so freudig eingeschlafen, als ob ich alles hätte, was ich wünschte. Und[73] wenn ich um und neben mir kein Vergnügen erblicken konnte: so brachte mir die Religion doch oft die Freuden aus einer andern Welt herüber. Nachdem ich also drei Jahre in einer vollkommnen Knechtschaft zugebracht und gleich den andern Gefangnen mir das Brot aus den Händen meiner Gebieter durch eine gewisse bestimmte Anzahl der Tiere, die wir fingen, erkaufen müssen: so ereignete sich diese Begebenheit mit dem polnischen Juden. Dieser dankbare Mann, wie ich Euch schon erzählt habe, hat mich durch seine Fürbitte bei dem Gouverneur und durch sein erlegtes Geld von der Arbeit befreit. Er hat es nach und nach so weit gebracht, daß ich in ein lichter und geraumer Behältnis gekommen bin. Sobald ich dieses nur hatte: so suchte er mir meine Gefangenschaft noch mehr zu erleichtern. Er brachte mir ein bequemes Kleid und entriß mich dem groben und wilden Anzuge, in welchem ich nun schon so lange gegangen war. Schreckliches Kleid, das noch hier vor meinen Augen hängt und mich an das vorige Unglück erinnert! Er brachte mir allerhand Decken und Pelzwerke zum Schlafen, wiewohl mich diese anfangs nur an dem Schlafe hinderten. Seine lange Gewohnheit, hart zu liegen, hatte sie fast unnützlich für mich gemacht. Er besuchte mich oft, und niemals, ohne mir eine Guttat zu erweisen. So sehr mein Zustand von dem vorigen unterschieden war: so war er mir doch nicht angenehm genug, weil ich ihn nicht mit Steeleyn oder mit Remourn teilen konnte. Von Steeleyn hatte mein Wohltäter auf mein Bitten die Nachricht eingezogen, daß er nach Pohem, vierzehn Tagereisen von Tobolskoy, gebracht worden wäre; ob er aber noch lebte, das konnte ich nicht erfahren. Der Jude hat mir ein Geschenk von einem Dutzend Dukaten gemacht, damit ich in seiner Abwesenheit etwas zu meiner Versorgung hätte. Ich wagte es und bat ihn, daß er drei davon Remourn überbringen oder ihm einige Erquickung dafür schaffen möchte, die übrigen hub ich in Gedanken für Steeleyn auf. Er tat es, und das war nicht genug: er brachte es noch denselben Tag dahin, daß Remour etliche Stunden zu mir gelassen wurde. Ich teilte mein Herz mit ihm und alles, was ich hatte. Ich hoffte dieses Vergnügen noch mehr mal zu genießen: allein er ward darauf krank und starb; und ich erhielt nicht eher als etliche Stunden vor seinem Tode die Erlaubnis, ihn zu besuchen, da er kaum noch etliche Worte stammeln konnte. Der Jude setzte, wie er mir versprochen hatte, seine Besuche fleißig fort. Er gab mir allerhand Anschläge, allerhand Nachrichten von dem Gouverneur und sagte mir, daß er bei dem Zar in großen Gnaden stünde, daß er[74] mit ihm in Deutschland gewesen wäre, daß seine Gemahlin aus Kurland gebürtig und eine Vertraute der Katharina gewesen sei. Er erzählte mir ferner, daß der Gouverneur ein großer Liebhaber vom Bauen wäre, und daß ich, wenn ich etwas von der Baukunst verstünde, mir vielleicht gar seine Gnade erwerben würde. Dies war mir eine sehr angenehme Nachricht. Ich sagte ihm, daß ich zeichnen und Risse zu Gebäuden machen könnte; und wenn er mir die nötigen Sachen schaffte: so würde ich wenigstens eine Beschäftigung in meiner Einsamkeit mehr haben. Er tat es, und ich übte mich einige Wochen. Sobald ich einen nicht ungeschickten Riß fertig hatte, so trug ihn der Jude zum Gouverneur. Den andern Tag wurde ich schon zu ihm geholt. Er verstund zu meinem Glücke etwas von der Baukunst und würdigte mich als mein Befehlshaber etlicher freundlicher Mienen und unterredete sich mit mir bald auf deutsch, bald im gebrochnen Latein. Er erschrak, daß ich so fertig Latein sprechen konnte, und von diesem Augenblicke an schien er mich zu bedauern. ›Wenn es bei mir stünde,‹ sprach er, ›so wollte ich Euch die Freiheit schenken; allein Ihr seid auf zeitlebens nach Siberien verbannet, und ich kann nichts tun als Euch Eure Gefangenschaft erträglicher machen. Solange ich lebe, soll Euch alle Arbeit der Gefangnen erlassen sein, ohne daß der Jude etwas weiter für Euch bezahlt. Seid Ihr damit zufrieden?‹ Ich bedankte mich sehr ehrerbietig und sah ihn beweglich an. Ihr könnt leicht denken, warum ich ihn nunmehr bat. Ich nahm alle meine Beredsamkeit zusammen, um ihn zu bewegen, daß er einem Freunde von mir, der zugleich mit mir nach Siberien verwiesen worden und Steeley hieße, ebendie Großmut erzeigen sollte, die er mir erwiesen hätte. ›Ihr bittet mehr,‹ fing er an › als mir zu tun freisteht. Ich will mich entschließen. Itzt könnt Ihr gehen und mir den Riß von dem Gebäude machen, von dem ich mit Euch gesprochen habe.‹ Indem er dieses noch sagte, trat ein sehr schönes Frauenzimmer mit einer viel versprechenden und großmütigen Miene in das Zimmer. ›Wartet‹, rief er mir zu. ›Hier, meine Gemahlin,‹ fuhr er fort, ›ist der unglückliche Schwede, von dem ich Euch neulich gesagt habe. Wenn es Euch gefällt, so könnt Ihr selbst mit ihm reden und ihm etwas zu essen reichen lassen. Ich will ein paar Stunden auf die Jagd reisen.‹ Er ging fort, und seine Gemahlin redte auf eine sehr liebreiche Art mit mir und sagte, daß sie Ursache hätte, an meinem Unglücke teilzunehmen, weil ich, wie sie hörte, ein halber Landsmann von ihr wäre. Sie tat tausend Fragen an mich und belohnte[75] meine Erzählungen mit einer mitleidigen Aufmerksamkeit und mit einer Höflichkeit, die mir alle Furcht benahm, frei und edel mit ihr zu reden. Nichts hörte sie lieber als die vorteilhaften Beschreibungen, die ich ihr von Euch machte, und die Wünsche, Euch, meine Gemahlin, wiederzusehen. ›Ich bedaure Sie,‹ fing sie an, nachdem sie wohl zwo Stunden mit mir gesprochen hatte; ›und ich würde Ihren Verdiensten ein besser Schicksal anweisen, wenn ich dem Hofe näher wäre. Vielleicht ist es möglich, daß ich mit der Zeit etwas zur Rückkehr in Ihr Vaterland beitragen kann. Die ausnehmende Liebe, die Sie wider die Gewohnheit Ihres Geschlechts für Ihre Gemahlin haben, und Ihr Unglück sind genug, mich zu Ihrer Freundin zu machen, und ich kann Ihnen meine Hochachtung nicht entziehen, wenngleich Ihre Gebieter Ihnen als einem Sklaven begegnen. Gefällt Ihnen mein Mitleiden: so beruhigen Sie sich damit in einem Lande, wo die Barbarei die Stelle der Tugend zu vertreten scheint. Ich würde diesen Mittag mit Ihnen speisen, wenn ich meinem Willen folgen dürfte.‹ Darauf langte sie von der Tafel, die schon gedeckt war, eine Flasche Wein und trank mir Eure Gesundheit zu. Ich ward von ihrer Großmut bis zu den Tränen gerührt, und es war mir unmöglich, ihr meinen wahren Namen länger zu verschweigen. Ich warf mich zu ihren Füßen. ›Madame,‹ fing ich an, ›Sie verdienen, daß ich Ihnen auf den Knien für die Freundschaft danke, die Sie mir Unglücklichem schenken. Ich muß Ihnen alles sagen, wenn auch mein Bekenntnis mit der Gefahr meines Lebens verknüpft sein sollte. Alles ist wahr, was ich Ihnen erzählt habe, allein ich heiße nicht Löwenhoek. Nein, ich bin der Graf von G..., und ich bitte Sie bei Ihrer edlen Seele und bei meiner Gemahlin, meinen Namen nicht zu entdecken.‹ Sie hob mich freundlich auf, und ich erzählte ihr mein Unglück bei der Armee. ›O Gott!‹ rief sie, ›sind Sie der Graf von G...? Mein Gemahl hat Ihren Vater als Gesandten in Moskau gekannt. Unglücklicher Graf! Sagen Sie ihm ja nichts davon! Soviel ich Ursache habe, mit seiner Aufführung gegen mich zufrieden zu sein: so hat er doch gegen andere ein hitziges, rachgieriges Herz, und wie bald könnte es nicht geschehen, daß Sie ihn wider Ihren Willen beleidigten! Begegnen Sie ihm ja allezeit mit einer tiefen Unterwerfung, und alsdann am allermeisten, wenn er am gnädigsten mit Ihnen umgeht; außerdem stehen Sie in der Gefahr, noch weit mehr zu erfahren. Er liebt das Geld, und es wird gut für Sie sein, wenn ihm der Jude von Zeit zu Zeit ein Geschenk macht. Ich habe kein Geld,‹[76] fuhr sie fort, ›um Ihnen zu die nen; allein ich habe Juwelen, von denen mein Gemahl nichts weiß; davon will ich Ihnen einige holen. Der Jude ist ein ehrlicher Mann und wird Ihnen doch wenigstens die Hälfte so viel dafür geben, als sie wert sind; allein ich wollte es nicht gern, daß Sie ihm sagten, von wem Sie solche bekommen hätten.‹ Sie brachte mir darauf zwo goldne Einfassungen, die, wie ich mußmaßte, von ein paar Porträts abgenommen waren. Sie waren mit kostbaren Steinen besetzt. ›Nehmen Sie‹, sprach sie, ›dieses Geschenk als einen Beweis an, daß es mir nicht an dem Willen fehlt, Ihr Elend zu mindern. Ich zweifle, daß ich jemals wieder die Gelegenheit erhalten werde, Sie allein zu sprechen; darum wiederhole ich Ihnen mein Mitleiden und meine Hochachtung und bitte Sie, auch alsdann in mir eine Freundin zu erkennen, wenn ich genötigt sein werde, die Person einer Gebieterin anzunehmen. Begeben Sie sich nunmehr wieder in Ihren einsamen Aufenthalt. Ich will sehen, ob ich's bei meinem Gemahle so weit bringen kann, daß Ihr Freund, von dem Sie mir erzählt haben, zu Ihrer Gesellschaft hieherverlegt wird. Gewiß kann ich's Ihnen nicht versprechen. Gehen Sie und leben Sie wohl, armer Graf!‹ Ich kehrte als im Triumphe zurück und hielt mich nunmehr unter den Händen der Barbaren für geehrt und glücklich; so sehr erfüllte das Mitleiden dieser so großmütigen Seele mein Herz mit Hoheit und Hoffnung. Mein Jude besuchte mich den Tag darauf. Und ehe ich ihm erzählte, wie ich von dem Gouverneur aufgenommen worden: so sagte ich ihm, daß ich so glücklich gewesen wäre, in dem alten Kleide meines verstorbenen Freundes, das er, da er bei mir war, zurückließ, weil ich ihm ein neues gab, und das ich itzt vor mir hingelegt hatte, einige Kostbarkeiten zu finden, wodurch ich ihm vielleicht die Kosten ersetzen könnte, die er als mein Freund für mich zeither aufgewandt hätte. Er betrachtete die beiden Einfassungen mit Erstaunen und schien mein Vorgeben zu glauben. ›Das sind fürstliche Kostbarkeiten,‹ fing er an, ›und ich kann Euch meine Aufrichtigkeit nicht besser beweisen, als daß ich Euch sage, daß sie fünf- bis sechstausend Taler wert sind. Wollt Ihr mir sie anvertrauen: so will ich sie Euch bei einem Juden, der Steine einkauft, verhandeln.‹ – ›Ein Mann,‹ sprach ich, ›der mir so viel Gutes erwiesen hat, wie Ihr, verdient das größte Vertrauen.‹ – ›Allein,‹ versetzte er, ›was wollt Ihr mit so vielem Gelde anfangen? Man könnte es Euch über lang oder kurz nehmen. Wißt Ihr, was ich machen will? Ich will das Geld, das ich dafür bekomme, bei einem[77] Juden, der hier wohnhaft ist, niederlegen; er soll Euch nicht um einen Groschen betriegen. Ich will ihm und, wenn ich binnen acht Tagen wieder zurück nach Polen reise, auch dem Gouverneur sagen, daß ich Euch als dem Erhalter meines Lebens soundsoviel zu Eurer Versorgung und, wenn es möglich wäre, zu Eurer baldigen Befreiung zurückgelassen hätte.‹ Kurz, ich war alles zufrieden. Er verkaufte die Juwelen für fünftausend Taler und brachte mir tausend bar und das übrige durch eine Anweisung mit. Ich bot ihm für seine treuen Dienste zweihundert Taler an; allein er nahm sie unter keiner andern Bedingung, als daß er sie bei seiner Abreise dem Gouverneur schenken wollte, damit er mir günstig bliebe. Dies ist geschehen. Er hat mir durch meinen lieben Juden versprechen lassen, daß ich Steeleyn gewiß zu mir bekommen sollte, zumal wenn er auch etwas von der Baukunst verstünde. Der Jude selbst steht nunmehr im Begriffe fortzureisen. Ich verliere sehr viel an diesem treuherzigen Manne; doch ich will ihn gern verlieren, wenn er das Werkzeug ist, durch den Ihr von mir und ich von Euch eine Nachricht erhalte. Er kennt meinen wahren Stand, und er hat mir's auf die heiligste Art versprochen, weder mich zu verraten noch zu ruhen, bis er Euren Aufenthalt in Livland ausfindig gemacht. In dieser letzten Absicht hat er hundert Taler zu Reisekosten von mir angenommen. Er kömmt, der ehrliche Mann, und will Abschied nehmen und seinen Brief haben. Ich umarme Euch, wo Ihr auch seid, mit der treuesten Liebe. Möchten doch meine Umstände so bleiben, wie sie itzt sind! so hoffe ich noch, Euch wiederzusehen und all mein ausgestandnes Elend in Euren Armen zu vergessen. Bittet den Himmel um diese Glückseligkeit. Ja, meine liebste Gemahlin, er wird sie uns noch schenken.

P.S. Ich habe, weil Steeley noch nicht zugegen ist, an seinen Vater nach London und auch an den englischen Gesandten nach Stockholm geschrieben und unter dem Namen Löwenhoek beiden von meines Freundes neuem Unglücke Nachricht gegeben.«


Dieses sind die beiden Briefe, die mein Gemahl in seiner Gefangenschaft an mich geschrieben. Er hat, von dem Abgange des letzten Briefes an, ungefähr noch anderthalb Jahr in Siberien zugebracht. Ich will das übrige so erzählen, wie er mir's mündlich erzählet hat.

»Einige Wochen nach des Juden Abreise«, sprach er, »ward ich zum Gouverneur geholt. Ich übergab ihm mit vieler Demut den[78] Riß, den er mir zu machen befohlen hatte. Er war ziemlich wohl damit zufrieden; allein er war doch der Gouverneur und ich sein Gefangner. Kurz, er schämte sich, mir eine Art der Hochachtung äußerlich sehen zu lassen, die er mir vielleicht im Herzen nicht ganz abschlagen konnte. Er fragte mich, ob mir der Jude soundsoviel Geld zurückgelassen hätte, und ich beantwortete es mit ja. Darauf befahl er, daß der Gefangne hereintreten sollte; dieses war mein lieber Steeley, den ich fast seit vier Jahren nicht gesehen hatte. Ich vergaß vor Freuden, daß ich vor dem Gouverneur stand, und lief auf Steeleyn mit offenen Armen zu. ›Er soll Euer Gesellschafter sein,‹ fing der Gouverneur an; ›allein wie lange, das kann ich Euch nicht sagen.‹ Ich verstund diese Sprache und bat, ob er sich nicht wollte gefallen lassen, daß ich tausend Taler zum Unterhalte meines Freundes erlegen dürfte. Er sagte, daß er sie zum Pfande, daß wir seine Gnade nicht mißbrauchen würden, annehmen wollte. Der Jude, von dem ich die Anweisung bei mir hatte, ward gefordert und bezahlte die tausend Taler. Er erhielt zugleich die Erlaubnis, mich anstatt des abgereisten Juden zu besuchen und mich mit dem Notwendigen zu versehen. Nunmehr durfte ich an der Hand meines Steeleys, der noch wie in einem Traume war und nichts als etliche abgebrochne Worte zu mir gesprochen hatte, nach meinem Behältnisse eilen. Unsere erste Beschäftigung, als wir allein waren, bestund darinne, daß wir einander eine lange Zeit ansahen, ohne ein Wort zu sprechen. Alsdann suchte ich ihm Wäsche und eine Kleidung, womit mich der Jude noch vor der Abreise versorget hatte; allein er war nicht vermögend vor trunkner Freude, sich allein anzukleiden, ich mußte ihm helfen. Er sah die Sachen, die ich ihm gab, recht mit Erstaunen an, als ob er ihren Gebrauch vergessen hätte. Da er endlich angekleidet war: so betrachtete er sich mit unersättlichen Augen und weinte. Ich hatte ihn schon oft gefragt, wie es ihm gegangen wäre; und er hatte mir nichts geantwortet als: ›wie es mir gegangen ist, mein lieber Graf, wie es mir gegangen ist?‹ Ja, ich würde ihm, ungeachtet meiner Neugierigkeit, doch nicht haben zuhören können, wenn er mir auch meine Fragen beantwortet hätte; so bestürmt war ich von den Trieben der Freundschaft und der Freude. Ich reichte ihm ein halbes Glas Wein, denn mehr hatte ich nicht, und erinnerte ihn, wie er mich einmal in Moskau damit traktiert hätte. Wir wurden nach und nach unsrer mächtig. Wir hatten einander so viel zu erzählen, daß wir nicht wußten, wo wir anfangen sollten. Unter diesen Unterredungen verstrichen[79] ganze Tage und Nächte, und ebensoviel unter den Wiederholungen unserer Begebenheiten. Steeley hatte in seinem Elende weit mehr erlitten als ich. Ohne Mitleiden, ohne Freund, war er die ganze Zeit ein Sklave und, was noch mehr ist, ein Gefährte des boshaften Mitgefangnen, des Knees Eskin, gewesen. Dieses Ungeheuer hat ihm seine Hütte des Abends zur Hölle gemacht, wenn er den Tag über die Last der Sklaverei überstanden. Von tausend niederträchtigen Streichen, vor welchen die Natur erschrickt, will ich nur einen erzählen. Steeley war krank worden und hatte sich etliche Tage nicht von seinem Lager aufrichten können. Er hatte sich also genötigt gesehen, da Eskin des Abends aus den Wäldern zurückgekommen, ihn zu ersuchen, daß er ihm das Gefäß mit Wasser reichen möchte, weil ihn sehr durstete. ›Also durstet Euch recht sehr?‹ spricht Eskin. ›Das ist mir lieb. Es hat mich vielmal auch gedurstet, und Ihr seid gegen einen Fürsten doch nur ein Nichtswürdiger.‹ Darauf nimmt er das Trinkgeschirr und trinkt, und alsdann wirft er's Steeleyn vor die Füße und lacht: ›Da! so viel gehört Euch!‹ Braucht man wohl mehr zur Verzweiflung, als so einen Unmenschen um sich zu haben? Nach einer Zeit von einem Jahre und nach unzähligen Beleidigungen wird dem Eskin, der sich gegen einen von seinen Aufsehern in der Raserei vergangen, so übel mitgefahren, daß man ihn halbtot in sein Behältnis schleppen muß. Man entzieht ihm zween Tage das Brot; aber Steeley ist so großmütig und teilet das seinige mit ihm. Er reicht ihm, sooft er kann, das Trinken. Er wäscht ihm sogar die Wunden aus; und damals hat ihm der Russe die Hand gedrückt und zu ihm gesagt: ›Vergebt mir's, daß ich nicht ebenso an Euch gehandelt, als Ihr an mir tut.‹ Er hat ihm nach diesem weniger Verdruß angetan. Sein ganzes Glück, das ihm in seiner Abwesenheit von mir begegnet ist, besteht in einer kleinen Freundschaft, die ihm ein kosakisches Mädchen in dem letzten Jahre vor seiner Zurückkunft nach Tobolskoy erwiesen. Sie beweist, daß es auch unter dem wildesten Volke noch edle und empfindliche Herzen gibt. Steeley war eines Tages auf seinem Reviere um Pohem so glücklich gewesen, die gesetzte Zahl seiner Zobel bald zu fangen. Auf dem Rückwege nach der Stadt hatte er sich, um auszuruhen, bei einer Quelle niedergeworfen. Darauf kömmt ein wohlgebildetes Mädchen zu ihm und sieht ihn lange starr an. Endlich setzt sie sich nieder und trinkt mit der hohlen Hand aus der Quelle. ›Armer Fremdling,‹ fängt sie an, ›wollt Ihr nicht auch trinken?‹ Steeley sagt, daß er's schon getan hätte. ›Aber‹,[80] spricht sie, ›wollt Ihr denn nicht einen Trunk Wasser aus meiner Hand annehmen? Tut es doch, Ihr dauert mich, sooft ich Euch gehen sehe; und ich bin nicht hiehergekommen, um zu trinken, sondern um Euch dieses zu sagen.‹ – Steeley erschrickt und weiß selbst nicht, was er sagen soll. ›Ach,‹ fährt sie fort, ›Ihr wollt mir nicht antworten? Nun dauert mich's, daß ich Eurentwegen hiehergegangen bin. Wartet nur, ich will nicht wiederkommen!‹ Er sieht sie darauf traurig an und sagt, daß er ihr für ihr Mitleiden recht sehr verbunden wäre, und reicht ihr zur Dankbarkeit die Hand. Diese drückt sie bald an den Mund, bald an die Brust. Sie spielt mit seinen schwarzen Haarlocken und wiederholt ihre Liebkosung auf zehnerlei Art. Er will nunmehr fortgehen. ›O,‹ spricht sie, ›wartet doch, ich kann mich an Euch gar nicht satt sehen. Ich wollte, daß alle Männer in diesem Lande so aussähen wie Ihr; alsdann würde es recht hübsch in Siberien sein. Und wenn Ihr ja gehen müßt, werdet Ihr Euch nicht bald wieder hierhersetzen? Ich habe Euch so viel zu sagen, und ich weiß nicht, was es ist. Ich wußte es; ehe ich zu Euch kam, und nun habe ich's über Euren Haaren vergessen.‹ Indem sieht sie in die klare Quelle und sieht ihr Bild darinne. ›Aber sagt mir nur‹, spricht sie, ›sehe ich denn wirklich so, wie hier im Wasser? Ich habe ja auch schwarze Augen wie Ihr. Eure gefallen mir, gefallen Euch denn meine auch? Sind meine Zähne auch so weiß wie Eure?‹ – ›Ja,‹ spricht er, ›Ihr seid schön, aber laßt mich gehen, ich bin ein unglücklicher Mensch.‹ Darauf geht sie mit tränenden Augen fort. Als Steeley den andern Morgen wieder in sein Revier geht: so sitzt sie schon an der Quelle und wartet auf ihn. Sie nötigt ihn, daß er sich niedersetzen und ein Stück Honig und Brot aus ihrer Hand essen muß. ›Seht Ihr,‹ spricht sie, ›ich äße gern selbst; aber ich gönne es Euch doch noch lieber. Und hier habe ich Euch auch etliche Zobel mitgebracht, womit mich meine Liebhaber beschenkt haben. Nun habt Ihr den ganzen Tag nichts zu tun. Sie sollen mir nun alle Tage welche schenken müssen, und ich will sie Euch bringen. Seht mich doch freundlich an! Ihr hört ja, wie gut ich's mit Euch meine.‹ Sie spielt darauf wieder ganz bescheiden mit seinen Haaren und bittet um eine Locke und zeigt ihm eine Schere, die sie zu die ser Absicht mitgebracht. Steeley, dem die treuherzige und doch ehrbare Liebe dieser wilden Kosakin nicht mißfällt, erlaubt ihr diese Bitte. Sie belohnt ihn durch etliche freiwillige Küsse und zeigt ihm von fern eine Hütte, welches die Hütte ihres Vaters wäre. Darauf nimmt sie ein Blatt von einem[81] Baume und bläst. ›Nunmehr wird mein Bruder kommen. Ich hatte ihn bestellt. Wenn du mir die Locke nicht im guten gegeben hättest: so hätten wir dich dazu gezwungen. Fürchte dich nicht, er ist wie ich; er tut dir kein Leid.‹ – ›Siehst du‹, spricht sie, da der Bruder, ein Mensch mit einem ehrlichen wilden Gesichte, näher kömmt, ›das ist der Fremdling, dem ich so gut bin. Betrachte ihn nur und sage es ihm, wie oft ich von ihm mit dir rede. Zeige ihm doch die Gegenden, wo er mit leichter Mühe die Zahl von Zobeln zusammenbringen kann. Ich will auch alles für dich tun. Suche mir hier in der Nähe eine Höhle oder einen Baum aus, wo ich dem armen Fremden künftig etwas Honig und Fisch und Brot hineinlegen kann.‹ Der Bruder verspricht es ihr und geht mit Steeleyn fort und weist ihm verschiedene Vorteile und auch einen Ort, wie ihn seine Schwester verlangt hatte. Diesen hatte sie zur Vorratskammer von ihren kleinen Wohltaten gemacht oder Steeleyn vielmehr entweder des Morgens oder des Abends da erwartet. Sie ist oft ganze halbe Tage bei ihm geblieben, und alsdann hat ihr Bruder ihres Liebhabers Arbeit verrichten müssen. Da Steeley das vortreffliche Herz seiner Schönen wahrgenommen: so hat er sich alle Mühe gegeben, sie zu bilden und ihre edeln Empfindungen von den rauhen Eindrückungen ihrer Erziehung zu reinigen. Sie hat, durch die Liebe ermuntert, im kurzen seine Meinungen und seine Sitten angenommen und so viel Verstand bekommen, daß er sich keine Gewalt mehr hat antun dürfen, ihr gewogen zu sein. Allein dieses Vergnügen hat für beide nicht lange gedauret, weil Steeley nach drei Monaten nebst etlichen andern Gefangnen in eine andre Gegend, zwanzig Werste von Pohem, verlegt worden. Von da ist er nach dem nach Tobolskoy abgerufen worden und hat also seine Freundin nie wiedergesehn.

Wir richteten, da wir nunmehr wieder beisammen waren, unsre Lebensart so gut ein, als es unsre Umstände zuließen. Der Gouverneur hatte mir ein Reißzeug gegeben, und ich mußte durch meine kleine Kenntnis, die ich in der Mathematik hatte, seine Gewogenheit zu behaupten suchen. Ich unterwies Steeleyn in dem, was ich von diesen Dingen wußte, und da er die Rechenkunst, die ihm sein eigener Vater beigebracht, noch sehr gut verstund: so war er in einem halben Jahre in allen diesen Übungen so geschickt als ich. Wir arbeiteten also um die Wette, und der Gouverneur würde uns keine größere Strafe haben antun können, als wenn er uns befohlen hätte, diese Beschäftigung nicht zu treiben und müßig zu sein.[82] Allein er ließ es uns nicht an Arbeit fehlen. Er gab uns Rechnungen, er gab uns tausend alte Risse, die wir abkopieren mußten; und ich glaube, daß kein verfallnes Schloß in Siberien und ganz Moskau mehr war, das wir nicht abgezeichnet haben. Er ließ uns zwar nicht zu sich kommen; allein er besuchte uns fast alle Wochen selbst einmal. Wir belohnten diese Gnade mit der möglichsten Demut, und er belohnte sich für seine Herablassung dadurch, daß er alles besser wußte als wir und uns unmittelbar nach einem zu freundlichen Worte, das ihm entwischt war, einmal gebieterisch anfuhr. Steeley, so sehr ihn sonst der Geist des Widerspruchs und der Stolz seiner Nation belebt hatte, war itzt viel gelaßner. Er schwieg, sobald ihn der Gouverneur tadelte; allein damit war dieser nicht allemal zufrieden. Nein, Steeley mußte reden und ihm in der unwahrsten Sache recht geben. Dieses ward ihm sehr sauer, und er tat es mit einer so gezwungnen Art, daß ihm oft der Schweiß darüber ausbrach, und daß ich würde haben laut lachen müssen, wenn wir an einem andern Orte, als in Siberien gewesen wären. Einsmals traf er uns an, daß wir Schach spielten. Steeley hatte die Steine mit dem Messer geschnitzt, und sie waren freilich nicht gar zu sauber gemacht. Der Gouverneur besahe sie und hielt ihm eine lange Rede, daß keine Symmetrie und keine Sauberkeit darinne zu finden wäre. Mein Freund gab es gern zu und entschuldigte sich, daß er keine Instrumente gehabt hätte. Aber das half alles nicht. ›Wenn sie recht schön sein sollten,‹ sprach der Gouverneur, ›so müßten sie sein, als wenn sie gedrechselt wären, und Ihr seht doch wohl, daß sie nicht so sind, daß sie hier zuviel, dort zuwenig, mit einem Worte, grob und schlecht geschnitten sind.‹ Dergleichen Anmerkungen konnte er ganze Stunden fortsetzen, und Steeley zitterte auf die Letzt vor dem Besuche dieses gebietrischen Pedanten. Er setzte sich oft, wenn wir zeichneten, neben uns und stopfte sich eine Pfeife von unserm Tabake ein. Wenn er ihn endlich mit vielem Appetit aufgeraucht hatte: so warf er die Pfeife hin und tat einen großen Schwur, daß unser Tabak nicht das geringste taugte. Zuweilen pries er uns seine Wohltat, daß er uns die ordentlichen Arbeiten erlassen hätte, und nötigte uns dadurch, ihn demütig zu bitten, daß er uns nicht wieder den andern Sklaven gleichmachen möchte. Oft kam er in dem größten Zorne zu uns und fluchte auf die Gefangnen, ohne zu sagen, was geschehen war, und wir mußten seine unsinnige Hitze mit Ehrerbietung anhören. Ob wir ihm nun gleich unsere verbesserten Umstände zum Teil zu danken hatten:[83] so war er doch bei allen unsern Vorteilen noch unser beständiges Schrecken. Wir kannten seine unmäßige Gemütsart und mußten alle Tage fürchten, daß es ihm einfallen könnte, uns voneinander zu trennen und wieder unter die andern Gefangnen zu stecken. Um diesem Unglücke zu entgehen, ließ ich ihm durch den Juden, der mein Geld in den Händen hatte, ein kleines Geschenk nach dem andern machen.

Ein Jahr war verflossen, seitdem Steeley wieder bei mir lebte. Ich hoffte nun von einem Tage zum andern auf Briefe von Euch, weil der Jude, dem ich den meinigen mitgegeben, nach Tobolskoy handelte und mir also leicht eine Antwort übermachen konnte; allein ich hoffte vergebens. Steeley hatte ebenfalls binnen dieser Zeit nach London und an den englischen Gesandten nach Schweden geschrieben und keine Antwort erhalten. Die Gemahlin des Gouverneurs hatte ich seit der Zeit, da sie mir das großmütige Geschenk gemacht, mit einem Worte, seit dem ersten Male nicht wiedergesehen. Alles dieses machte uns niedergeschlagen; und je erträglicher unsere Gefangenschaft war, desto mehr meldete sich der Wunsch in uns, ihrer gar los zu sein. Und mit was für Rechte konnten wir dies hoffen, da der Krieg mit den Russen und Schweden noch immer fortdauerte? Ich stand eben um die Mittagszeit mit Steeleyn an unserm kleinen Fenster, als ich den Juden mit schnellen Schritten über den Hof durch den tiefsten Schnee laufen sah. Er pflegte um diese Zeit nie zu kommen, und ich schloß aus seiner freudigen Miene, daß er mir einen Brief von sei nem Korrespondenten, dem polnischen Juden, bringen würde. Er brachte mir auch einen Brief, aber von der Gemahlin des Gouverneurs. Sie schrieb mir folgendes.«

Der Graf las mir darauf einen Brief, den ich noch besitze. Ich will ihn hier einrücken.


›Mein Herr!


Ich melde Ihnen eine Nachricht, die ich Ihnen lieber mündlich erteilen möchte, damit ich das Vergnügen hätte, Ihre Freude mit anzusehen und zu genießen. Sie sind frei. Der Befehl wegen Ihrer Befreiung ist gestern mit den neu angelangten Gefangnen angekommen, und Sie sollen morgen nebst vier andern Verwiesenen wieder auf die Art zurück nach der Stadt Moskau gebracht werden, wie Sie hiehergebracht worden sind. Alsdann haben Sie die Erlaubnis, sich hinzuwenden, wo Sie hin wollen. Ich habe Ihnen Ihre[84] Freiheit durch eine von meinen Freundinnen bei Hofe ausgewirkt. Mein Gemahl weiß es nicht, daß ich mich Ihres Unglücks angenommen habe, und er soll es auch nicht wissen; auch nicht die Welt. Ich bin zufrieden, daß Sie es wissen. Und vielleicht wäre mein Dienst viel großmütiger, wenn ich Ihnen solchen nicht selbst bekanntgemacht hätte. Ich war es willens; allein ich war zu schwach; und ich sehe, daß es leichter ist, eine gute Tat zu unternehmen als sie zu verschweigen. Vergessen Sie diese kleine Eitelkeit, durch die ich mich für meine guten Absichten selbst belohnt habe. Ich zweifle, daß ich das Vergnügen haben werde, Sie vor Ihrer Abreise noch zu sprechen, wenigstens doch nicht allein. Ich wünsche Ihnen also mit der größten Aufrichtigkeit das Glück, Ihre Gemahlin bald wiederzufinden. Wie wird sie mich lieben, daß ich ihr ihren Grafen wiedergeschafft habe! Für Ihren Freund, den Sie hier zurücklassen, will ich sorgen. Leben Sie wohl und schreiben Sie mir künftig, ob Sie Ihre Gemahlin angetroffen haben. Wenn meine Wünsche erfüllet werden: so hoffe ich das betrübte Land, aus dem Sie eilen, noch mit meinem Vaterlande zu verwechseln. Doch nein, ich Unglückliche werde wohl hier mein Leben beschließen müssen. Schreiben Sie mir ja! Ich habe noch eine Stiefschwester in Kurland, an die ich Ihnen den beiliegenden Brief mitgebe. Sollten es Ihre Umstände verlangen: so glaube ich, daß Sie sehr gut bei ihr aufgehoben sind. Sie ist eine Witwe; doch habe ich seit zwei Jahren keine Nachricht von ihr. Leben Sie noch einmal wohl!

Amalia L...


Diesen Brief las ich und taumelte vor Freuden in Steeleys Arme und wollte ihm sagen, was darinne stünde; allein er wartete meine Entzückungen nicht ab. Er riß mir ihn aus der Hand und las ihn. Ich legte mich mit dem Kopfe auf seine Achsel, um die Bewegungen nicht mit anzusehen, die ihm die Nachricht von meiner Befreiung und seiner fortdauernden Gefangenschaft verursachen würde. ›Ihr seid frei‹, fing er an, ›und ich verliere Euch und bleibe noch ein Gefangner und werde noch unglücklicher als zuvor? Das ist schrecklich. Hat Euch der Himmel lieber als mich? Doch ich werde Zeit genug zu meinen Klagen haben, wenn Ihr nicht mehr bei mir seid. Ich weiß, daß es Euch unmöglich ist, mich zu vergessen. Nein,‹ fiel er mir um den Hals, ›Ihr vergeßt mich nicht!‹ Ich konnte ihm vor Wehmut lange nicht antworten, und mein Stillschweigen, das doch nichts als Liebe war, machte ihn so hitzig, als ob ich schon[85] die größte Untreue an ihm begangen hätte. Ich ließ seinen Affekt ausreden, und nach einem kleinen Verweise sah ich ihn beschämt und gelassen genug, ihm mein Herz zu entdecken und ihn zu überführen, wie unvollkommen mir meine Freiheit ohne die seinige wäre. Ich nahm mit dem Juden die Abrede, daß er mir das Drittel von meinem Gelde zur Reise geben und das übrige für Steeleyn zurückbehalten und uns für seine Mühe, soviel er wollte, abziehen sollte. Der Jude war vorsichtiger als ich. Er sagte mir, daß ich wenig Bargeld mitnehmen sollte, weil ich in der Gefahr stünde, auf der Reise nach Moskau zehnmal darumzukommen. Er gab mir etwas weniges bar und tausend Taler und darüber in vier Wechseln an Juden in Moskau, damit ich, wenn ich einen verlöre, doch nicht um alles käme; so ehrlich handelte dieser Mann an mir. Ich ward noch vor dem Abend zu dem Gouverneur gerufen. Er lag an dem Podagra krank und kündigte mir meine Freiheit auf dem Bette im Beisein seiner Gemahlin an. Er reichte mir die Hand und sagte: ›Ich habe Befehl, Euch wieder nach Moskau zu schicken, und es soll morgen zu Mittage geschehen. Ich verliere Euch zwar ungern; aber reiset mit Gott und seid glücklicher, als Ihr bisher gewesen.‹ Ich küßte ihm die Hand aus einer wahren Dankbarkeit und bat um seine fernere Gnade für Steeleyn. ›Wenn ich lebe,‹ sprach er, ›so soll es ihm nicht schlechter ergehen als zeither.‹ Er hieß mich niedersitzen (eine Ehre, die er mir zum ersten Male erwies) und sagte, daß er noch viel mit mir zu reden hätte; allein seine Schmerzen meldeten sich so heftig, daß er mir winkte, ihn zu verlassen. Ich tat es und wiederholte seiner Gemahlin im Herausgehen durch eine dankbare Miene die Größe meiner Verbindlichkeit und ihrer Wohltat. ›Lebt wohl, mein Herr‹, sprach sie und wandte sich den Augenblick wieder zu ihrem Gemahle. Sobald ich wieder bei Steeleyn war, so schrieb ich an meine Erretterin, weil ich dieser großmütigen Seele nicht mündlich hatte danken können. Ich gab den Brief dem Juden, der unterdessen die Wechsel besorgt und mir Pelze und andere Notwendigkeiten geschafft hatte, um mich vor der großen Kälte zu schützen. Nunmehr war alles verrichtet, und nun überließ ich mich meinem Freunde die ganze Nacht hindurch. Wir redeten, wir weinten und empfanden alles, was wir nach unsern verschiedenen Umständen empfinden konnten. Der Morgen übereilte uns und ebenso der Mittag, und wir hatten bis auf den letzten Augenblick einander noch, ich weiß nicht was, zu sagen. Der Jude kam und sagte, daß die Schlitten, die mich nebst den übrigen Befreiten[86] fortführen sollten, gleich zugegensein würden. Wir nahmen Abschied, ohne zu reden, und ich vergaß mich in den Armen meines redlichen Steeleys, bis mich die Aufforderung der Wache von ihm losriß. Er stieß mich fort, und in dem Augenblicke wollte er mir auch nachlaufen; allein man verschloß die Türe, und mein Jude führte mich bis in den Schlitten und rief mir noch die freundschaftlichsten Wünsche nach.

Ich ward nebst drei andern auf einen Schlitten gesetzt, denen Hoffnung und Freude aus den Augen leuchteten. Ich kann nicht sagen, was in den ersten Stunden, ja fast in den ganzen ersten beiden Tagen in meiner Seele vorging. Ein Übermaß von freudigen Wallungen und betrübten Regungen überströmte mein Herz wechselweise. Man begegnete uns an den Orten, wo wir frische Renntiere bekamen, nicht so verächtlich als damals, da wir auf dem Wege nach Siberien waren. Meine Gesellschafter waren drei Russen. Sie hatten Geld und versorgten sich an allen Orten mit so vielem Branntweine, daß sie auf der ganzen Reise fast nicht nüchtern wurden. Sie haben mich indessen nie mit Willen beleidigt, und ich würde ihre Freundschaft erhalten haben, wenn ich mit ihnen getrunken hätte. Wir waren zu Ende des Märzes in Moskau. Ich ward in ebendas Haus gebracht, in dem ich vor fünf Jahren verwahrt gesessen hatte, und fand den vorigen Gefangenwärter noch. In drei Tagen ward ich völlig losgelassen und bekam einen Paß, und nun konnte ich mich hinwenden, wo ich hin wollte. Ich hatte meine Wechsel noch alle und begab mich nunmehr zu den englischen Kaufleuten, welche Steeleyn vor dem beigestanden hatten, und übergab dem einen, welcher Tompson hieß, ein Billett von ihm. Er nahm mich sehr liebreich auf und sagte mir, daß ihm Steeleys Unglück, nach Siberien verwiesen zu werden, durch den Gefangenwärter wäre hinterbracht worden, daß er's alsbald nach London an seine Freunde gemeldet und seit drei Jahren verschiedene Briefe an den englischen Agenten in Moskau erhalten hätte. Zu diesem gingen wir den andern Tag. Der Agent war der liebreichste Mann von der Welt. Er wies mir die beweglichsten Briefe, die Steeleys Vater an ihn geschrieben hatte. Er wies mir die Memoriale, durch die er bei dem Senate um meines Freundes Befreiung angehalten, und versicherte mich, daß er sie bei der Zurückkunft des Zars, die bald erfolgen sollte, gewiß auszuwirken hoffte. Der englische Gesandte in Schweden hatte ebenfalls an ihn geschrieben und ihn gebeten, alles zu Steeleys Befreiung beizutragen. Er gab[87] mir die Briefe, die er aus London an ihn erhalten hatte, und Tompson führte mich nunmehr zu den Juden, um meine Wechsel zu heben. Ich bekam binnen zehn Tagen mein Geld, zu dem mir Tompson doch wenig Hoffnung gemacht hatte, und büßte nicht mehr als einen Wechsel von hundertundfunfzig Rubeln ein. Der Jude, der mir ihn bezahlen sollte, war in die elendesten Umstände geraten, und seine Mitbrüder versicherten mich, daß sie binnen einem Jahre das Geld für ihn erlegen wollten, wenn er's nicht tun könnte. Ich zerriß darauf den Wechsel und gab dem armen Juden noch zehen Taler von dem übrigen Gelde. Ich bat sie, daß sie mir etliche Briefe an ihren Korrespondenten nach Siberien, von dem ich die Wechsel empfangen, bestellen sollten. Sie sagten mir, daß drei von ihnen ihrer Geschäfte wegen selbst nach Tobolskoy reisen würden, und wenn ich mich zween Monate hier aufhalten könnte: so wollten Sie mir durch die Antwort beweisen, ob sie ihr Wort gehalten hätten. Ich schrieb an meinen Freund; doch ehe der Brief fortging, ließ mich der Agent rufen und sagte mir, daß er endlich so glücklich gewesen wäre, sich um seinen Landsmann verdient zu machen; seine Befreiung wäre in dem Senate unterzeichnet worden, und er hatte das Versprechen erhalten, daß Steeley binnen drei oder vier Monaten aus Siberien zurückgebracht und freigelassen werden sollte. Ich dankte dem Agenten nicht anders, als ob er mir diese Wohltat selbst erwiesen hätte, und eilte, meinem Freunde diese freudige Nachricht zu melden. Die Juden reisten ab, und ich war wirklich willens, Steeleys Ankunft zu erwarten. Doch die Liebe siegte über die Freundschaft, und das Verlangen, Euch zu suchen, machte mir meinen Aufenthalt in Moskau unerträglich. Ich wollte fort, ohne zu wissen wohin. Der Handel in die schwedischen Lande war noch verboten. Ich wollte nach Dänemark, weil ich mir einbildete, daß Ihr Euch vielleicht dahin gewendet haben würdet; allein Tompson beredete mich, daß ich mit einem holländischen Schiffe, dessen Ladung er in Kommission hatte, und das in Archangel segelfertig lag, nach Holland gehen sollte. Er gab mir eine Adresse an den Kaufmann mit, dem die Waren des Schiffs gehörten, und versprach mir, daß er die Briefe von Steeleyn an ihn einschlagen wollte; ich aber sollte bei diesem Manne die Nachricht zurücklassen, wo ich mich von Holland aus hinwenden würde, damit mich Steeley bei seiner Zurückkunft zu finden wüßte. Ich ging also in der sechsten Woche nach meiner Ankunft in Moskau mit dem Schiffe fort, das mich so unvermutet und glücklich zu[88] Euch gebracht hat. Ehe ich Moskau noch verließ: so gab ich Tompson funfzig Taler, um sie nach meiner Abreise unter etliche von meinen gefangenen Landsleuten auszuteilen.«

Dies ist das meiste von dem, was mir mein Gemahl über seine schriftlichen Nachrichten von seinem Aufenthalte in Siberien erzählt hat. Ich habe es hin und wieder zusammengezogen und das, was zur Geographie oder zur Historie dieses Lands gehört, mit Fleiß übergangen, weil ich keine Reisebeschreibung machen wollen. Es hat sich auch seit der Zeit in diesem Reiche vieles verändert, besonders seit der Erbauung der Stadt Petersburg und den großen Anstalten Peters des Ersten, die sowohl in die Natur des Landes als in die Gemütsart der Einwohner einen großen Einfluß gehabt haben.

Ich eile nunmehro zu dem letzten Perioden dieser Geschichte, nämlich zu dem, was nach der Rückkunft meines Gemahls erfolgt ist. Wir lebten in unserer zweiten Ehe, wenn ich so reden darf, vollkommen zufrieden, und mein Gemahl schmeckte auf sein erlittenes Ungemach die Freuden der Liebe und der Ruhe gedoppelt. Er blühete in meinen Armen wieder auf und bekam die erste Lebhaftigkeit wieder, von der ihm das Unglück einen großen Teil entzogen hatte. Die ersten Monate verstrichen uns in der Gesellschaft der Karoline und des Herrn R... meistens unter wechselseitigen Erzählungen. Nichts war kläglicher, als da ich ihm einsmals meine Heirat und die Geschichte meiner Ehe mit dem Herrn R..., und zwar in dem Beisein desselben umständlich erzählen sollte. Der Graf hatte mich die ganze Zeit über bei der Hand, als wollte er mir einen Mut einsprechen. Ich fing die Erzählung mit vieler Dreistigkeit an. Ich war von der Liebe meines Grafen völlig überzeugt. Ich wußte, daß ich ihm niemals untreu geworden sein würde, wenn ich nur die geringste Nachricht von seinem Leben gehabt hätte. Allein alles dieses langte nicht zu, mich in meiner Erzählung zu unterstützen. Ich wollte aufrichtig und doch auch behutsam sprechen; und je mehr ich redete, desto mehr fühlte ich, wieviel Beleidigendes diese Geschichte für den Grafen in sich hatte, und wieviel Kränkendes für mich und für den Herrn R... Ich ward verzagt. Der Graf gab mir die teuersten Versicherungen, daß er durch nichts beleidiget würde; allein ich kam nicht weiter, als bis auf die Geburt meiner Tochter. Ich sammelte alle meine Kräfte; ich fing zehnmal wieder an; doch mein ganzes Herz weigerte sich, mich fortfahren zu lassen; ich schwieg. »Nun«, sprach der Graf mit[89] einer liebreichen Miene, »diese kleine Marter, die ich Euch itzt gemacht habe, das soll die Strafe für Eure Untreue sein,« und umarmte mich. »Und Ihr, mein lieber R...«, fuhr er fort, »schlagt Eure Augen immer wieder auf und seht zu Eurer Strafe Eure vorige Gemahlin in meinen Armen.« Er küßte ihn, und ich mußte es auch tun. »Nein,« sprach er, »sie hat Euch geliebt, und Ihr habt es verdient, und wenn ich sterbe, so liebt sie Euch wieder. Wir haben uns alle kein Vergehen, sondern nur das Unglück vorzuwerfen. Karoline (sie saß bei mir), seht nur, wie Euch meine Gemahlin betrachtet. Kann sie sich wohl besser an mir rächen, als durch Eure Gegenwart?«

Ich war unermüdet, dem Grafen alle die Augenblicke zu ersetzen, die er ohne mich zugebracht. Ich kam selten von seiner Seite und sann bei jeder Gefälligkeit, die ich ihm erweisen konnte, schon auf eine neue. Wenn wir unser Herz ausgeredet hatten: so las ich ihm etwas vor, und wenn ich nicht mehr lesen konnte, so tat er's. Diese glückliche Beschäftigung mit dem Geiste der besten Skribenten, die der Graf so lange entbehrt hatte, nahm uns den größten Teil des Tages weg und breitete ihr Vergnügen über unsere Gespräche, über unsere Mahlzeiten und über alle unsere Zärtlichkeiten aus. Wir hielten keine Gesellschaften und fühlten doch nie die Beschwerlichkeit der Langenweile. Wenn wir mitten in unsern Vergnügungen recht empfindlich gerührt sein sollten: so dachten wir unserm Schicksale nach. Diejenigen, die niemals unter großen Unglücksfällen geseufzt haben, wissen gar nicht, was für eine Wollust in diesen Betrachtungen zu finden ist. Man entkleidet sich in solchen Augenblicken von allem seinen natürlichen Stolze; man sieht, indem man sein Schicksal durchschaut, sein Unvermögen, sich selber glücklich zu machen, und überläßt sich den Entzückungen der Dankbarkeit, die uns nicht länger wollen nachdenken lassen. Der Graf setzte zuweilen ganze Tage zu dieser Absicht aus und wandte sie zu Werken der Guttätigkeit an. Er erkundigte sich nach elenden und unglücklichen Personen; mit einem Worte, Arme, Kranke und Gefangne an diesen Tagen zu erquicken und aufrichten zu lassen, das war seine Zufriedenheit. Oft ließ er auch einige von denen, die schon unter dem Elende grau geworden waren, zu sich rufen und sie an einem Tische zusammen speisen. Es war ihm freilich lieb, wenn er wußte, daß es Leute waren, welche die Guttat verdienten; allein er stellte deswegen nicht die strengsten Untersuchungen an. »Vielleicht«, sprach er, »lassen sie sich durch[90] die Wohltaten bessern, wenn sie boshaft gewesen sind; laßt sie auch der Wohltat unwert sein; sie sind doch Menschen.« Wenn er hörte, daß sie mit dem Essen bald fertig waren: so ging er zu ihnen und ließ sich ihr Schicksal erzählen. Fand er eine Person darunter, die ein edles Herz hatte: so nahm er sich ihrer insbesondere an. R... war sein Gehilfe in dieser Tugend, und wem sie beide nicht als Wohltäter dienen konnten, dem dienten sie doch als vernünftige Ratgeber. Wir fuhren gemeiniglich an diesen Tagen etliche Stunden in die Felder oder in die Gärten spazieren. Einmal hörten wir des Abends, indem wir bei dem Mondenscheine durch die Wiesen gingen und den Wagen am Wege halten ließen, ein jämmerliches Gewinsel. Wir näherten uns ungeachtet des tiefen Grases dem Orte, wo der Schall herkam, und fanden eine junge Weibsperson, welche die Schmerzen der Geburt kaum überstanden hatte und in einem hilflosen Zustande dalag. Herr R..., der bei uns war, fuhr den Augenblick in das nächste Landhaus, um ein Weib und andere Bedürfnisse für die Geburt herbeizuholen, und ich machte mich indessen um die Unglückliche so verdient, als es die Notwendigkeit erforderte. Ich konnte aus ihrem Anzuge schließen, daß sie keine der Vornehmsten und keine der Geringsten war; und ihre Jugend und ihre gute Bildung war genug, uns einen Teil von ihrem Schicksale zu erklären, weil sie selbst nichts als etliche unvernehmliche Worte hervorbringen konnte. Herr R... kam mit einigen Weibern zurück, und wir ließen die unbekannte Elende auf unserm Wagen in das nächste Dorf bringen und kehrten zu Fuße in die Stadt. »Nun«, sprach der Graf, indem wir zurückgingen, »dieser Spaziergang ist viel wert. Wie schön wird sich's auf den Ge danken einschlafen lassen, daß wir zwoen Personen das Leben auf einmal erhalten haben! Das arme Mädchen ist vermutlich aus Furcht der Schande von ihrem Geburtsorte geflüchtet. Wer weiß, welcher Betrüger sie unter dem Versprechen der Ehe um ihre Unschuld gebracht hat.« Ich fuhr mit anbrechendem Tage nebst Karolinen auf das Dorf, und wir fanden die Unglückliche, mit ihrem Kinde auf den Armen, in Tränen zerfließen. Sie war nicht allein wohlgebildet, sie war ausnehmend schön, und eine gewisse schamhafte Miene entschuldigte ihren Fehler zum voraus. »Die Liebe«, sprach sie, »oder vielmehr ein Liebhaber hat mich unglücklicher gemacht, als ich zu sein verdiene. Ich habe mich mit ihm seit zwei Jahren versprochen; allein ein bejahrter Vormund, unter dem ich stehe, und der mir sein eigen Herz aufdringen wollte, hat unsre Verbindung[91] verhindert. Mein Bräutigam, eines Pachters Sohn bei Leiden, hat mich mit meinem Willen entführt und mir versprochen, sich im Haag mit mir niederzulassen und die Handlung zu treiben. Als wir gestern morgens in die Gegend kamen, wo ihr mich angetroffen, sah ich mich durch eine Unpäßlichkeit genötiget, vom Wagen abzusteigen. Mein bis dahin getreuer Liebhaber führte mich in dem Feld herum, um mich durch die Bewegung wieder zu mir selber zu bringen. Ich mußte mich endlich niedersetzen, und sobald er sah, was mir vor ein Schicksal bevorstund, verließ mich der Boshafte unter dem Vorwande, mir jemanden zu Hilfe zu rufen. Ich habe also den ganzen Tag auf seine Zurückkunft vergebens gewartet und bin mehr durch das Entsetzen über seine Untreue als durch die unglückliche Frucht meiner Liebe in den sinnlosen Zustand gekommen, in dem ihr euch gestern meiner so großmütig angenommen. Man kann keine größere Bosheit begehen, als er an mir begangen hat. Er hat mir mein Geschmeide, das mein ganzer Reichtum war, und das wir im Haag zu Gelde machen wollten, mitgenommen. Dennoch hasse ich ihn noch nicht, ja ich würde es ihm mit Freuden vergeben, daß er mich mit der Gefahr meines Lebens verlassen hat, wenn ich nur wüßte, daß es ihn reute.« – Ich suchte sie zu beruhigen und versprach ihr, wenn ihr Liebhaber binnen acht Tagen nicht wiederkäme, sie zu mir zu nehmen und sie und ihr Kind zu versorgen. Er kam nicht, und ich erfüllte mein Wort und ließ das Kind auf dem Dorfe erziehen.

Der Graf war nunmehr ein halb Jahr lang bei mir und hatte nicht das geringste Verlangen, in sein Vaterland zurückzufahren, wenn ihm auch die Erlaubnis dazu wäre angeboten worden. Über dieses wußte er, daß der Prinz, dem er sein Unglück zu danken hatte, noch lebte und bei dem Könige in dem größten Ansehen stund; und was brauchte er mehr, als dieses zu wissen, um an keine Rückkehr zu denken? Aber daß Steeley nicht kam, und daß er auf alle seine Briefe an ihn noch nicht die geringste Antwort erhalten, dieses beunruhigte ihn desto mehr. Von Steeleys Vater hatte er zwar aus London schon vor etlichen Monaten die Nachricht bekommen, daß sein Sohn durch die Bemühungen des englischen Gesandten und durch ein Strafgeld von etlichen tausend Talern seiner Verweisung nach Siberien entlassen worden wäre, von ihm selbst aber hätten er und seine Landsleute in Moskau keine Briefe. Indessen daß der Graf vergebens auf Steeleyn hoffte, begegnete ihm ein andrer vergnügter Zufall. Er war eine Stunde vor der Mahlzeit,[92] wie er zu tun pflegte, mit dem Herrn R... auf das Kaffeehaus gegangen, wo die meisten Fremden einzusprechen pflegten. Kurz darauf ließ er mir sagen, er würde mir einen Gast mitbringen, für den ich ein Zimmer zurechtmachen lassen sollte. Er kam, und der Gast war der ehrliche Jude, der ihm in Siberien so viele Menschenliebe erwiesen, und den seine Geschäfte nach Holland zu gehen genötigt hatten. Mein Gemahl war außerordentlich erfreut, daß er diesem wackern Manne einige Gefälligkeiten erzeigen konnte, und er selbst war ebenso froh, daß er meinen Gemahl so unvermutet und so glücklich angetroffen. Er überreichte mir den Brief aus Siberien, den ich schon eingerückt habe, und versicherte mich, daß er sich in Livland und Dänemark sehr sorgfältig nach mir erkundigt und doch nicht das geringste von mei nem Aufenthalte hätte erfahren können. Sein Herz war wirklich seiner ehrlichen und einfältigen Miene gleich, und seine Sitten gefielen durch sein Herz. Er war schon bei Jahren, und sein grauer Bart und sein langer polnischer Pelz gaben ihm ein recht ehrwürdiges Ansehen. Die freundschaftliche Art, mit der wir mit ihm umgingen und ihm unsere Erkenntlichkeit zu bezeichnen suchten, rührte ihn ausnehmend. Als wir das erstemal von der Tafel aufstunden: so ward der gute Mann ganz betrübt. Mein Gemahl fragte ihn um die Ursache. »Ach,« sprach der Alte, »wenn ich nur so glücklich sein könnte, noch etliche Stunden bei Ihnen zu bleiben! Ich habe mein Tage kein solch Vergnügen gehabt, und niemand ist noch so großmütig mit mir umgegangen, als Sie tun.« Der Graf nahm ihn bei der Hand und führte ihn in das Zimmer, das für ihn zubereitet war. »Seht Ihr,« sprach er, »meine Gemahlin gibt Euch ihr bestes Zimmer ein. Glaubt Ihr nun wohl, daß Ihr uns angenehm seid? Ihr dürft nicht daran denken, uns unter acht Tagen zu verlassen. Nicht wahr, ich wohne hier besser, als in Siberien? Dort habt Ihr mich bedienet, und hier wollen ich und meine Gemahlin Euch bedienen.« Wir taten es; und wir alle, Karoline sowohl als R..., bestrebten uns recht, diese acht Tage unserm Gaste zu Tagen des Vergnügens zu machen. Wenn die Sonne unterging, schlich er sich in sein Zimmer und blieb meistens eine halbe Stunde aus. Wir fragten ihn, als dieses etlichemal geschah, um die Ursache, und er wandte allerhand kleine Verrichtungen vor, bis ihn endlich Herr R... einmal überraschte und auf den Knien beten fand. Als diese acht Tage unter tausend kleinen Vergnügen verstrichen waren: so bat er uns, unsere Wohltaten einzuschränken und ihn wieder fortreisen zu lassen. Er[93] verließ uns einen Tag, um seine Geschäfte zu besorgen, und kam den andern wieder, um Abschied von uns zu nehmen. »Nun«, sprach er, »will ich mit Freuden fortreisen, Herr Graf, und Gott auf meiner Reise danken, daß ich Sie angetroffen habe. Ich bin alt, und ich werde Sie alle in dieser Welt wohl nicht wiedersehen. Ich habe keine Kinder, und wenn ich nicht bei meinem Weibe sterben wollte: so würde ich mich auf meine alten Tage hier niederlassen.« Wir nahmen alle als von einem Vater Abschied von ihm. »Ach Herr Graf,« fing er endlich ganz furchtsam an, »Sie haben mich für meine Dienste reichlich belohnet: aber ich bin gegen Sie noch nicht dankbar genug gewesen, daß Sie mir das Leben mit Ihrer eignen Gefahr erhalten haben. Sie wissen, daß ich mehr Vermögen habe, als ich und meine Frau bedürfen. Ich habe hier in der Bank ein Kapital von zehntausend Talern zu heben. Erlauben Sie mir die Freude, daß ich's Ihrer kleinen Tochter schenken darf, und nehmen Sie den Schein von mir an.« Wir versicherten ihn, daß unsere Um stände so beschaffen wären, daß wir nicht Ursache hätten, ihm einen Teil von seinem Vermögen zu entziehen; allein er beklagte sich, daß wir seine Gutwilligkeit verachten wollten, und zwang uns, das Geschenk anzunehmen. Er ging darauf zu unsrer Tochter und knüpfte ihr noch ein sehr kostbares Halsband um den Hals. Er beschenkte auch das unglückliche Mädchen, was ich zu mir genommen hatte, sehr reichlich und eilte alsdann, was er konnte, um sich seinen Abschied nicht noch saurer zu machen. Der rechtschaffne Mann! Vielleicht würden viele von diesem Volke beßre Herzen haben, wenn wir sie nicht durch Verachtung und listige Gewalttätigkeiten noch mehr niederträchtig und betrügerisch in ihren Handlungen machten und sie nicht oft durch unsere Aufführung nötigten, unsere Religion zu hassen. R... begleitete den Alten etliche Meilen und konnte gar nicht aufhören, seinen uneigennützigen und großen Charakter zu bewundern. Unter allen Merkmalen der Freundschaft, die wir ihm erwiesen, rührte ihn nichts so sehr als dieses, daß ihn der Graf abmalen und das Bild in seine Studierstube setzen ließ.

Auf diese Freude folgte in einigen Wochen eine noch größere und ebenso unvermutete. Andreas, Karolinens Bruder, war gewohnt, alle Jahre seinen Geburtstag zu feiern. Er kam einstens sehr frühe zu uns und sagte, weil er genötiget wäre, auf etliche Wochen zu verreisen, und weil sein Geburtstag morgen einfiele: so wollte er ihn heute feiern und uns bitten, uns gleich mit ihm auf eine Gondel[94] zu setzen und einmal einen ganzen Tag in seinem Hause zuzubringen. Wir ließen es uns gefallen, und weil wir bei dem Tee gleich mit dem Briefe beschäftigt gewesen waren, den mir der Graf durch den Juden aus Siberien geschickt: so baten wir den Andreas, uns nur so lange Zeit zu lassen, bis ich diesen Brief vollends laut hergelesen und der Graf uns das, was wir noch umständlicher wissen wollten, erzählt hätte; denn Karoline und R... saßen bei uns. »Ach,« schrie er ganz ängstlich, »das könnt ihr in meinem Hause auch tun; nehmet den Brief mit und verderbet mir meine Freude nicht, oder ich reise gleich heute fort und traktiere euch gar nicht.« Dieses treuherzige Kompliment nötigte uns, ihm gleich zu folgen. Alles war in seinem Hause wider seine Gewohnheit aufgeputzt, und wir konnten uns in seine großen Anstalten gar nicht finden. »Ich weiß nicht,« sprach Karoline, »was ich von meinem Bruder denken soll. Wenn nur nicht etwan aus diesem Geburtstage ein Hochzeittag wird. Er tut mir zu froh und zu geheimnisvoll.« Wir scherzten mit ihm darüber, als er uns den Tee auftrug, und er lachte auf eine Art, als ob er es gern sähe, daß wir seine kleine List errieten. »Leset nur euren Brief vollends durch,« fing er an, »ich will indessen meine Braut holen oder wenigstens meinen Flaschenkeller zurechtemachen.« Er ging in das Nebenzimmer, und wir vertieften uns wieder in den Brief. Ich fragte nach tausend Kleinigkeiten, welche die Gemahlin des Gouverneurs angingen, deren Brief an ihre Stiefschwester nach Kurland mein Gemahl wieder zurückbekommen hatte, weil sie tot war. R... wollte immer mehr von den wunderlichen Gemütsarten des Gouverneurs wissen, und Karoline blieb bei aller Gelegenheit bei Steeleyn stehen. Andreas trat aus der Nebenstube wieder herein, als wollte er uns zuhören. »Habe ich ihn Euch denn noch nicht genug beschrieben?« sagte mein Gemahl zu Karolinen. »Habt Ihr Euch denn gar in ihn verliebt? Freilich sah er vorteilhaft aus, sonst würde ihm das kosakische Mädchen nicht so gut gewesen sein. Er hatte große schwarze Augen wie Ihr, und –« In dem öffnete Andreas, der nah an der Türe stund, das Nebenzimmer und rief, nach seinen Gedanken, ganz sinnreich: »Sah er etwan wie dieser Herr aus?« und in dem Augenblicke stund Steeley vor uns. Der Graf zitterte, daß er kaum von dem Sessel aufstehen konnte, und wir sahen ihren Umarmungen mit einem freudigen Schauer lange zu. »Nun,« schrie endlich Steeley, »nun sind wir für alle unser Elend belohnet«, und riß sich von dem Grafen los, und ich eilte ihm mit offenen Armen entgegen. »Ach Madame,« fing er[95] an, »ich – ich – ja, ja, Sie sind es – « und das war sein ganzes Kompliment. Der Graf kam auf uns zu, und wir umarmten uns alle drei zugleich. O was ist das Vergnügen der Freundschaft für eine Wollust, und wie wallen empfindliche Herzen einander in so glücklichen Augenblicken entgegen! Man sieht einander schweigend an, und die Seele ist doch nie beredter als bei einem solchen Stillschweigen. Sie sagt in einem Blicke, in einem Kusse ganze Reihen von Empfindungen und Gedanken auf einmal, ohne sie zu verwirren. Karoline und der Herr R... teilten ihre Freude mit der unsrigen, und wir traten alle viere um Steeley und waren alle ein Freund. Dem Andreas mochte unsere Bewillkommnung zu lange dauern; er zog mich und Karolinen beiseite. »Ihr Leute«, sprach er ganz bestrafend, »vergeßt doch nicht, daß ihr Frauenzimmer seid und ... Setzt euch alle nieder, sonst muß ich den ganzen Tag euern Umarmungen zusehen. Tut es, wenn ich nicht dabei bin. Wir wollen heute lustig und nicht so niedergeschlagen sein.« Und damit mußten wir uns niedersetzen. »Herr Graf,« fuhr er darauf fort, »habe ich's nicht listig gemacht?« Wir merkten, daß er für seine Erfindung belohnt sein wollte, und er war es wert, daß wir ihm unser eigen Vergnügen etliche Minuten aufopferten. Mein Gemahl hatte schon zehen Fragen an Steeleyn getan; allein Andreas ließ ihn zu keiner Erzählung kommen. »Seid doch zufrieden,« sprach er, »daß ihr ihn habt, und daß ich ihn euch geschafft habe. Ihr sollt ihn auf den Abend mit zu euch nehmen, alsdann könnte ihr miteinander reden bis wieder auf meinen Geburtstag. Itzt will ich das Vergnügen haben, daß ihr bei mir recht aufgeräumt sein und recht laut werden sollt.« Wir wünschten unstreitig alle, von unserm gebieterischen und uns so unähnlichen Wirte bald entfernt zu sein; allein wir mußten uns ihm aus Dankbarkeit preisgeben, und Steeley schien selbst itzt keine Lust zu haben, uns seine Begebenheiten zu erzählen, außer daß er den Tod des Gouverneurs etlichemal erwähnte. »Und von seiner Gemahlin«, fuhr er zum Grafen fort, »habe ich einen Brief an Euch. Die großmütige Seele! Ich will Euch den Brief aus meinem Koffer langen.« Er ging und Andreas mit ihm. Wir waren es zufrieden, daß uns Steeley einige Augenblicke verließ, nur damit wir das Verlangen befriedigen konnten, einander unsere Lobsprüche von ihm mitzuteilen. »Ist er meiner Liebe wert,« sprach der Graf zu mir, »und gefällt er Euch?« Karoline ließ mich nicht zu Worte kommen. »Herr Graf,« rief sie, »Ihre Gemahlin kann nicht urteilen, sie ist nur von Ihnen eingenommen. Fragen[96] Sie doch mich, ich will's Ihnen aufrichtig sagen, ich und das Mädchen in Siberien, wir –« Hier trat Steeley, mit einem Frauenzimmer an der Hand, herein, aus deren Gesichte Anmut und Freude lachten. Sie ging in Amazonenkleidern, und jeder Zug in ihrer Bildung war ein Abdruck der Gefälligkeit und der Liebe. »Ach Gott!« rief der Graf, »wen sehe ich? Ist es möglich, Madame? oder betrügen mich meine Augen? Das ist zuviel Glück auf einen Tag!« – »Madame,« redete mich Steeley an, indem ich noch vor Erstaunen immer auf einer Stelle stund, »hier bringe ich Ihnen meine liebe Reisegefährtin und bitte für sie um Ihre Freundschaft.« Ich wußte noch nicht, wen ich umarmte, oder wollte es doch nicht so bald wissen, um mein Vergnügen zu verlängern. Sie selbst schien mich aus ebender Ursache in der Ungewißheit zu lassen. »Glaubt es doch,« rief mir endlich mein Gemahl zu, »sie ist es, der ich meine Befreiung zu danken habe; sie hat mich Euch wiedergegeben.« – »Ja, Madame,« fing sie an, »für diesen Dienst suche ich itzt die Belohnung bei Ihnen, und ich bitte nicht um Ihre Freundschaft, sondern ich fordere sie von Ihnen. Ist es Ihnen denn recht lieb, daß Sie mich sehen? Ja, ich sehe es, Sie fühlen ebensoviel als ich, daß ich Sie nunmehr kenne. Ach, Herr Graf, also sind wir nicht mehr in Siberien? Wieviel habe ich Ihnen zu erzählen! Ihr Freund, den Sie mir hinterlassen haben, hat mir viel zuwider getan (hier sah sie Steeleyn mit dem zärtlichsten Blick an), und er mag es Ihnen selber sagen. Aber«, fing sie ganz sachte zu meinem Gemahle an, »wer ist das Frauenzimmer und der Herr?« (sie meinte Karolinen und R...). Der Graf erschrak und wußte nicht, was er in der Eile sagen sollte. »Sie sind – sie sind unsre Freunde und auch die Ihrigen.« Ich nahm darauf Karolinen bei der Hand und führte sie zu ihr, und der Graf tat mit R... ebendas. Wir glaubten, daß Andreas das Geheimnis vor unsrer Zusammenkunft schon verraten hätte: denn die Verschwiegenheit war seine Sache nicht. Allein er hatte – entweder, um uns zu schonen, oder weil er nicht daran gedacht hatte – geschwiegen. Er hatte nicht die Geduld gehabt, unsere Bewillkommung ganz anzuhören. Itzt kam er wieder herein und half uns zum Teil aus unsrer Verwirrung. »Das ist,« fing er zu der Fremden an, »das ist meine liebe Schwester.« In dem Augenblicke ging R... mit niedergeschlagenen Augen aus der Stube, weil er glaubte, daß Andreas auch von ihm anfangen würde. »Geht nicht,« rief ihm dieser nach, »ich will nichts sagen. Der Herr Graf wird es schon selbst erzählen.« – »Ach, mein lieber Graf,« sprach Steeley, »was ist das für ein[97] Geheimnis? Darf ich's und die Madame nicht wissen? Wer ist der Herr R...?« – »Er ist einer von meinen ältesten Freunden, und wenn ich Ihnen alles sagen soll ...« hier sahe er mich an und schwieg. »Er war mein Gemahl,« sprach ich zu meiner neuen Freundin, »ehe ich wußte, daß mein Graf noch lebte. Sie hassen mich doch deswegen nicht? Nein Madame, ich verdiene Ihr Mitleiden und mein Graf« ... »Dieser liebt Euch«, fuhr er fort, »ebenso zärtlich als jemals.« Sie sah mich beschämt an und eilte, mir durch eine mitleidige Umarmung diese traurigen Augenblicke zu verkürzen. Steeley schien wirklich bei dieser Nachricht etwas von seiner Hochachtung gegen mich zu verlieren. Er sah bald mich, bald den Grafen an. »Ist sie denn nicht mehr Eure Gemahlin?« sprach er ganz heftig. – »Sie ist meine Gemahlin,« antwortete ihm der Graf; »beunruhigt Euch nicht. Ich weiß, daß Ihr mich liebt, und mir hat zu meinem Glücke nichts als der heutige Tag gefehlt.« Hierauf ging unsre Freude wie vom neuen an.

Unser stürmischer Wirt nötigte uns alsbald zur Mahlzeit. Ein jedes Wort von uns war eine Liebkosung, und anstatt zu essen sahen wir einander an. »Madame,« fing endlich Steeley zu mir an, »Ihre Augen fragen mich alle Augenblicke etwas. Beneiden Sie mich etwan wegen meiner liebenswürdigen Reisegefährtin? Oder wollen Sie wissen, warum sie nach Holland gegangen ist? Sie will die Juwelen wiederholen, die sie dem Herrn Grafen in Siberien gegeben hat. Wir erfuhren in Moskau, daß wir ihn hier finden würden, und sie wird so lange bei Ihnen bleiben, bis sie ersetzt sind.« – »Ja,« sprach ich, »wir sind dazu verbunden; aber warum nehmen Sie sich der Madame so eifrig an? Erfordert dieses die Pflicht der Reisegesellschaft?« – »Sie hören wohl,« versetzte sie, »daß er das Geheimnis meiner Reise gern entdeckt wissen will; ich soll Ihnen sagen, daß ich ihn liebe, und daß ich ihn aus Liebe hieher begleitet habe. Er verdient und besitzt mein Herz, und ihm meine Hand zu geben, habe ich bloß auf Ihre Gegenwart versparet.« Steeley stund auf und umarmte sie. »Also sind Sie meine Braut?« rief er. – »Ja,« sagte sie, »und um es zu werden, würde ich noch eine See durchreisen. Und Ihnen, mein lieber Herr Graf, Ihnen bin ich mein Glück schuldig, denn ohne Sie würde ich meinen Geliebten nie haben kennen lernen. Sie haben mir ihn in Ihrem ersten Gespräche mit mir so edel beschrieben, daß ich ihm gewogen war, ehe ich ihn sah. Die Vorsehung hat mir mein Unglück durch ihn belohnt, und ich will das seinige durch meine Liebe belohnen. Ich bleibe bei Ihnen; und[98] Sie, Madame, sollen das Recht haben, unsere Verbindung zu vollziehen und einen Tag zu unserer Vermählung anzusetzen, welchen Sie wollen. Ich will meinen künftigen Gemahl von Ihren Händen empfangen.« – »Und ich,« sprach der Graf, »meine Gemahlin von den Ihrigen. Ich will mir sie, da ich die zweite Ehe mit ihr angefangen habe, auch noch einmal vermählen lassen, und dieses soll an dem Tage geschehen, da Sie Ihre Verbindung vollziehen.« Amalie, so hieß Steeleys Braut, ließ darauf einen Pokal und einen Flaschenkeller Wein aus ihrem Zimmer langen. »Kennen Sie das Glas, Herr Graf? Daraus habe ich Ihnen in Siberien die Gesundheit Ihrer Gemahlin zugetrunken. Und aus diesem Glase und von dem Weine, der nicht weit von diesem Lande gewachsen ist, wollen wir sie zum andern Male in Holland trinken. O wie gut wird mir's schmecken!« Sie trank und reichte mir's. Ich sah das Glas und den Wein an und sah meinen Gemahl zugleich in Siberien und in den unglücklichsten Umständen von einer großmütigen Seele bedauert und geschützt; ich sah sie an und trank, und Tränen fielen in den Wein. Kein Wein hat mir in meinem Leben so gut geschmeckt als dieser. Wir schwiegen vor Vergnügen alle still, bis Andreas endlich unser Stillschweigen unterbrach. »Aber, Madame,« fing er lachend an, »wie sah denn der Herr Graf damals aus, da er als ein Gefangner vor Ihnen stund? Sah er vornehm oder nicht? Sah er traurig?« – »Seine Miene«, sprach sie, »richtete sich nach der Art, mit der ich mit ihm redte. Wenn ich ihn recht freundschaftlich bedauerte: so sah er mich zur Dankbarkeit sehr demütig an; und wenn ich einen Augenblick unempfindlich gegen sein Elend schien: so warf er mir mein kaltes Herz mit einer stolzen Miene vor, die mich leicht erraten ließ, daß er aus Unschuld unglücklich und im Elende auch noch großgesinnt war.« – »Aber wie war er gekleidet?« – »Schlechter als ich wünschte. Ein deutsches Unterkleid, sehr abgenutzt, und ein schwarzer russischer Pelz und ein paar Halbstiefeln waren sein Staat. Sein kurzes aufgelaufnes Haar gab indessen seinem Gesichte bis auf etliche Spuren von Kummer, die aus seinen Augen nicht vertrieben werden konnten, ein unerschrocknes Ansehn. Nie war er beredter und in meinen Augen größer, als da er von seiner Gemahlin sprach; und ich tat von diesem Augenblicke an heimlich ein Gelübde, ihm die Freiheit auszuwirken.« – »Aber Ihr verstorbner Gemahl und der Herr Graf«, sprach Andreas, »waren wohl nicht allezeit die besten Freunde?« – »Was dieser getan hat, das bitte ich dem Grafen itzt ab. Ach, vergeben Sie ihm die Fehler[99] seiner Gemütsart und seines Volks, die ich, ungeachtet seiner Neigung gegen mich, mehr als Sie empfunden habe. Unsre Ehe war ein Bündnis, das der Hof schloß, und das ich aus Gehorsam nicht auschlagen durfte. Indessen ehre ich sein Andenken; so wie ich mein Schicksal an seiner Seite geduldig ertragen und mir, wenn ich's sagen darf, vielleicht durch meine Geduld ein besseres verdient habe.«

Andreas ward zu unserm Glücke durch seine Geschäfte von uns gerufen, und seine Abwesenheit ließ uns vertraulicher werden. Steeley wollte dem Grafen erzählen, was seit seiner Abreise aus Tobolskoy vorgegangen; allein er stund alle Augenblicke vor gar zu großer Empfindung still, und wir waren zufrieden, daß wir dieses Mal das Wichtigste von dem erfuhren, was uns Amalie nach dem umständlicher auf folgende Art erzählt hat.

»Wenig Tage nach des Herrn Grafen seiner Abreise«, fing sie auf unser Bitten an, »starb mein Gemahl an dem zurückgetretenen Podagra. Ich berichtete seinen Tod nach Hofe und bat zugleich um die Erlaubnis, nach Moskau zurückzukehren. Die Gewalt, die ich bis zur Ernennung eines neuen Gouverneurs in den Händen hatte, gab mir Gelegenheit, verschiedene harte Verordnungen aufzuheben, die mein Gemahl in Ansehung der Gefangenen ergehen lassen. Ihrem zurückgelassenen Freunde, Herr Graf, konnte ich mehr Bequemlichkeit verschaffen. Ich befahl dem Juden, ihn mit allem zu versorgen, was er nötig hätte, und ließ ihn mutmaßen, als ob er ein Anverwandter von mir wäre. Damals waren meine Wohltaten wohl bloße Wirkungen des Mitleidens. Ich hatte ihn nicht mehr als einmal, und noch dazu in den traurigsten Umständen gesehen, als er auf Ihre Fürbitte durch meinen Gemahl nach Tobolykoy zurückberufen ward. Ich hörte es gern, wenn mir der Jude seine Danksagung für meine Fürsorge überbrachte; und was ich nicht wohl durch Befehle ausrichten konnte, das mußte der Jude durch das Geld, das ich ihm gab, bei den Unteraufsehern zu bewerkstelligen suchen. Er war in ein besser Behältnis gebracht, und ich hatte schon allerhand Mittel ausgesonnen, wie ich ihm bei meiner Rückreise nach Moskau diese erträglichen Umstände dauerhaft machen wollte. Ungefähr nach vier Wochen kam ein Befehl an meinen verstorbenen Gemahl, daß Steeley frei sein und bei der ersten Gelegenheit, die man ihm verschaffen könnte, mit einem Passe versehen und für sein Geld fortgebracht werden sollte. Ich ließ den Morgen darauf den Juden zu mir kommen und sagte ihm, daß er[100] Steeley eiligst zu mir bringen sollte, und daß ich unter der Zeit, da er ihm dieses meldete, die Wache nachschicken wollte, ihn abzuholen. Er kam, und ich ließ ihn nebst dem Juden zu mir ins Zimmer treten. Er stattete mir die Danksagung für meine bisherige Fürsorge auf eine sehr ehrerbietige und gefällige Weise ab und blieb an der Türe des Zimmers stehen. Ich fragte ihn, ob er keine Nachricht von dem Grafen hätte? ob er mit seinen Umständen zufrieden wäre? Er beantwortete das erste mit einem traurigen Nein und das andere mit einem gelassenen Ja. Ich bat ihn, mir eine kurze Erzählung von seinem Schicksale zu machen. Er tat es, und je mehr er redte, desto mehr nötigte er mir durch seine Worte und durch seine Mienen Aufmerksamkeit und Hochachtung ab. Er sah weit besser aus als vor zwei Jahren, und ich weiß nicht, ob ich mir's beredte, oder ob es wahr war, daß ihm der siberische Pelz recht schön ließ. Ich hörte aus seiner Art zu reden nunmehr sehr wohl, daß er ein edelmütiges Herz hatte; und wenn ich ja noch einige Augenblicke daran gezweifelt hatte: so war es viel leicht deswegen geschehen, weil ich bei meinem Zweifel gern widerlegt sein wollte. ›Der Graf‹, dachte ich, ›hat recht, daß er ihn so sehr liebt und so sehr für ihn gebeten hat. Er verdient Hochachtung und Mitleiden; und es ist deine Pflicht, einem so rechtschaffenen und unglücklichen Manne zu dienen.‹ Ich merkte, je mehr er redte, daß etwas in meinem Herzen vorging; allein ich hatte keine Lust, es zu untersuchen, und ich hütete mich zugleich, mein Herz nicht zu stören. Ich nannte meine Regungen bei mir selbst Wirkungen seiner Unglücksfälle und setzte mich in Gedanken nieder und ließ ihn lange fortreden, ohne ein Wort zu sagen. Als er mir die Grausamkeit erzählte, die man in der Stadt Moskau an ihm und dem Sidne begangen: so fühlte ich weit mehr, als da sie mir der Graf erzählt hatte. Es war mir unmöglich, die Tränen zurückzuhalten, und ich wollte doch auch nicht, daß er meine Wehmut sehen sollte. Ich fragte ihn in der Angst, wie alt sein Vater wäre, und wie lange er ihn nunmehr nicht gesehen hätte, nur damit ich das Wort: der arme Mann! das mir mein Herz für ihn abnötigte, nebst einigen Tränen bei seinem Vater anbringen konnte. Ich führte ihn durch ziemlich neugierige Fragen in die Umstände seiner Familie und seiner Jugend zurück. Er fing endlich an, von der traurigen Begebenheit mit seiner Braut in Engelland zu erzählen, und ich ward so gerührt, daß ich recht gewaltsam von meinem Stuhl aufsprang und ganz nahe zu ihm trat; vielleicht hatte ich das letzte schon gewünscht. Er ward bei dieser[101] Erzählung sehr weichmütig und endigte sie mit einem ›Ach Gott!‹ das mir durch die Seele ging. Er schlug die Augen nieder, und es war mir nicht anders, als ob ich sie ihm wieder öffnen sollte. Er sah mich endlich auf einmal mit einer klagenden Miene an, und ich erschrak, als ob er mir ein Verbrechen vorrückte. ›Mein Herr,‹ fing ich an, ›ich will gleich weiter mit Ihnen reden.‹ Ich ging in das Nebenzimmer, um den Befehl wegen seiner Befreiung zu holen. Ich suchte ihn lange vergebens, ob er gleich vor mir lag. Ich schämte mich vor meiner Unruhe und glaubte zu meinem Troste, daß sie von den traurigen Erzählungen herstammte, und daß sie durch die Freude, die Steeley über seine Erlösung haben würde, sich bald verlieren sollte. Ich sah in den Spiegel, ehe ich wieder in das andre Zimmer trat, und ich sah jeden Blick die Unruhe meines Herzens verraten. Ich hatte indessen bei aller meiner Unruhe noch die Geduld, etwas an meinem Kopfputze zu verbessern; und mitten in dem Verlangen, Steeleyn seine Befreiung anzukündigen, überlegte ich noch, wie seine unglückliche Braut ausgesehen hatte, und hielt ihr Bild im Spiegel gleichsam gegen das meinige. Ich bereitete mich auf eine kleine Anrede und öffnete das Zimmer und ging auf Steeleyn zu. Ich fühlte, da ich anfangen wollte zu reden, daß mir der Atem fehlte, und daß ich die Worte nicht wiederfinden konnte, die ich in meinem Gedächtnisse gesammelt hatte. Ich tat also an den Juden etliche gleichgültige Fragen, bis ich mich wieder erholte. ›Ich will nicht länger ungerecht sein‹, fing ich endlich an, ›und Ihnen eine Nachricht vorenthalten, die Sie vielleicht schon lange zu hören gewünscht haben. Verstehen Sie Russisch?‹ Er antwortete mir ängstlich ja, ja und zitterte und machte, daß ich einen kleinen Schauer fühlte. Ich setzte mich nieder und bat ihn, daß er's auch tun sollte. Er weigerte sich, und ich hielt mich für verbunden, ihm selbst einen Sessel zu reichen und mich dadurch an dem mir schon beschwerlichen Zeremoniell zu rächen. Ich las ihm den Befehl vor und sagte endlich zu ihm: ›Von dieser Stunde an haben Sie Ihre Freiheit, und ich bin sehr vergnügt, daß ich die Person habe sein sollen, die sie Ihnen erteilen muß. Sehen Sie mich nicht als Ihre Gebieterin, sondern als Ihre gute Freundin an!‹ Er sprang vom Stuhle auf und küßte mir mit einer unaussprechlichen Freude die Hand; ich ließ ihn diese Dankbarkeit sehr oft wiederholen, als fürchtete ich, ihn zu beleidigen, wenn ich die Hand zurückezöge. Er stammelte etliche Worte vor Freuden hervor, und auch diese Sprache gefiel mir. Ich ließ dem Aufseher der Gefangenen Steeleys[102] Befreiung gleich anzeigen und die Wache, die ihn begleitet hatte, zurückgehen. ›Ich wollte Ihnen‹, fuhr ich fort, ›gern mein Haus zum Aufenthalte anbieten, bis Sie mit einer sichern Gelegenheit nach Moskau zurückkehren können; allein meine Umstände scheinen es zu verbieten. Der Jude wird Ihnen schon eine Wohnung ausmachen. Sie dürfen um nichts bekümmert sein, solange ich noch hier bin.‹ Er nahm Abschied, und ich sah in seinen Augen, daß er mir weit mehr zu sagen hatte, als er sagte, und kränkte mich, daß der Jude zugegen war. Diesem befahl ich, daß er nach der Tafel wieder zu mir kommen sollte. Also war dieser erste Besuch geendiget. Ich trat an das Fenster und wollte ihm nachsehen, und ich fragte mich in diesem Augenblicke, warum ich dieses täte; aber ich tat es doch. Ich setzte mich zur Tafel, und es reuete mich, daß ich ihn nicht bei mir behalten hatte. Der Jude blieb mir schon zu lange, und ich hätte es sicher genug wissen können, daß ich Steeleyn mehr als bedauerte; allein ich fand es für gut, mich zu hintergehen. Ich stellte mir vor, daß Steeley vielleicht mit einer Karawane handelnder Kaufleute durch Hilfe des Juden in wenig Tagen von hier abgehen könnte, und ich verwehrte es ihm in meinen Gedanken schon und wünschte, daß er in meiner Gesellschaft möchte zurückreisen können. Der Jude kam und versicherte mich, daß er seinen Gast sehr wohl aufgehoben und ihn in das Haus gebracht hätte, das er meinem verstorbenen Gemahle vor zwei Jahren abgekauft. Ich er schrak über diese Nachricht, als ob sie von einer Vorbedeutung wäre, und ich war zugleich mit seiner Anstalt zufrieden. Ich rief den alten deutschen Bedienten, der mir von Kurland aus nach Moskau und von Moskau nach Siberien gefolgt war, und den ich itzt noch bei mir habe, und befahl ihm, daß er mit dem Juden gehen und sehen sollte, was der Herr, der heute aus dem Arreste gekommen, in seiner Wohnung brauchte, weil er nach dem Befehle des Hofs bis zu seiner Abreise als eine Standsperson versorgt werden sollte. Er kam wieder und sagte mir, daß er bis auf das weiße Geräte und eine Matratze zum Schlafen mit den nötigsten Möbeln versehen wäre. Ich reichte ihm alles selbst, was er forderte, und zwar von jeder Art das Kostbarste, und war unwillig, daß der Bediente nicht mehr verlangte. Ich sagte ihm, daß er die Stücke genau zählen sollte, damit keines verloren ginge, und mein Herz wußte doch nicht das geringste von dieser wirtschaftlichen Sorgfalt. Ich hieß ihn noch ein Flaschenfutter Wein mitnehmen. ›Und wenn Ihr von ihm geht,‹ fuhr ich fort, ›so könnt Ihr in Eurem Namen fragen, ob[103] er noch etwas zu befehlen hätte.‹ Er kam nicht eher als mit dem Abend wieder. Ich fragte ihn, wo er so lange geblieben wäre. ›Ach,‹ hub er in seiner treuherzigen Sprache an, ›man kann von dem Herrn gar nicht wieder loskommen. Es ist ein rechter lieber Herr; alles, was er sagt, nimmt einem das Herz. O, wenn Sie's nur hätten hören sollen, wie er dem Himmel dankt, daß er ihn aus der Gefangenschaft errettet hat! Er mag recht fromm sein, und ich weiß nicht, wie ihn der liebe Gott nach Siberien hat führen können.‹ Ich wollte ihn, als ich ging, auskleiden helfen. ›Ach,‹ sprach er, ›mein lieber Christian, gebt Euch keine Mühe, ich habe mich in Siberien selber bedienen lernen.‹ Es ging mir recht nahe. ›Er hat auch ein recht gutes Ansehen. Wer weiß, wie vornehm er von Geburt ist, und hat doch in diesem verwünschten Lande so viel ausstehen müssen! Wenn Sie mir's erlauben, so will ich ihn alle Tage etliche Stunden bedienen, damit es ihm wieder wohl gehe. Bei Ihnen läßt er sich für alle Gnade, die Sie ihm erzeigen, ganz untertänigst bedanken und um nichts als ein Buch bitten. Es wird auf diesem Zeddel stehen.‹ Dieser Zeddel war ein französisch Billett von diesem Inhalte:


›Mein Glück scheint mir nur ein Traum zu sein; und Sie überhäufen mich mit so vieler Gnade, daß ich gar nicht weiß, wie ich dankbar genug sein soll. Ich erzähle es dem Grafen und allen meinen Freunden und allen meinen Landsleuten schon in Gedanken, daß ich das großmütigste Herz in Siberien angetroffen habe. Ach, Madame, wodurch verdiene ich Ihre Sorgfalt? und wodurch kann ich sie in dem Reste meines unglücklichen Lebens verdienen? Durch nichts, als durch Ehrerbietung –‹


Dieser kurze Brief gefiel mir sehr wohl. Ich brachte einen großen Teil der Nacht mit einer geheimen Auslegung dieses Briefs zu. ›Wodurch soll ich Ihre Sorgfalt in dem Reste meines unglücklichen Lebens verdienen? durch Ehrerbietung.‹ Ich gab diesem Worte eine Bedeutung, wie sie mein Herz verlangte. Ich freute mich, da ich erwachte, daß der Tag schon da war. Ich eilte und beschloß, Steeleyn des Mittags mit mir speisen zu lassen. Ich konnte den Bedienten nicht finden. Ich vermutete, daß er bei seinem neuen Herrn sein würde, und ich hatte recht. In kurzem kam er. Ich warf ihm vor, daß er mich bald über seinem neuen Herrn vergessen würde, und schickte ihn mit zwei französischen Büchern wieder an[104] Steeleyn und ließ ihn bitten, zu Mittage mit mir zu speisen. Ich ließ etliche wenige Gerichte nach deutscher Art zurichten und ihn zu Mittag in einem Schlitten abholen. Ich hatte mich nicht vornehm gekleidet, um ihm desto ähnlicher zu sein, doch war ich sorgfältig genug gewesen, eine gute Wahl in meinem Anzuge zu treffen. Bei dieser Mahlzeit wollte ich, sozureden, hinter mein eigen Herz kommen und erfahren, ob meine Empfindungen mehr als Freundschaft wären. Mein Gast kam, und seine Miene war heitrer als die gestrige und, wie mich dünkte, weit gefälliger. Er war besser, obgleich noch russisch, gekleidet als gestern. Dankbarkeit und Ehrerbietung redete aus ihm. Ich tat, als ob meine Fürsorge für ihn eine Verordnung des Hofs wäre, und setzte mich ganz allein mit ihm zu Tische. Wir brachten über unsrer kleinen Mahlzeit wohl drei Stunden zu, und es schien mir, daß sie ihm ebenso kurz ward als mir. Er konnte sich noch nicht recht in das Zeremoniell, mit einer Dame und vornehm zu speisen, finden, und ich hatte das Vergnügen, ihn alle Augenblicke durch eine kleine Höflichkeit zu erschrecken; ja, ich erfreute mich, daß ich ihn in der Wohlanständigkeit übertraf, weil ich merkte, daß er mir am Geiste überlegen war. Er mußte mir seine Begebenheiten noch einmal erzählen, und sie rührten mich, als ob ich sie noch nicht gehört hätte. Wir sprachen von dem Grafen, und er bezeigte ein so großes Verlangen, ihn wiederzusehen, daß ich lieber eifersüchtig geworden wäre. Mit einem Worte, mein Gast gefiel mir nach wenig Stunden so sehr, daß ich mir alle Gewalt antun mußte, mich zu verstellen. Ich wünschte in denen Augenblicken, da uns unser Bedienter verließ, daß er mir etwas Verbindliches sagen möchte, nur um zu wissen, ob ich ihm gefiele. Allein er blieb bei der Sprache der Ehrerbietung, und seine Augen redten ebendie Sprache. Er nahm aus einer unglücklichen Höflichkeit, als wir vom Tische aufstunden, Abschied, und ich hatte das Herz nicht, ihn zu bitten, daß er länger bleiben sollte, weil ich mich zu verraten glaubte. Ich ließ ihn also wieder in sein Quartier bringen. Und nun wußte ich's, ob ich ihm gewogen war. Ich war beleidigt, daß er mich schon verlassen hatte. Ich ward unruhiger als zuvor, und ich war es nur mehr, je weniger ich's sein wollte. Ich stellte mir vor, daß ich ihm nicht gefiele, und kränkte mich, daß ich nicht reizend genug war, mehr als Hochachtung von ihm zu verdienen. Ich ward über diese Vorstellung kleinmütig und rächte mich durch Geringschätzung an mir selber. Gleichwohl wollte ich nicht alle Hoffnung fahren lassen und meine Liebe zu[105] ihm mir auch nicht verbieten. Ich beschloß, ihn in drei Tagen wieder zu mir zu bitten. O, was waren das für lange Tage für mich! Der Bediente erzählte mir binnen dieser Zeit, daß sein Herr in seiner Einsamkeit ganz tiefsinnig würde. Wie lieb war mir diese Nachricht! Ich war schwach genug, ihn zu fragen, ob er nichts von mir gesprochen hätte? ›Er lobt Sie über die Maßen‹, sprach er, ›und fragt mich, sooft ich komme, wie Sie sich befinden, und fragt nach allen Kleinigkeiten.‹

Nach drei Tagen war er wieder auf die vorige Art mein Gast. Er kam, und die Unruhe hatte sich in alle seine Blicke verteilet. Er hatte sich durch den Juden ein Kleid nach deutscher Art machen lassen und sah noch einmal so jung aus. Ja, ja, dachte ich, er ist schön, er ist liebenswert, aber nicht für dich. Ich glaubte, ich hätte alles Bange aus meinem Gesichte vertrieben, als er mich bei der Tafel um die Ursache fragte, warum er mich nicht so zufrieden sähe als das letztemal. Ich erschrak über mein verräterisches Gesicht und über die Aufmerksamkeit, mit der er mich betrachtete, und schob die Schuld darauf, daß ich die Erlaubnis noch nicht vom Hofe bekommen hätte, nach Moskau zurückzukehren. ›Aber‹, fuhr ich fort, ›was fehlet Ihnen? Die Freude über Ihre Befreiung herrscht nicht mehr in Ihrem Gesichte. Ist es das Verlangen nach Ihrem Vaterlande, das Sie beunruhiget?‹ – ›Ja, Madame,‹ sprach er mit niedergeschlagnen Augen. O! wie war mir dieses Ja angenehm, das der Ton, mit dem er's aussprach, zu einem Nein machte. ›Haben Sie vielleicht‹, fuhr ich fort, ›noch eine Braut in Ihrem Vaterlande, die Sie erwartet? Warum entziehen Sie sich und mir das Vergnügen, von ihr zu sprechen? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen mit der Hälfte meines Vermögens dienen will, um Ihre Reise zu beschleunigen und Sie von meiner Freundschaft zu überzeugen.‹ Er antwortete mir mit einem verschämten Blicke und sagte weiter kein Wort. Ich wollte nunmehr mein Glück oder Unglück mit einem Male wissen. ›Sie schweigen? Also haben Sie eine Braut in London?‹ – ›Nein,‹ rief er, ›Madame, der Himmel weiß es, daß ich seit dem Tode meiner Braut ohne Liebe gewesen bin. Wie könnte ich Ihnen etwas verschweigen? Ach, wie könnte ich dieses? Ich bitte Sie, vermindern Sie Ihre Gütigkeit gegen mich! Ich bin unruhig, daß ich sie nicht verdiene. Dies ist die wahre Ursache.‹ Nunmehr war ich zufrieden, und er hätte aus meiner plötzlichen Veränderung leicht mein Herz erraten können; allein meine Freude tat bei ihm eine entgegengesetzte Wirkung. Er ward nur trauriger, je mehr ich[106] ruhig war. Ich redte fast allein, und ich studierte seine Augen und sein Herz aus. ›Er liebt dich,‹ fing ich zu mir selbst an, ›und nichts als die Gesetze der Dankbarkeit und Ehrerbietung legen seiner Liebe ein Stillschweigen auf. Er ist verschämt, das wünschest du; und er wünschet, daß du ihn zu dem Fehler nötigen sollst, dir seine Liebe zu gestehen; und dieses verdient er.‹ Ich verdoppelte meine Gefälligkeit, ohne sie über die Schranken der Freundschaft zu treiben. Mein Gemahl hatte ein kostbares Haus gebauet. Ich ließ alle Zimmer auf der Galerie einheizen und führte ihn nach der Tafel in alle, nur damit ich eine Gelegenheit hätte, ihn länger bei mir zu behalten. Als wir in das größte kamen, in welchem die Risse und Abzeichnungen von Festungen und Landschaften hingen; so fragte ich ihn, ob er nicht auch einen Teil von seinen Arbeiten hier finde. Ich sah, daß er nicht auf die Abzeichnungen, sondern auf mich achtgab, und belohnte ihn gleich dafür. ›Ich will Ihnen Ihre Stücke zeigen‹, sprach ich. ›Mein Gemahl hat mir's gesagt, daß die, unter welchen ein S stände, von Ihnen wären. Er mag Sie mit diesen Arbeiten wohl recht gequält haben.‹ – ›Ach,‹ sprach er, ›Madame, Sie könnten mich für alle meine Mühe auf einmal belohnen! Aber nein ...‹ Ich wußte in der Tat nicht, was er verlangte, und ich bat ihn recht inständig, daß er mir's sagen sollte. ›Wollen Sie mir's vergeben,‹ rief er, ›wenn ich's Ihnen gestehe? Denn es ist eine Verwegenheit.‹ – ›Ja,‹ sagte ich. Er öffnete darauf die Türe von dem vorhergehenden Zimmer und wies auf mein Porträt. ›Madame, dieses Geschenk wollte ich mir wünschen, wenn ich Siberien verlasse.‹ Diese Bitte war mir das Angenehmste, was ich von ihm gehöret hätte. Ich gab ihm durch die Art, mit der ich sie anhörte, das Recht, sie zu wiederholen, und er hatte schon das Herz, mich bei der Hand zu fassen und meiner Hand durch die seine, ich weiß nicht was für verbindliche Dinge zu sagen. Ich begab mich geschwind mit ihm in das Tafelzimmer zurück, um gleichsam der Gewalt zu entfliehen, die er meinem Herzen antat. Er merkte seinen Sieg nicht und glaubte vielmehr, mich beleidiget zu haben. Er war von der Zeit an fast ganzer acht Tage hindurch nichts als ein Freund, der mir durch eine strenge Ehrerbietung gefallen, oder ein Gast, der durch eine dankbare Schamhaftigkeit meine Höflichkeiten, die ich ihm alle Mittage erwies, bezahlen wollte. Ich konnte mich in das Geheimnis unsrer Herzen nicht finden. Wir hatten die Erlaubnis, alle Tage miteinander umzugehen. Wir durften uns vor niemanden scheuen als vor uns selbst. Alles stund unter meinen[107] Befehlen, und ich war denen, die um mich lebten, zu groß, als daß ich von ihnen bemerkt zu werden hätte fürchten dürfen. Demungeachtet schienen wir beide bei aller unsrer Freiheit und bei unserm täglichen Umgange, anstatt daß wir vertrauter hätten werden sollen, einander nur desto fremder zu werden. Er hütete sich, mir die geringste Liebkosung zu machen, und ich nahm mich viel mehr als im Anfange in acht, ihm Gelegenheit dazu zu geben. Wir sahen beide nicht, daß die Behutsamkeit, die wir in unsern Reden und in unsern Handlungen beobachteten, nichts als die stärkste Liebe war; oder besser, wir fühlten die Liebe so sehr, daß wir genötiget wurden, uns strenge Gesetze vorzuschreiben. Ich ahmte ihm nach, und er ahmte an Bescheidenheit mir nach; und was war dieser Zwang anders als die Sorge, einander zu gefallen, und die Ungewißheit, wie wir dieses einander ohne Fehler zu erkennen geben wollten? Alle Augenblicke erwartete ich ein vertrauliches Bekenntnis von ihm und hinderte ihn doch durch mein Bezeigen daran und befriedigte meinen Verdruß mit neuer Hoffnung. Wir hatten uns durch einen Umgang von zehen oder zwölf Tagen so ausgeredet, daß wir fast nichts mehr wußten, und wir wurden desto ärmer an Gesprächen, je weniger wir unser Herz wollten reden lassen. Wir spielten gemeiniglich nach der Tafel Schach, ein Spiel, das für Verliebte eher eine Strafe als ein Vergnügen ist, und das uns sehr beschwerlich gewesen sein würde, wenn es uns nicht das Recht erteilt hätte, einander genauer als außer dem zu beoachten. Ich ließ meine Hand mit Fleiß immer lange auf dem Steine liegen, als wenn ich noch ungewiß wäre, ob ich ihn fortrücken wollte; und ich ließ sie doch nur für seine Augen da. Unsere Spiele wurden alle bald aus. Ich verstund es wirklich besser als er; allein ein Blick in seine redlichen und zärtlichen Augen und eine kleine Röte oder ein verschämter Seufzer, den ich ihm abnötigte, war genug, mich zu dem einfältigsten Zuge zu bewegen. Wir wiederholten diesen Zeitvertreib ganze Stunden, ohne zehn Worte zu reden, und wir befanden uns so gut dabei, daß wir recht von der Tafel eilten, um zum Schache zu kommen. Unser Umgang hatte nunmehr ungefähr vier Wochen gedauert, und binnen dieser Zeit hatten wir einander nicht länger als fünf Tage nicht gesehen, und dennoch waren wir, so sehr wir einander gefielen, nicht vertrauter als im Anfange; und wir würden unstreitig diesen Charakter noch länger behauptet haben, wenn unsre Herzen nicht durch einen Zufall übereilet worden wären. Der Jude besuchte uns nämlich unvermutet bei[108] Tische und kündigte Steeleyn an, daß morgen eine Lieferung für den Hof nach Moskau abgehen würde, und daß er für soundsoviel Geld sicher und ziemlich bequem mit fortkommen könnte. Ich erschrak über diese Nachricht, daß ich nicht ein Wort sagen konnte, und Steeley ebensosehr. ›Wenn,‹ rief er, ›wenn soll ich fort? Geht nur in mein Quartier, ich will gleich nachkommen.‹ Der Jude verließ uns. Und nun ging eine traurige Szene an. ›Ach, Madame,‹ fing Steeley an, und schon liefen ihm die Tränen über die Wangen; ›ach, Madame, ich soll schon fort? Morgen schon?‹ – ›Und was macht Ihnen denn die Abreise so sauer?‹ Er entsetzte sich über diese Frage und geriet in eine kleine Hitze. ›Sie fragen mich noch, was mir meinen Abschied sauer macht? Sie! Sie!‹ und auf einmal ward er still und suchte seine Wehmut zu verbergen. Mit welcher Entzückung sah ich mich von ihm geliebt! Ich schwieg still oder konnte vielmehr nicht reden. Er wollte fortgehen, und ich nahm ihn in der Angst bei der Hand. ›Wo wollen Sie hin?‹ – ›Ich will mich‹, sprach er, ›für meine Verwegenheit bestrafen, die ich itzt begangen habe, und Abschied von Ihnen nehmen und ...‹ – ›Aber wenn ich Sie nun ersuchte, noch nicht fortzureisen, wollten Sie nicht bei mir bleiben? Wollten Sie nicht Ihr Vaterland, Ihre Freunde einige Zeit später sehen?‹ – ›Ach, Madame,‹ rief er, ›ich will alles, ich will mein Vaterland ewig verlassen, für Sie vergessen. Sagen Sie mir nur, ob Sie mich – ob Sie mich hassen?‹ – ›Ich liebe Sie,‹ fing ich an, ›es ist nicht mehr Zeit, mich zu verbergen; und wenn Sie mich lieben: so bleiben Sie hier und reisen Sie in meiner Gesellschaft!‹ Nunmehr wagte er die erste Umarmung, und o Himmel! was war dieses nach einem so langen Zwange für ein unaussprechliches Vergnügen! Wieviel tausendmal sagte er mir, daß er mich liebte, und wievielmal sagte ich's; und durch wie viele Küsse, durch wie viele Seufzer wiederholten wir unser Bekenntnis! Nun redte unser Herz allein. Er fragte mich, ob ich seine Liebe nicht gemerkt hätte, und ich fragte ihn ebendas. Wir erzählten einander die Geschichte unsrer Empfindungen, und unser Umgang war von dieser Stunde an Liebe und Freude. Die Lieferung ging fort, und mein Liebhaber blieb mit tausend Freuden zurück. Ich schickte noch ein Memorial an den Hof mit ab, um die Erlaubnis zu meiner Abreise zu beschleunigen.

Waren wir vorher nur halbe Tage beisammen gewesen: so wurden uns nunmehr ganze noch zu unserer Liebe zu kurz. Er suchte meine Liebe, die er schon gewiß besaß, durch die bescheidne Art,[109] mit der er sie genoß, erst zu verdienen; und ich, die ich acht Jahre vermählt gewesen, ohne die Liebe zu kennen, lernte ihren Wert unter den unschuldigsten Liebkosungen erst schätzen. Ich versprach ihm, wenn er mir nicht nach Kurland folgen wollte, mit ihm in sein Vaterland zu gehen, und wenn ich in Moskau die Erlaubnis dahin zurückzukehren, nicht erhalten könnte, mich mit ihm ins geheim wegzubegeben. ›Bis auf diese Zeit‹, sprach ich, ›bin ich Ihre Braut und, sobald wir uns an einem Orte niederlassen, Ihre Gemahlin.‹

Wir unterhielten uns mit den Vorstellungen von unserm künftigen Glücke noch vierzehn Tage, als ich endlich die Erlaubnis und die Passeporte vom Hofe erhielt, mich nach Moskau zurückzubegeben. Mein Liebhaber war gleich bei mir. Und wie eilten wir, aus diesem traurigen Lande zu kommen! Der Kommendant von einem nah gelegenen Schlosse war zum Nachfolger meines Gemahls ernannt. Ich übergab ihm binnen acht Tagen die Rechnungen meines Gemahls; allein er sah sie nicht an. ›Ihr Gemahl‹, sprach er, ›war mein guter Freund und auch ein Freund des Hofs. Er wird schon gut hausgehalten haben, und ich bin alt genug, ihm bald im Tode nachzufolgen.‹ Ich bat ihn, daß er Befehl zu meiner Abreise geben und die Möbel und das Haus meines Gemahls von mir zum Abschiede annehmen sollte. ›Ich nehme es an,‹ sprach er; ›Sie aber haben die Freiheit, was Ihnen gefällt, mit sich zu nehmen; die Ihrem Stande gemäße Bedeckung ist alle Stunden zu Ihren Diensten.‹

Ich reiste also mit zween Wagen unter einer starken Bedeckung in der Mitte des Junius fort. Mein Gemahl hatte mir über hunderttausend Rubeln meistens an Golde und Juwelen hinterlassen. Die eine Hälfte nahmen wir auf unsern Wagen und die andre auf den, wo unser Christian nebst einigen befreiten Gefangnen saß. Steeley ließ, ehe wir abreisten, alle Gefangne in und um Tobolskoy herum kleiden, sie drei Tage speisen und jedem etliche Rubeln geben. Es mochten ihrer etliche fünfzig sein.

Wir kamen nach einer beschwerlichen Reise von fünf Wochen, die wir Tag und Nacht fortsetzten (weil die Nacht in den warmen Monaten fast so hell wie der Tag bleibt), glücklich in Moskau an. Ich wollte nicht öffentlich bei Hofe erscheinen, und ich suchte nichts, als der Geliebten des Zars, deren Fräulein ich gewesen war, ins geheim aufzuwarten. Die großmütige Katharina empfing mich auf dem Lustschlosse Taninska sehr liebreich. Ich mußte acht Tage[110] bei ihr bleiben; allein alle die Gnade, die sie mir unter dieser Zeit erwies, war mir ohne meinen Geliebten eine unerträgliche Last. Sie hörte, daß ich nichts wünschte als das Glück, nach Kurland zurückzukehren, und sie verschaffte mir's, weil sie nur befehlen durfte. Ich eilte nach der Stadt zurück und ließ meinen lieben Reisegefährten, der bei dem englischen Kaufmann abgetreten war, aufsuchen. Mein Christian brachte mir die betrübte Nachricht, daß er krank und nicht imstande wäre, zu mir zu kommen. Ich ließ mich den Augenblick zu ihm fahren. Seine Krankheit war nichts als der Kummer um mich. ›Ach,‹ rief er mir entgegen, ›habe ich Sie nicht verloren? Sind Sie noch meine beständige Freundin?‹ Ich bewies es ihm und blieb den ganzen Tag bei ihm. Er zeigte mir Briefe aus London und insonderheit die, welche der Herr Graf an ihn zurückgelassen hatte. Es war wirklich mein Vorsatz, nach Kurland zu gehen, und nichts als die Schwachheit meines Geliebten hinderte die Abreise. Endlich erhielt er Briefe von dem Herrn Grafen. ›Ach,‹ sprach er zu mir, ›er hat seine Gemahlin wiedergefunden, er lebt mit ihr in Holland. Wollen wir nicht zu ihm reisen? Wie glücklich würden wir bei ihm sein!‹ Mehr brauchte er nicht, um mich meinem Vaterlande zu entziehen.

Nun war es beschlossen, wir gingen nach Holland. Ich setzte mich mit ihm zu Ende des Augusts zu Schiffe, und auch die See ward mir durch die Liebe angenehm. Wir haben nichts als eine kleine Seekrankheit und etliche Stürme ausgestanden, die uns nichts getan, als daß sie uns ein paar Wochen länger auf der See aufgehalten haben. Wir sind schon vor vier Tagen ans Land gestiegen und gestern früh zu Lande hier angekommen.«

Dies war die Geschichte von Amaliens und Steeleys Liebe.

Die beiden ersten Tage verstrichen uns unter lauter Erzählungen, und der dritte war der Vermählungstag. Ich und Karoline kleideten unsere Braut an und verliebten uns recht in sie, so reizend war sie; allein der, für den sie so reizend war, hatte nicht weniger männliche Schönheiten. Wir führten sie in sein Zimmer. »Jetzt«, sprach sie, »ist es noch Zeit, wenn Sie Lust haben, eine andere zu wählen«, und umarmte ihn. R... kam bald darauf mit seinem guten Freunde, einem Prediger bei der französischen Gemeine, der sie vermählen sollte. Er hatte ihm die Umstände von beiden gesagt. Wir setzten uns nieder, und wir wußten nicht, daß unser Geistlicher eine Rede halten würde. Er tat es mit so vieler Beredsamkeit und mit so vielem Geiste, daß wir alle außer uns kamen und uns keine größere[111] Wollust auf diesen Tag hätten erdenken können. Er redte von den wunderbaren Wegen der Vorsehung bei dem Schicksale der Menschen. Man stelle sich den Grafen und Steeleyn mit allen ihren Unglücksfällen, seine Braut, mich, kurz, uns alle vor, wenn man wissen will, was diese vernünftige Rede für einen Eindruck in unsere Herzen machte. Unsere Seele erweiterte sich durch die hohen Vorstellungen, um den Umfang der göttlichen Ratschlüsse in Ansehung unsers Schicksals zu übersehen, und die Empfindungen der Verwunderung und der Dankbarkeit wuchsen mit unsern erhabnen Vorstellungen. Leuten, die niemals im Unglücke gewesen, Leuten, die zu frostig sind, andrer Unglück zu fühlen, wird das Vergnügen, das wir aus dieser Rede schöpften, als ein scheinheiliges Rätsel vorkommen. Sie werden sich nicht einbilden können, wie sich solche ernsthafte Betrachtungen zu einem Tage der Freude und der Liebe schicken; allein sie werden mir auch nicht zumuten, daß ich ihnen eine Sache beweisen soll, die auf die Empfindung ankömmt.

So verging der Vormittag, und Steeley und Amalie waren verbunden, und unser Bündnis war auch wieder erneuert. Unser Geistlicher, der uns ein recht lieber Gast gewesen sein würde, wollte nicht bei uns bleiben, so sehr wir ihn auch baten. Er sagte, daß er den Nachmittag bei einem jungen Menschen zubringen würde, der sich aus Schwermut das Leben hätte nehmen wollen, aber noch an dem Selbstmorde gehindert worden wäre. Er bat uns, ob wir nicht zur Verbesserung seiner elenden Umstände etwas beitragen und ihn mit einigen Arzneien versehen lassen wollten, damit nicht die Krankheit des Gemüts durch ein verdorbnes Blut noch mehr unterhalten würde. Weil es schien, daß er die besondern Umstände dieses Menschen mit Fleiß verschwieg: so wollten wir nicht zur Unzeit neugierig sein. Wir fragten also nichts, als wo er anzutreffen wäre Er nannte uns eine alte Schifferin, die ihn, wie er gehört, nur vor etlichen Tagen in ihre Hütte aus Mitleiden eingenommen, in der er sich gestern durch ein Messer, doch ohne Lebensgefahr, verwundet hätte. Wir sagten ihm, daß er nicht bitten, sondern uns vorschreiben sollte, wie er's mit dem Kranken gehalten wissen wollte; weil wir gar keine Überwindung nötig hätten, einem Elenden mit einem Teile von unserm Vermögen zu dienen. Wir schickten ihm, sobald der Geistliche weg war, Betten und andere Sachen. Unser Doktor mußte kommen; und das unglückliche Mädchen, von der ich oben geredt habe, und die itzt Aufseherin in meinem[112] Hause war, mußte ihn zu dem Kranken begleiten, um zu hören, was er für Anstalten wegen der Speisen und des Getränks machen würde, damit sie alles nach seiner Vorschrift einrichten könnte.

Wir setzten uns zur Tafel, und wir wären eines solchen Tages nicht wert gewesen, wenn wir ihn nicht zu genießen gewußt hätten. Eins war zu dem Vergnügen des andern sinnreich; und Kleinigkeiten, die andre aus Mangel der Vertraulichkeit oder auch des Geschmacks vorübergehen, dienten uns in unsrer Gesellschaft zu neuen Unterhaltungen und erhielten durch die Art, mit der wir uns ihrer bedienten, den Wert, den die prächtigsten Mittel der Freude am wenigsten haben. Kleine Zänkereien, die Amalie mit Steeleyn wegen des kosakischen Mädchens anfing, kleine Vorwürfe, womit wir einander erschreckten, beseelten unsere Vertraulichkeit, und jeder unschuldige Scherz gab uns eine neue Szene des Vergnügens. Die Aufseherin, die wir zu dem Kranken geschickt hatten, kam mit offnen Armen zurück und erzählte uns, daß sie ihren ungetreuen Liebhaber wiedergefunden, und daß es der Elende selbst wäre, für den wir gesorgt hätten. »Er«, rief sie, »hat mir alles mit tausend Tränen abgebeten; und ich habe ihm alles vergeben, und ich bitte für ihn. Sein Gewissen hat ihn mehr als zu sehr bestraft!« Er sagte mir, daß er sich, da er mich so boshaft verlassen, nach Harlem gewendet und sich allen Ausschweifungen überlassen hätte, um nicht an das zu gedenken, was er getan. Einige Monate sei es ihm gelungen, nach dem aber hätte er sich der entsetzlichen Vorstellungen, daß er mich und die Frucht unsrer Liebe durch seine Untreue vielleicht ums Leben gebracht, nicht länger erwehren können. Sie hätten ihn genötiget, an den Ort zurückzukehren, wo er mich verlassen, und da er weder das Herz gehabt, sich genau nach mir zu erkundigen, noch auch gewußt hätte, wo er es tun sollte: so hätte ihn endlich eine alte Schifferin auf ebender Wiese, wo er von mir gewichen, und auf der er schon zween Tage zugebracht, in der größten Verzweiflung angetroffen und ihn mit sich in ihre Hütte genommen. Hier hätte er, da er ohne dies nichts mehr zu leben gehabt, sein Elend durch den Selbstmord endigen und sich zugleich für seine Bosheit bestrafen wollen. »Es steht bei Ihnen,« fuhr sie fort, »ob Sie ihm durch Ihre Wohltaten das Leben und mich wiedergeben wollen. Ich liebe ihn, als ob er mich nie beleidiget hätte; allein (hier sah sie mich an) Sie zu verlassen, das kann ich nicht ...« Sie verdiente unsere Gewogenheit und unser Vergnügen über ihr Glück. Wir ließen ihren Liebhaber in das Haus neben uns[113] bringen und besuchten ihn den Abend noch. Seine Wunde war nicht gefährlich, und die Freude, seine Geliebte wiedergefunden zu haben, hatte ihm so viel Lebhaftigkeit erteilt, daß er mit uns sprechen und uns seinen Fehler abbitten konnte. Er wollte uns alles erzählen: allein wir waren mit seiner Reue zufrieden und erließen ihm die Scham, sein eigner Ankläger zu werden. Wir sahen in seinem zerstreuten und ausgezehrten Gesichte noch Spuren genug von einer angenehmen Bildung und einem zärtlichen Herzen. Er war noch nicht vierundzwanzig Jahre alt und wegen seiner Jugend der Vergebung und des Mitleids desto würdiger.

Den Rest des Abends brachten wir mit einer Musik zu, die wir uns selber machten. Ich spielte den Flügel, und bald sang ich selbst, bald Amalie oder Karoline dazu. Meine kleine Tochter, die in das sechste Jahr ging, war so verwegen, Steeleyn zu einem Tanze aufzufordern, und sie hätte uns bald alle zu dieser Lust verführt. Wir führten endlich unsre beiden Vermählten in ihr Schlafzimmer und überließen sie den Wünschen der Liebe.

Als ich mich den Morgen darauf noch mit dem Grafen beratschlagte, was wir unserm Paare heute für ein Vergnügen machen wollten, trat ein Bedienter herein und sagte, daß ein Engelländer meinen Gemahl sprechen wollte. Sobald er die Tür öffnete, so sagte uns sein Gesicht, daß es Steeleys Vater wäre. Er hatte ein eisgraues Haupt; aber seine muntern Augen, sein rotes Gesicht und trotziger Gang widerlegten seine Haare. »Ich suche«, fing er auf französisch an, »meinen Sohn bei Ihnen; oder da ich in meinem Leben wohl nicht so glücklich sein werde, ihn wiederzusehen: so will ich wenigstens hören, ob Sie nicht wissen, wo er ist. Meine Nachricht aus Moskau geht nicht weiter, als daß ich gewiß weiß, daß er aus seinem Elende in Siberien hat sollen befreit werden. Und aus Verlangen, einen so teuren Freund von meinem Sohne zu sprechen, bin ich in meinem neunundsiebenzigsten Jahre noch einmal zur See gegangen.« – »Ihre Reise«, fing mein Gemahl an, »soll Sie nicht gereuen. Ich habe Briefe von Ihrem Sohne aus Moskau und kann Ihnen die erfreuliche Nachricht von seiner baldigen Ankunft zum voraus melden. Wie lange können Sie sich hier aufhalten?« – »Das ganze Jahr hindurch,« sprach der Alte, »und noch länger, wenn ich meinen Sohn erwarten kann.« Mein Gemahl befriedigte seine väterliche Neubegierde mit einigen besonderen Nachrichten, und ich eilte zu unserm zärtlichen Paare, um zu sehen, ob sie angekleidet wären. Sie gingen beide noch in ihren Schlafkleidern, und ich ließ[114] dem Grafen heimlich sagen, daß sie aufgestanden wären. »Mein Gemahl«, sprach ich nach einigen kleinen Fragen, »wird gleich kommen und Sie zu einer Spazierfahrt einladen.« Indem öffnete er schon die Türe und trat mit dem Alten herein. In dem Augenblick riß sich Steeley von seiner Gemahlin, die ihn in den Armen hatte, los und lief auf seinen Vater zu. Der Alte sah ihn nach der ersten Umarmung lange an, ohne ein Wort zu sagen. »Ja,« rief er endlich, »du bist mein Sohn, du bist mein lieber Sohn. Gottlob! nun will ich gern sterben. Mein Sohn, gib mir einen Stuhl, meine Füße wollen mich nicht mehr halten!« Amalie langte ihm einen, und wir traten alle vor ihn. Seine erste Frage war, wer Amalie wäre. »Seit gestern«, sprach sie, »bin ich die Gemahlin Ihres Sohnes. Sind Sie mit seiner Wahl zufrieden?« Er nahm sie recht liebreich bei der Hand. »Ist es gewiß, daß Sie meine Tochter sind: so küssen Sie mich und sagen Sie mir, aus welchem Lande Sie sind!« Er machte ihr darauf die größten Liebkosungen und tat allerhand Fragen, die seinem ehrlichen Charakter gemäß und uns deswegen angenehm waren, wenn sie gleich nicht die wichtigsten waren. Es mißfiel ihm, da er hörte, daß wir nicht getanzt hätten. »Nicht getanzt?« fing er an, »wie traurig muß diese Hochzeit gewesen sein! Nein, was unsere Vorfahren für gut befunden haben, daß muß man nicht abkommen lassen. An seinem Hochzeittage muß man froh sein. Wenn wir nach London kommen: so will ich alles so anordnen, wie es an meiner Hochzeit war. Es sind, gottlob! schon fünfzig Jahre verstrichen, und ich weiß alles noch so genau, als ob es erst gestern geschehen wäre. Es ist wahr,« sprach er zu Amalien, »Sie sehen viel schöner aus als meine selige Frau an ihrem Brauttage sah; aber sie war viel besser angezogen.« Er beschrieb ihr mit der Freude eines Alten, dem das gefällt, was in seiner Jugend Mode gewesen, den ganzen Anzug seiner Frau, und sie versprach ihm, wenigstens um den Kopf und den Hals einen Teil von diesem Staate nachzuahmen. Sie tat es auch; und in einem engen Leibchen und großen weiten Ärmeln, drei- oder viermal mit Bande gebunden, und in Locken, die bis auf die Schultern hingen, gefiel sie ihm erst recht wohl. Sein Sohn mußte ihm sein Schicksal erzählen. Er weinte die bittersten Tränen, wenn Steeley auf eine betrübliche Begebenheit kam; und mitten unter den Tränen machte er hier und da noch allerhand Anmerkungen. Er fuhr ihn z.E. bei dem Anfange seiner Geschichte recht väterlich an, daß er den Gesandten verlassen hätte und ein Soldat geworden wäre. Bald darauf umarmte er ihn, daß er so[115] rechtschaffen an dem Grafen gehandelt hätte, als er auf dem Wege krank geworden. »Da erkenne ich meinen Sohn«, rief er. »Gott weiß es, ich hätte es ebenso gemacht; das heißt seinen Freunden in der Not dienen! « Bei der Begebenheit mit dem Popen in Rußland machte er ihm keine Vorwürfe. »Deine Liebe zur Wahrheit«, sprach er, »ist dir freilich übel bekommen, und ich wünschte, es wäre nicht geschehen; aber es ist doch allemal besser, seine Meinung frei herauszusagen, als mit einer niederträchtigen Furchtsamkeit zu reden. Ich sehe dich, weil die Sache von der Religion hergekommen ist, als einen Märtyrer an; und ich danke Gott für den Mut, den er dir gegeben hat.« Bei den großen Diensten, die der Graf Steeleyn in Siberien erwiesen, nahm er eine recht majestätische Miene an. »Nun,« sprach er, »das ist Großmut! Mehr kann kein Freund an dem andern tun. Ach, Herr Graf, Sie haben noch ein redlicher Herz als ich und mein Sohn. Ihnen habe ich meinen Sohn zu danken. Ja, in meinem ganzen Leben, noch in jenem Leben will ich Sie rühmen!« Die Geschichte der Liebe mit Amalien trug Steeley auf der Seite vor, wo er wußte, daß sie seinen Vater am meisten rühren würde. Er ließ alles Freundschaft in ihrem Umgange sein und die Liebe nicht eher als kurz vor der Abreise aus Moskau entstehen. Alles gefiel ihm, alles war schön an Amalien und je mehr er aus der ganzen Erzählung schloß, daß Amalie vor ihrer Vermählung seinem Sohne keine vertrauliche Liebe erlaubt desto freudiger ward er, und desto mehr Hochachtung bezeigte er ihr. Da die Erzählung geendigt war, umarmte er Amalien noch einmal. »Ach,« sprach er, »mein Sohn ist Ihrer nicht wert. Er verdienet eine liebe Frau; aber wodurch hat er Sie verdienet? Kommen Sie mit nach London, ich habe ein großes Haus, und es ist in der ganzen Welt nicht besser als in London!« – »Was,« fing sie an, »als in London?« – »Und hier bei Ihnen«, fuhr er lächelnd fort und fragte mich, ob ich ihn denn auch etliche Tage bei mir behalten und mir seine Art zu leben, die nicht nach der Welt wäre, gefallen lassen wollte. Er war wirklich bei allen seinen kleine Fehlern ein recht liebenswürdiger Mann, und die Aufrichtigkeit, mit der er sie beging, machte sie angenehm. Er war dreist, ohne die Höflichkeit zu beleidigen, und seine Vorurteile waren entweder unschuldig oder doch dem Umgange nicht beschwerlich. Wir begingen diesen und den folgenden Tag das Hochzeitfest nach seinem Plane. Er war auf die anständigste Art munter und weckte uns alle durch sein Beispiel auf. Sein Leibspruch war: man kann fromm und auch[116] vergnügt sein. »Mein Sohn«, sprach er, »hat mir viel bekümmerte Stunden gemacht, nun soll er mir freudige Tage machen.« Er tanzte denselben Abend bis um eilf Uhr und war gegen R... und den Grafen und gegen seinen Sohn selbst ein Jüngling. »Das heißt«, fing er an, »recht ausgeschweift. So spät bin ich seit vierzig Jahren nicht zu Bette gegangen. Aber ist doch das Tanzen keine Sünde! Wenn ich nun auch diese Nacht stürbe: so würde mir meine Freude doch nichts schaden.« R... fragte ihn bei dieser Gelegenheit, wie er sich denn bis in sein hohes Alter so munter erhalten, und wodurch er die Furcht vor dem Tode besiegt hätte, da er ihm nach seinen Jahren so nahe wäre. »Daß ich noch so munter bin,« sprach er, »das ist eine Gabe von Gott und eine Wirkung eines ordentlichen Lebens, zu dem ich von den ersten Jahren an gewöhnet worden bin. Und warum sollte ich mich vor dem Tode fürchten? Ich bin ein Kaufmann; ich habe meine Pflicht in acht genommen; und Gott weiß, daß ich niemand mit Willen um einen Pfennig betrogen habe. Ich bin gegen die Notleidenden gütig gewesen, und Gott wird es auch gegen mich sein. Die Welt hier ist schön; aber jene wird noch besser sein ...« Mußte man einen solchen Mann nicht lieben, der von Jugend auf mit dem Gewinne umgegangen war und doch ein so edelmütiges Herz hatte? Er bezeigte über das große Vermögen, das Amalie besaß, keine besondere Freude. »Mein Sohn,« sprach er, »du hast ein Glück mehr als andere Leute; aber du hast auch eine Last mehr, wenn du dein Glück recht brauchen willst.«

Nachdem er das Vergnügen eingesammelt hatte, das sich ein Vater in seinen Umständen wünschen konnte: so waren alle unsere Bitten nicht vermögend, ihn von der Rückkehr in sein Vaterland abzuhalten. »Ich will in London sterben«, sprach er, »und bei meiner Frau begraben werden; lassen Sie mich reisen, ehe die See stürmisch wird. Ich will Ihnen meinen Sohn zurücklassen und zufrieden sein, wenn er künftiges Jahr zu mir kömmt.« Der junge Steeley wollte seinen Vater nicht allein reisen lassen und sich doch auch nicht von uns trennen. Mit einem Worte: wir entschlossen uns alle, Karolinen ausgenommen, ihn nach London zu begleiten und den Winter über dazubleiben. Dieses hatte der Alte gewünscht, aber nicht das Herz gehabt, es uns anzumuten. Ehe wir fortgingen, stifteten wir noch ein gutes Werk. Wid, so hieß der junge Mensch, der seine Geliebte ehemals verlassen hatte, war völlig von seiner Krankheit wiederhergestellt. Er wünschte nichts als seine Braut zu besitzen und mit seinem Vater wieder ausgesöhnt zu werden. Wir hatten an ihn[117] geschrieben; aber er wollte nichts von seinem Sohne mehr wissen und versicherte uns, daß er ihn, so geringe sein Vermögen wäre, doch schon enterbt hätte. Der junge Wid dauerte uns, und wir sahen, daß er die Torheit seiner Jugend in seinen männlichen Jahren wieder gutmachen würde. Er hatte in Leiden bis in sein siebenzehntes Jahr studiert und nach dem auf seines Vaters Willen in ein Kontor gehen müssen. Andreas war auf das erste Wort willig, ihn in seine Handlung zu nehmen. Wir machten ihm eine kleine Hochzeit. Amalie stattete die Braut sehr reichlich aus, und der alte Steeley und der Graf gaben ihm auch tausend Taler. Wir streckten ihm überdies noch ein Kapital in die Handlung vor und meldeten alles dieses seinem Vater, um ihn desto eher zu gewinnen. Wir überließen also Karolinen unsre Tochter und unser Haus zur Aufsicht und gingen zwölf Tage nach des alten Steeley Ankunft zur See. Der Wind war uns so günstig, daß wir in wenig Tagen nur noch etliche Meilen von London waren. Wir trafen ein Paketboot an, und um eher am Lande zu sein, setzten wir uns in dieses; allein zu unserm Unglücke. Wir waren alle in dem Boot bis auf den alten Christian der Amalie. Dieser wollte seinem Herrn die Schatulle, in welcher der größte Teil von Amaliens Vermögen an Kleinodien und Golde war, von dem Schiffe zulangen. Steeley und ein Bedienter des Grafen griffen auch wirklich darnach; allein vergebens. Christian, es mag nun seine Unvorsichtigkeit oder das Schwanken des Schiffes schuld gewesen sein, ließ vor unsern Augen die Schatulle in die See fallen und schoß in dem Augenblicke, entweder aus Schrecken, oder weil er sich zu sehr über Bord gehoben hatte, selbst nach. Wir hatten alle Mühe, ihm das Leben zu retten, und ein Schatz von mehr als funfzigtausend Talern war in einem Augenblicke verloren. »Bin ich Ihnen«, fing endlich Amalie zu ihrem Manne an, »noch so lieb als zuvor?« Steeley beteuerte es ihr mit einem heiligen Schwure, und nun war sie zufrieden. Der alte Steeley, sowenig er das Geld liebte, konnte doch den Zufall nicht vergessen Er hielt dem alten Christian eine lange Strafpredigt. Endlich nahm er Amalien bei der Hand. »Sei'n Sie getrost,« sprach er, »ich habe, gottlob! so viel, daß Sie beide nach meinem Tode ohne Kummer miteinander werden leben können.« Den armen Christian kostete diese Begebenheit dennoch das Leben. Er kam krank nach London und starb bald nach unsrer Ankunft. Amalie und Steeley hatten eine außerordentliche Liebe für diesen Menschen, und sie ließen ihn den verursachten Verlust so wenig entgelten,[118] daß sie ihn vielmehr für seine Treue auf die großmütigste Art noch auf seinem Sterbebette belohnten. Sobald sie vom Doktor höreten, daß wenig Hoffnung zu seinem Aufkommen übrig wäre: so ließen sie ihn in ein Zimmer neben dem ihrigen legen, um ihn recht sichtbar zu überführen, daß sie nicht auf ihn zürnten; denn dieses war sein Kummer. Kurz vor seinem Tode besuchte ich ihn noch mit Amalien. Der alte Steeley kam auch und setzte sich vor das Bette des Kranken, um ihn sterben zu sehen. »Er hat ein sanftes Ende,« fing er zu uns an, »und wenn es sein müßte, ich wollte gleich mit ihm sterben.«

Der Sterbende schien sich noch einmal aufrichten zu wollen, und in dem schoß ihm ein Strom vom Blute aus dem Munde, und Christian war tot. »Bin ich nicht erschrocken!« rief der Alte zitternd. Wir wollten ihn in das andere Zimmer führen; allein er konnte sich nicht aufrecht erhalten, und wir mußten ihn hineintragen lassen. »Laßt mir meinen Großvaterstuhl bringen,« fing er an, »in diesem will ich sterben, ich fühle mein Ende.« Man brachte ihm den Stuhl, und er ließ ihn vor das Fenster, das nach dem Garten ging, setzen, damit er den Himmel ansehen könnte. Er hub seine Hände auf und bat uns (wir waren alle zugegen), daß wir ihn nicht stören sollten. Nachdem er sein Gebet verrichtet, rief er seinen Sohn: »Ich fühle es,« sprach er, »daß ich bald sterben werde. Der gute Christian hat mich recht erschreckt; aber wer kann dafür! Hier hast du den Schlüssel zu meinem Schreibtische. Gott segne dir und deiner Frau das Vermögen, das ich euch hinterlasse; es ist kein Heller von unrechtmäßigem Gute dabei.« Der Doktor, nach dem wir geschickt hatten, kam und öffnete ihm eine Ader, wozu der Alte anfangs gar nicht geneigt war. Doch es ging kein Blut. Er schlug ihm eine an dem Fuße, und auch da kam keines. »Sieht Er,« sprach der Alte, »daß Seine Kunst nichts hilft, wenn Gott nicht will? Was hat Er nunmehr für Hoffnung?« – »Keine«, sprach der Medikus. – »So gefällt Er mir,« war seine Antwort, »wenn Er aufrichtig redt.« – »Bedienen Sie sich«, fuhr der Doktor fort, »der guten Augenblicke, wenn Sie noch einige Anstalten zu treffen haben.« Der Alte lächelte: »Als wenn ich in achtzig Jahren nicht Zeit genug gehabt hätte, die Anstalten zu meinem Tode zu treffen. Gott«, fuhr er fort, »kann mich rufen, wenn er will, ich bin fertig bis auf das Abschiednehmen. Wo sind meine Kinder und meine lieben Gäste?« Wir traten alle mit tränenden Augen vor ihn, und er nahm von einem jeden insbesondere Abschied. »Ach,« fing er darauf an, »wie[119] schön wird's in jener Welt sein! Ich freue mich recht darauf; und wen werde ich von Ihnen am ersten da umarmen? – Es wird mir ganz dunkel vor den Augen; aber sonst ist mir recht wohl, recht – « Bei diesen Worten überfiel ihn eine Ohnmacht, und bald darauf starb er.

Der Anfang unsers Aufenthalts in London war also traurig, und das Geräusche der Stadt und der Besuch war uns so beschwerlich, daß wir uns gleich nach der Beerdigung entschlossen, den Rest des Herbsts und den Winter selbst auf Steeleys Landgute, das etliche Meilen von London war, zuzubringen.

Wir lebten daselbst sechs Monate recht zufrieden und meistens einsam, außer daß wir zuweilen die Schwester von der ehemaligen Braut unsers Steeleys besuchten und wieder von ihr besuchet wurden. Sie war von ihrer ganzen Familie noch allein am Leben und entschlossen, niemals zu heiraten. Niemand als sie wußte, wer mein Gemahl war; denn die andern Nachbarn kannten ihn nicht anders, als unter dem Namen des Herrn von Löwenhoek. Dieses Frauenzimmer, die nichts weniger als schön war, besaß doch die liebenswürdigsten Eigenschaften. Amalie, sie und ich brachten manche Stunde bei der Gruft ihrer Schwester zu und ehrten ihr Andenken mit unsern Tränen.

Es war Frühling, und viele Familien aus London besuchten nunmehr das Land. Das nächste Gut an dem unsrigen gehörte dem Staatssekretär Robert. Dieser hatte mit Steeleyn ehemals in Oxford studiert, und Steeley war sehr begierig, ihn nach so vielen Jahren einmal wiederzusehen. Er schrieb an ihn, sobald er hörte, daß er auf dem Landgute angekommen war, und bat um die Erlaubnis, daß er ihn nebst seiner Frau und noch ein paar guten Freunden besuchen dürfte. Robert, der noch gar nicht gewußt hatte, daß Steeley wieder aus Moskau zurückgekommen war, schickte ihm den andern Tag eine Antwort voller Sehnsucht und Freundschaft und zugleich seinen eigenen Wagen. R... war unpaß, und wir fuhren also ohne ihn zu Roberten und kamen kurz vor der Mittagsmahlzeit an. Er empfing uns mit vieler Höflichkeit, und Steeley präsentierte ihm meinen Gemahl unter seinem angenommenen Namen als einen Freund, den er mit aus Siberien gebracht. Unser Wirt, der ganz allein war, nötigte uns ohne Verzug zur Tafel, damit er ungestört mit uns reden könnte. Wir hatten uns kaum niedergesetzt und außer den Komplimenten noch nichts gesprochen, als der Bediente des Staatssekretärs hereintrat und jemanden anmeldete,[120] aber so sachte, daß wir nichts als das Wort Abgesandter verstehen konnten. »Müssen wir denn gestört werden?« fing Robert ganz zornig an, und eilte den Augenblick nebst dem Bedienten aus dem Zimmer. Wir blieben sitzen und erwarteten mit größtem Verdruß den neuen Gast; aber, o Himmel! was für ein Augenblick war das für mich und den Grafen, als Robert den Prinzen von S... hereingeführt brachte! Wir sprangen beide von der Tafel auf und wußten nicht, ob wir in dem Zimmer bleiben sollten. Der Prinz trat auf mich zu, als ob er seinen Augen nicht trauen wollte; in dem sah er den Grafen und erschrak, daß er blaß wurde. Robert merkte nichts von diesem Geheimnisse und nötigte den Prinzen und uns, die er seine Freunde nannte, an die Tafel. Der Prinz bedankte sich und sagte, daß er schon gefrühstücket hätte und nur gekommen wäre, sich einige Stunden mit der Jagd zu vergnügen. Robert antwortete, daß er ihm Gesellschaft leisten wollte; allein er nahm es nicht an. »Geben Sie mir Ihren Jäger mit,« sprach er ganz zerstreut; »auf den Abend will ich gewiß Ihr Gast sein.« In dem machte er uns allen ein Kompliment, und Robert begleitete ihn. »Ach,« fing mein Gemahl zu Steeleyn an, »wo haben Sie uns hingeführt? Wie wird mir's und meiner Gemahlin ergehen? Das war der Prinz von S... Er wird in den Verrichtungen seines Königs hier sein, und ich, ich – « Robert kam mit einer unruhigen Miene wieder. »Ich weiß nicht,« sprach er, »warum der Prinz so bestürzt war. Er muß jemanden von Ihnen kennen oder zu kennen sich einbilden. Er fragte insonderheit nach Ihnen (er meinte den Grafen); allein ich sagte ihm, daß ich mit meinen Gästen selbst noch nicht bekannt wäre. Er ist in den Angelegenheiten des Königs von Schweden seit kurzer Zeit hier und wird vermutlich bald wieder von hier zur Armee abgehen.« Unser Wirt schloß aus unsrer Bestürzung auf ein Geheimnis und bat, daß wir ihm die Sache entdecken sollten, wenn sie nicht von Wichtigkeit wäre. »Ich will Ihnen alles sagen«, fing der Graf an, »und zum voraus um Ihren Schutz bitten, wenn ich ihn verdiene. Ich bin der Graf von G... Mein Name wird Ihnen durch mein Unglück vielleicht schon bekannt sein. Ich bin vor zehen Jahren als ein schwedischer Obrister so unglücklich gewesen, daß mir das Leben durch das Kriegsrecht abgesprochen worden ist.« Darauf erzählte er ihm das übrige, und wie er zu seiner Sicherheit als ein Gefangner der Russen den Namen Löwenhoek angenommen. »Der Prinz«, fuhr er fort, »ist mein Feind, und meine Verurteilung ist vielleicht eine Wirkung seiner Rache gewesen.[121] Ich will Ihnen die Ursache nicht sagen, wodurch er bewogen worden, meinen Untergang zu suchen. Sie ist ihm vielleicht nachteiliger als seine Rache selbst. Ich schließe aus seiner Bestürzung daß er mich für tot muß gehalten haben, und wer weiß, ob nicht die Zeit seinen Haß gegen mich vertrieben hat. Bin ich«, schloß er endlich, »nicht so unschuldig, als ich Ihnen gesagt habe: so lasse mich Gott noch durch die Verfolgung dieses Prinzen sterben!« Unser Wirt, dem das Blut vor edler Empfindung in das Gesicht trat, reichte dem Grafen die Hand. »Bleiben Sie bei mir«, sprach er. »Ich will alle mein Ansehen bei Hofe zu Ihrer Sicherheit anwenden, und wenn das nicht hilft, mein Leben. Verlassen Sie sich auf mein Wort, ich bin ein ehrlicher Mann. Ich will dem Prinzen in etlichen Stunden entgegenfahren und ihn zurückholen, und bei meiner Zurückkunft will ich Ihnen sagen, was Sie tun sollen. Erzählen Sie mir indessen alles, was zu Ihrem Schicksale gehöret; denn ich sehe doch; daß wir itzt nicht essen können.« Wir taten es. »Ich bin Ihr Freund,« fing Robert endlich an, »mehr kann ich Ihnen nicht sagen; ich will es Ihnen aber beweisen.« Er fuhr nunmehr dem Prinzen entgegen und bat, daß wir uns bis zu seiner Zurückkunft in dem Garten aufhalten sollten. Wir erwarteten ihn daselbst zwischen Furcht und Hoffnung und waren beinahe entschlossen, ohne seine Erlaubnis wieder zurückzukehren. Endlich sahen wir ihn nebst dem Prinzen in den Garten kommen, und mein ganzes Herz empörte sich über diesen Anblick. Der Prinz ging gerade auf den Grafen zu, der die Augen niederschlug, und umarmte ihn, nachdem er mir und Amalien ein Kompliment gemacht. »Ich bin Ihr Freund,« sprach er, »wenn ich's auch nicht immer gewesen bin, und ich wünschte, daß Sie der meinige werden möchten. Wir haben Sie alle für tot gehalten. Ich weiß, daß Ihnen bei der Armee zuviel geschehen ist, und es kömmt auf Sie an, was Sie für eine Genugtuung fordern wollen.« – »Keine«, antwortete der Graf, »als diejenige, die Sie mir schon erteilt haben, nämlich, daß ich unschuldig und der Gnade des Königs nicht unwert bin.« – »Sie sind ihrer so wert,« versetzte der Prinz, »daß ich Ihnen in seinem Namen zweierlei zum voraus verspreche. Wollen Sie mit nach Schweden und zur Armee zurückkehren: so biete ich Ihnen die Stelle eines Generals an. Dies wird die beste Ehrenerklärung für das sein, was Ihnen als Obristen schuld gegeben worden ist. Wollen Sie dies nicht: so bleiben Sie hier. Ich will es bei dem Könige so weit bringen, daß Sie als schwedischer Envoyé bei meiner Abreise[122] zurückbleiben sollen. Sagen Sie ja, Herr Graf, damit ich das Vergnügen habe, Sie zu überzeugen, daß ich Sie hochschätze und das Vergangene wieder gutmachen will.« Der Graf schlug beides aus. »Ich bin zufrieden,« sprach er, »daß Sie mein Freund sind und mich in die Gnade des Königs von neuem setzen wollen; mehr verlange ich nicht. Sollte ich mich noch ein mal in die große Welt wagen und glücklich sein, um vielleicht wieder unglücklich zu werden? Ich will mein Leben ohne öffentliche Geschäfte beschließen.« Robert mengte sich endlich in das Gespräch, und unsre Furcht vor dem Prinzen verminderte sich. Es sei nun, daß seine Rache gesättigt war, oder daß ihn sein Gewissen gequält hatte: so bezeigte er den ganzen Abend eine außerordentliche Freude, daß der Graf noch lebte, den er so viele Jahre hindurch für tot gehalten hatte. Mein Gemahl tat so großmütig gegen ihn, als ob er nie von ihm wäre beleidigt worden. Der Prinz nahm noch denselben Abend von uns Abschied, weil er sehr früh wieder zurück nach London wollte. »Wenn Sie mein Freund sind,« sprach er zum Grafen: »so besuchen Sie mich noch diese Woche, oder ich komme zu Ihnen.« Der Graf versprach es ihm, allein er konnte sein Wort nicht halten; die Zeit war da, daß ich ihn zum andern Male verlieren sollte. Denn in ebendieser Nacht bekam er einen Anfall von einem Fieber. Wir eilten den andern Tag von unserm großmütigen Wirte auf unser Landgut zurück, und das Fieber ließ den armen Grafen kaum mehr aufdauern. Er ward in wenig Tagen so entkräftet, daß er die Hoffnung zum Leben aufgab. Ich kam bis in den neunten Tag weder Tag noch Nacht von seiner Seite und suchte mir ihn recht wider den Willen des Schicksals zu erhalten: so vollkommen liebte ich ihn noch. Drei Tage vor seinem Ende wünschte er, daß ihn der Prinz besuchen möchte. Wir ließen's ihm eiligst melden, und er war den Tag darauf schon zugegen. »Sehen Sie,« sprach der Graf, »daß ich keine Gnade des Königs mehr nötig habe? Ich will nur Abschied von Ihnen nehmen und Sie und mich überzeugen, daß ich als Ihr Freund sterbe.« Der Prinz war so gerührt und zugleich so beschämt, daß er ihm wenig antworten konnte. Er blieb wohl eine halbe Stunde vor dem Bette sitzen und drückte ihm die Hand und fragte, ob er ihm denn mit nichts mehr dienen könnte als mit seinem Mitleiden. Der Graf ward so schwach, daß er kaum mehr reden konnte, und bat den Prinzen, ihn zu verlassen. Der Prinz ging mit größter Wehmut fort und wagte es nicht, von mir Abschied zu nehmen. Den andern Tag kam[123] der Graf aus einem tiefen Schlafe eine Stunde lang wieder zu sich selber. Amalie, Steeley und R..., der doch selbst noch krank war, traten alle zu ihm. »Bald«, sprach er zu mir, »hätte ich Euch nicht wiedergesehen. Ach, meine Gemahlin, der Tod ist nicht schwer; aber Euch und meine Freunde zu verlassen, das ist bitter. Ich sterbe; und Ihnen, mein lieber R..., überlasse ich meine Gemahlin.« Er starb auch an ebendem Tage. Ich will meinen Schmerz über seinen Tod nicht beschreiben. Er war ein Beweis der zärtlichsten Liebe und bis zur Ausschweifung groß. Ich fand eine Wollust in meinen Tränen, die mich viele Wochen an keine Beruhigung denken ließ, und Amalie klagte mit mir, anstatt daß sie mich trösten sollte. R... mußte die Zeit über das Bette hüten, und auch dieses vermehrte meinen Schmerz. Steeley allein sann auf meine Ruhe und nötigte mich, da die beste Zeit des Jahres verstrichen war, mit ihm nach London zurückzukehren.

Das erste, was mir da wieder begegnete, war ein Vorfall mit dem Prinzen. Er war im Begriffe, von London wegzugehen, und wagte es, in Roberts Gesellschaft bei unsrer Ankunft mir die Kondolenz abzustatten. Er wiederholte seinen Besuch binnen zween Tagen etlichemal und begehrte, daß ich ihm eine Bittschrift an den König mitgeben und um die Ersetzung der eingezogenen Güter meines Gemahls anhalten sollte. Ich gab ihm eine, bloß um ihn nicht zu beleidigen. Noch an ebendem Tage erhielt ich einen Besuch von dem Staatssekretär. »Ich will Ihnen«, fing er nach etlichen Komplimenten an, »die Ursache meines Besuchs kurz entdecken. Ich bin ein Abgeordneter des Prinzen, und ich weiß nicht, ob Sie mich ohne Unwillen anhören werden. Wissen Sie, daß ihm seine Gemahlin vor etlichen Jahren gestorben ist? Er wünscht, Sie als Gemahlin mit nach Schweden nehmen zu können, und es ist nichts Gewissers, als daß er Sie auf das äußerste liebt. Mit einem Worte: er will durch mich erfahren, ob er hoffen darf oder nicht. Nunmehr habe ich Ihnen alles gesagt, und Sie dürfen sich bei Ihrer Antwort nicht den geringsten Zwang antun.« Steeley und Amalie und R... waren zugegen, als er mir den Antrag tat; und R... erschrak, als ob er mich schon verloren hätte. Ich entsetzte mich selbst über die Verwegenheit des Prinzen und antwortete dem Herrn Robert nichts als dieses: »Hier ist mein Gemahl«, und wies auf den Herrn R... In der Tat war er mir noch so schätzbar, daß ich ihn allen andern vorgezogen haben würde, wenn ich mich hätte entschließen können, mich wieder zu vermählen. Und vielleicht wäre ich, soll[124] ich sagen zärtlich oder schwach genug dazu gewesen, wenn er länger gelebt hätte. Er starb bald darauf an seiner noch fortdauernden Krankheit, und die Betrübnis über seinen Verlust überführte mich, wie sehr ihn mein Herz noch geliebt hatte.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 2, Frankfurt a.M. 1979, S. 58-125.
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