EINE ERINNERUNG DES SOPHOKLES

[42] Da Antilochos hat sterben wollen und Charilaos nach einer fernen insel gezogen ist werde ich nichts mehr gross und glücklich nennen. Charilaos mein entzücken! Charilaos meine qual! Charilaos mein wahn! ich werde ihn nicht mehr das haupt wenden sehen beim klang eines so süssen namens ... Die wolken haben meinen schmerz begriffen: sie haben mit ihrem dichten schleier die sonnigen gefilde verhüllt über die wir zusammen wandelten und ungezügelte winde antworten auf die rufe einer untröstlichen seele. Da überrascht mich Polidor mitten in meinem weinen lächelt und fragt: wer ist Charilaos? ein junger flötenspieler der bald unter den mädchen von Samos und Trinakria singen und tanzen wird und der dich nur deshalb geliebt hat weil dein weihrauch seiner stolzen knabenhaftigkeit schmeichelte. O harte stimme des Polidor! niemals hat sie unrecht doch wird sie mir helfen meine sehnsucht zu besiegen und meine leier wieder aufzunehmen?.. Haben doch die langen tage an meinen schmerzen nichts ändern können! Erst in den armen des alten wahrsagers habe ich ein wenig ruhe gefunden nach stunden von ängsten und fiebern. Tröste dich! hat er mir gesagt: denn das grosse geheimnis ist dir aufgeschlossen worden .. es liegt weder in den durchdüfteten[42] haaren noch in den gemalten lippen der dirnen von Attika oder Mytilene · und wenn Charilaos leichter ist als ein halm auf dem wasser und unbeständiger als das wasser selbst: erröte nicht deine geheiligten hände vor seinen knieen zu falten und deine gekrönte stirne vor der seinigen zu neigen: Leide um Charilaos! weine um Charilaos! verzehre dich um Charilaos! Eines abends habe ich es erfahren als ich unter der säule eines verlassenen tempels sass und die von plötzlichen himmlischen feuern erhellte bildsäule des gottes der frohen jugend bewunderte: was die ganze grösse der spartischen felder war und der ganze glanz der jonischen gestade.

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Stefan George: Tage und Taten. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 17, Berlin 1933, S. 42-43.
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