[Vorwort]

Der wahre Geschmack ist ein einziger, und wird in eben der Bedeutung angebohren, wie das Genie. Diese Einheit und Festigkeit seiner Grundsätze aber schränkt seinen Gesichtskreis nicht ein, sondern erweitert ihn über das Genie aller Zeiten und Völker. Eben der Kenner, der die Ideen des Uebertriebnen, des Dürren und Geradlinigten der ägyptischen Kunst von dem Zwange des ältesten hetrurischen und der Härte des erhabnen ersten griechischen Styls abzusondern und zu schätzen weiß, besitzt auch das Maas von Einsichten, die Grazie in den Gemälden des Guido wie in den Statuen des Praxiteles zärtlich zu lieben, oder das höhere Ideal in den strengern Umrissen des Raphael Urbino, Alcamenes oder Polycletus mit verhältnißmäßiger Begeisterung zu bewundern.

Der einheimische Virtuose wird immer mit dem treuen Eifer desjenigen kunstverständigen Begleiters zufrieden seyn, der ihn auf fremde Schönheiten aufmerksam macht, und seinen Begriffen eine nutzbare Ausdehnung gibt, – nicht in der Absicht, ihm die Wahl oder Copie zerstreuter Schönheiten zu erleichtern, sondern das Ideal, das in seiner Seele verborgen ist, wie auf einen sichern Fels zu stützen.

Eine andere haben die Herausgeber der gegenwärtigen Brief-Sammlung nicht gehabt, und es wird ihnen angenehm seyn, wenn deutsche Leser das weite Feld ihrer Correspondenz, an der sie weiter keinen Antheil haben, einem Garten ähnlich finden, zu dem die gesammte große Natur ihren Zins hergegeben hat.

Quelle:
Heinrich Wilhelm Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 3.
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