Das Ende vom Anfang.

[365] Drei Monate waren seit dem blutigen Kampf bei Czetate vergangen und andere Kämpfer sollten jetzt auf dem Schauplatz erscheinen.

Es war der Abend des 27. März, und unsere Geschichte führt uns nach einer kurzen Übersicht über den Gang der Ereignisse an die Ausgangsstätte unsere Buches, zurück nach Paris.

Am 4. Januar war die vereinigte englisch-französische Flotte, 34 Segel stark, in's schwarze Meer eingelaufen. Indem der englische und französische Gesandte dies zur Kenntniß Reschid-Pascha's brachten, stellten sie das Verlangen, daß ohne vorgängiges Benehmen mit den Gesandten und Admiralen die türkische Flotte nicht die Offensive ergreife.

Die Verlangen und die Zusage müssen als bloßes Blendwerk der öffentlichen Meinung bezeichnet werden, denn die türkische Flotte war nach den Verlusten von Sinope in keiner Weise zu einer Offensive geeignet. Der Wendepunkt des Krieges lag vielmehr bereits in den unterm 27. den Befehlshabern der Flotten gegebenen Instructionen, deren Inhalt am 12. Januar in Petersburg der englische und der französische Gesandte dem Grafen Nesselrode notifizirten.

Die englische Instruction für den Gesandten besagte, daß die Flotten auch den Türken nicht gestatten würden, einen Angriff zur See zu machen, – die französische Instruction enthielt jedoch von dieser Garantie für Rußland kein Wort.

Die Admirale Dundas und Hamelin hatten beim Auslaufen die Fregatte »Retribution« mit Depeschen an den Fürsten Menschikoff nach Sebastopol vorausgeschickt, welche dem Fürsten-Gouverneur erklären sollten, daß die Flotten nur zum Schutz des türkischen[366] Gebiets sich im Schwarzen Meere befänden, daß dagegen die russische Flotte ihre Häfen nicht verlassen dürfe. Die wahre Absicht der Sendung war aber offenbar eine Recognoscirung von Sebastopol, in dessen Hafen die Fregatte trotz zwei blinder Schüsse der Batterieen einzudringen suchte. Erst eine Kugel durch ihren Bug nöthigte sie zum Beilegen. Sie fand die gesamte russische Flotte im Hafen versammelt. Die vereinigte Flotte hatte, trotz jener Erklärung der Admirale, die Gelegenheit benutzt, um einen Convoi türkischer Dampfer mit Kriegsvorrath nach Batum zu escortiren.

Während in Wien die Conferenz sich abmühte, Project auf Project zu häufen, ohne daß es irgend einem Theil, mit Ausnahme Preußens, wirklich Ernst damit war, wurden Erklärungen der Höfe von Paris, London und Petersburg gewechselt. Die russischen Gesandten in Paris und London forderten eine solche über die Instructionen der Admirale. Die ihre lautete, daß Rußland ein Auftreten der Flotten nicht als feindseligen Akt betrachten würde, welches die Gegenseitigkeit gewähre, daß Türken eben so wenig wie Russen angreifen dürften, und daß, wenn den Türken der Verkehr zur See zwischen ihren Küsten gestattet wäre, dies auch für die Russen stattfinden müßte. England und Frankreich jedoch antworteten unterm 31. Januar und 1. Februar ablehnend, daß sie die Instructionen, wie sie seien, aufrecht erhalten würden, vorauf Baron Brunnow und Herr von Kisseleff den beiden Kabinetten anzeigten, daß sie sich in Folge der verweigerten Reciprozität genöthigt sähen, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen und London und Paris mit den Gesandtschaftsmitgliedern zu verlassen. Dies geschah am 4. Februar. Die englischen und französischen Gesandten erhielten sofort den gleichen Befehl. Der Erstere wurde – noch ehe dieser eintraf – von Graf Nesselrode unterm 13. aufgefordert, seine Pässe zu nehmen. Der französische Gesandte verlangte selbst die seinen.

Damit war der diplomatische Bruch entschieden, und die Bitterkeit, welche im Tone des von Kaiser Napoleon an den russischen Czar unterm 29. Januar gerichteten, durch die Zeitungen veröffentlichten Briefes herrschte, und die Antwort des Czaren vom 9. Februar zeigte die gereizte Stimmung und was von gegenseitigen Concessionen zu erwarten war.

In Wien war am 29. Januar Graf Orloff, der Freund und[367] greise Vertraute des Czaren, eingetroffen, um mit Baron von Budberg den Versuch zu machen, Österreich und Preußen zu einem unbedingten Neutralitätsbündniß mit Rußland zu bewegen. Während Österreich mit eingehenden Versprechungen hinhielt, lehnte Preußen offen ein solches Bündniß als eine wenn auch unausgesprochene Hilfe für Rußland ab, die mit seinen durch die Protokolle übernommenen Verpflichtungen im Widerspruch stände. Die Mission des gewandten Staatsmannes scheiterte hiermit und der Graf verließ am 8. Februar Wien, worauf Österreich sich beeilte, in Serbien und dem Banat ein Beobachtungscorps von 25,000 Mann aufzustellen unter dem Vorwande der serbischen Erregung und der in den Gränzdistrikten jetzt offen ausgebrochenen Schilderhibung der Griechen.

Unterm 9. Februar erließ Kaiser Nicolaus ein Manifest an sein Volk, worin er erklärte, daß die von England und Frankreich ihren Flotten im Schwarzen Meere gegebenen Befehle eine unter gebildeten Staaten unerhörte Handlungsweise constatirten, die ihn zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit jenen Staaten genöthigt hätten, die sich zu den Feinden des Christenthums stellten gegen Rußland, das für die orthodoxe Kirche streite. Rußland werde gegen alle Angriffe feststehen – wie 1812. Die Westmächte antworteten unterm 27. Februar mit einem Ultimatum nach Petersburg das die Räumung der Fürstenthümer bis zum 30. April forderte; die Verweigerung solle als Kriegserklärung betrachtet werden, und Lord John Russel hielt seine bekannte Philippika im Unterhause gegen die unredliche und eroberungssüchtige Politik Rußlands. Zugleich forderte die österreichische Regierung, der an einer Verbreitung und einem glücklichen Erfolge des griechisch-christlichen Aufstandes sehr wenig gelegen war, die Westmächte auf, demselben zu Wasser und zu Lande entgegen zu treten, und diese bedrohten die griechische Regierung mit einer Blokade und jener Occupation, welche, später wirklich ausgeführt, eine Schmach des christlichen civilisirten Europa's und eine Beschimpfung des Königthums werden sollte, wie sie sich sicher einst schwer rächen wird. Der Czar dagegen erklärte, daß er dem griechischen Aufstande seinen Beistand und seine Theilnahme nicht versagen könne, und sollten die Kämpfe einen ähnlichen Charakter wie die Freiheitskämpfe von 1826 annehmen, so werde er unter keiner Bedingung mitwirken, diese Bevölkerung wieder unter das türkische Joch zurückzubringen.[368]

Mit dieser Erklärung von Seiten Rußlands am 2. März waren seine Absichten offen dokumentirt, wie die Pläne der Westmächte durchs die Instruction an die Admirale.

Zu Ende Februar hatten bereits die Absendungen französischer und englischer Truppen nach dem Orient begonnen. Der Oberbefehl über das französische Heer und über die gesamte Armee der Alliirten wurde an den ehemaligen Kriegsminister, den Marschall Saint Arnaud, übertragen; das englische Corps befehligte Fitzroy Somerset, Lord Raglan. Ingenieure gingen voran, um bei Gallipoli das Lager für die Hilfstruppen auszustecken, und die Westmächte schlossen unterm 12. mit der Pforte einen Allianz-Tractat über die Sendung von Hilfstruppen ab, wogegen sich die türkische Regierung verpflichtete, keinen Waffenstillstand oder Frieden ohne Bewilligung der beiden Alliirten abzuschließen. Am 11. war die englische Ostseeflotte von Spithead ausgelaufen.

Die Kämpfe an der Donau hatten unterdeß mit wechselndem Glück ihren Fortgang genommen, während dagegen die Russen in Asien mehrere bedeutende Siege gewannen.

General Schilder hatte am 26. Januar den General Fischbach in Krajowa ersetzt und die oberste Leitung der Operationen gegen Kalafat übernommen, die sich indeß bis Mitte März auf eine Cernirung und unbedeutende Gefechte beschränkten. Vom 13. bis 19. vertrieben die Russen die Türken wieder aus Giurgewo, wo es ihnen gelungen war, sich festzusetzen, der Versuch eines Überganges nach Rustschuk wurde dagegen zurückgeschlagen und die Türken gewannen selbst die zwischen Szistowo und Rustschuk gelegene Donauinsel, gingen am 4. März bei Kalarasch auf das linke Ufer des Flusses und zerstörten zum Theil die gegen Silistria dort errichteten russischen Batterieen. Ebenso versuchte Fürst Gortschakoff vergeblich und mit großem Verlust noch ein Mal bei Oltenitza die zwischen den beiden Ufern liegende Insel den Feinden zu entreißen. Die Russen waren in diesem Augenblick auf allen Punkten an der Donau im Nachtheil und ihr Führer offenbar mit einem neuen Operationsplan beschäftigt.


Ein ziemlich großes Arbeitskabinet, – schwere dunkle Vorhänge vor den Fenstern, durch welche man auf die glänzende Erleuchtung der Ströme von Gas schaute, welche allabendlich den herrlichen Quai der Tuilerieen mit Tageslicht erhellen; – das[369] prächtige Bild einer Frau mit aschblonden Haaren und dunklen spanischen Augen aus dem berühmten Pinsel Désandré's; – einige Karten an den mit dunklem Seidenstoff und darein gewirkten goldenen Bienen beschlagenen Wänden; – in einer Ecke die Uniform- und Waffenstücke der neuen »Hundert Garden«; – Bücher und Brochüren auf allen Tischen und Schränke mit einer ausgesuchten Handbibliothek an den Seitenwänden, in welche drei Thüren mündeten; – auf dem großen Tisch in der Mitte das überaus schön von Stahl und Messing gearbeitete Modell eines Geschützes nach neuem noch unbekanntem System; – das ist der Ort, wohin wir den Leser am Abend des 26. März führen.

An dem Tisch in der Mitte saß ein Mann von etwa 46 Jahren mit hoher Stirn und vorspringenden, energischen und kräftigen Zügen, denen wir schon ein Mal zu Anfang unseres Buches begegnet sind. Der aus hundert Abbildungen bekannte Schnitt des Bartes, der feste stolze Ausdruck des Gesichtes, aus welchem das ursprünglich ziemlich matte Auge unter buschigen dunklen Brauen häufig scharf und durchdringend aufflammte, konnten unmöglich die hohe Persönlichkeit verkennen lassen. Seine rechte Hand ruhte auf der Lehne des Fauteuils, während seine linke ab und zu eine Cigarre zum Munde führte.

Er schien aufmerksam auf den abwechselnden Vortrag zweier Herren zu hören, die an der andern Seite des Tisches ihm gegenüber standen und von Zeit zu Zeit ihm ein Papier hinüber reichten, das der Sitzende alsdann flüchtig durchsah.

Der Eine der Beiden trug die glänzende Uniform eines Marschalls von Frankreich, sein breites Gesicht sah aufgedunsen und ungesund aus; der Kopf des Andern in Civil mit dem Großkreuz der Ehrenlegion und zahlreichen ausländischen Orden am Cordon seines schwarzen Fracks war geistreich und anmaßend.

»Colonel de Méricourt hat die Berichte über die Einschiffung der Truppen bis zum 22. von Marseille gebracht. In Oran und Algier stehen die designirten Zuaven-Regimenter bereit und warten auf die Schiffe des Admirals Dufresne. Ducos sagt mir, daß dieselben heute an der afrikanischen Küste sein werden. Das ganze Contingent wird demnach bis zum 30. auf der See sein und vor Mitte des nächsten Monats in Gallipoli ausgeschifft. Wann, Sire, werde ich abreisen?«

»Es eilt nicht, Marschall, jedenfalls vor den Engländern. Einstweilen genügt Canrobert. Haben Sie Nachrichten von der Donau, Drouin?«

»Sehr wichtige, Euer Majestät, ich erlaubte mir nur, dem Herrn Marschall Oberbefehlshaber den Vortritt zu lassen.«

»Geschwind, geschwind! Depeschen über Wien? Sie wissen, daß ich sie auf der Stelle erhalten will.«

»Beide sind seltsamer Weise wieder zusammen eingetroffen, also offenbar in Österreich verspätet worden. Ich habe unsern[370] Gesandten darüber bereits geschrieben, aber er behauptet, daß es außer seiner Macht stehe.«

»Der Inhalt?«

»Ein russisches Corps ist unterhalb Hirsova über die Donau gegangen und hat die türkischen Schanzen erobert. Am 23. sollte die Belagerung gegen Hirsova beginnen. Fürst Gortschakoff hat auf die Verschanzungen von Matschin ein starkes Feuer eröffnet und sucht offenbar den Übergang bei Braila zu erzwingen; ebenso General Lüders bei Galacz und General Uschakoff von Ismael aus nach Tultscha.«

»Ah, da haben wir den vollständigen Operationsplan, den Gortschakoff in der langen Ruhe vorbereitet hat.« Er beugte sich über eine vor ihm liegende Karte. »Matschin, Isaktscha, Tultscha und Hirsova – sie müssen nach unsern Berichten von ihrer Stärke in ein Paar Tagen genommen werden und damit ist Babadagh und die obere Dobrudscha in den russischen Händen. Es handelt sich offenbar um eine Operation ihres linken Flügels gegen Varna, als den Schlüssel zu Rumelien. Aber es wird seine Schwierigkeiten haben ohne die Unterstützung der Flotte.«

»Es ist unmöglich, Sire, ohne den Besitz von Silistria.«

»Richtig, Marschall – der Muschir kann sonst über ihre Flanke herfallen. Doch der Fürst ist ein Taktiker und wir werden sicher in den nächsten Tagen von einem weitern Übergang oberhalb Silistria hören, das man alsdann von drei Seiten umschließen kann.« Er verweilte einigem Augenblicke über der Karte. »Jedenfalls ist der Augenblick zum Einschreiten gekommen. Wir müssen auf dem Platz sein und die Macht haben, die Ereignisse nach unserm Willen zu lenken. Die Türken dürfen geschlagen, aber nicht besiegt werden und die Balkanlinie muß unberührt bleiben, sonst haben die Österreicher Veranlassung und Gelegenheit, sich einzudrängen.«

»Silistria wird sich nicht halten können, Sire.«

»Das ist gleichgültig, wenn es nur so lange geschieht, bis unsere Truppen in Varna stehen. Wir müssen einige zuverlässige Offiziere in Silistria haben, Sie werden die nöthigen Befehle geben, Marschall. Vaillant wird mir morgen Vormittag nach dem Conseil über die Etappen berichten. Alle Maaßregeln müssen beschleunigt werden.«

»Euer Majestät erlauben mir die Bemerkung,« sagte der Minister des Auswärtigen, »daß bei alle dem doch wohl erst der offizielle Schritt der Erklärung voran geschehen muß.«

»Erinnern Sie sich, Herr, wie mein Oheim, der Kaiser, gegen Österreich verfahren ist. Das ist hier aber nicht einmal nöthig und wir können vor Europa vollständig alle Formen wahren. Wir haben volle Zeit. Der Beschluß wird morgen im Conseil gefaßt und Fould meine Instructionen erhalten, um sie am Abend im Senat und der Legislative vorzulegen. Es ist mein Wunsch, daß wir den Engländern damit nicht zuvor kommen. Das Nöthige ist hier[371] und in London vorbereitet und der Telegraph kann uns über die Stunde verständigen.«

»Die griechische Regierung hat auf das Ultimatum eine ausweichende und ungenügende Erwiderung gegeben.«

»Das wird uns Gelegenheit geben zu einer Etappe im Pyräus. Das Weitere mögen die Briten von Corfu aus thun. Auf Wiedersehen, meine Herren.«

Die beiden Minister zogen sich durch die große Thür zurück.

Der Zurückbleibende ging einige Minuten in dem Kabinet auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefalten. Dann trat er zu einem Bilde Napoleon's des Ersten, das über der Bergère an der Wand zwischen der zweiten und dritten Thür hing und betrachtete es längere Zeit. Die großen durchdringenden Augen des berühmten Herrschers und Kriegers, des Siegers in so vielen Schlachten und drei Welttheilen, blickten starr und ehern auf ihn nieder.

»Seit 1815 zum ersten Male,« sagte der Bewohner des Zimmers langsam vor sich hin. »Die Zeit naht ihrer Erfüllung und die Demüthigung von Moskau wie die Verzögerung meiner Anerkennung werden ihre Sühne finden. Ehe zwei Jahre vergehen, wird der Thron der Napoleoniden wieder der gefürchtetste Europa's sein. Das genügt, denn die Erfahrung hat uns das Erreichbare gelehrt. – Vetter Nicolaus,« – ein leiser Hohn spielte um seinen Mund – »nicht Rußland oder Frankreich – ihre Interessen liegen zusammen! – sondern ich oder Du

Er trat rasch zu der zweiten Thür, hob den Vorhang und öffnete sie. In einiger Entfernung in dem Corridor, auf den sie führte, stand ein Kammerdiener in Escapins.

»André – führen Sie die beiden Herren zu mir in's Kabinet.«

Einige Augenblicke darauf traten zwei elegant in Schwarz gekleidete Männer ein, der Eine mit spitzig hervorspringender Stirn, etwas vorstehendem Mund und scharfen grauen Augen, der Zweite von einem gewissen Embonpoint mit ähnlichen den geübten Financier verrathenden Kennzeichen und orientalischem Schnitt – Baron Riepéra, dem wir bereits in Paris und Wien begegnet sind.

Drei tiefe und ehrerbietige Verbeugungen erfolgten, dann erwarteten sie schweigend die Anrede.

»Meine Herren,« sagte nach einer Pause der Empfangende, »die Finanzoperation, die Sie mir vorgeschlagen, ist zu meiner vollen Zufriedenheit ausgeschlagen. Ich danke Ihnen.«

Wiederum Verbeugungen.

»Während Herr von Rothschild Umstände machte mit der Anleihe von 250 Millionen, gab Ihr Memoir der Regierung den sinnreichen Plan in die Hand, die Summe durch Nationalsubscription – was man sonst nur im Fall einer Finanznoth des Staates thut, – aufzubringen, und den Zeichnungen bis zu zehn Franken Rente einen bedeutenden Antheil zu sichern. Ich habe sofort neben den[372] Nachtheilen auch die Vortheile dieses Vorschlags erkannt. Nicht mehr die Banquiers, sondern die Nation bis in die untersten Schichten ist durch diese Zeichnung an dem steigenden und fallenden Werth der Rente an der Börse betheiligt. Die Anleihen der Staaten beiden Financiers machen die Fürsten entweder zu ihren Commis oder im Fall einer gewaltsamen Maaßregel zu Räubern; die Anleihe bei Allen aber immer das Volk zum blinden Anhänger und Vertheidiger der Regierung.«

»Euer Majestät erlaubten wir uns eine hohe Ziffer zu versprechen.«

»Sie haben sich nicht getäuscht, Herr Bineau hat mir heut Morgen die letzten Berichte aus den Departements vorgelegt, und die Gesammtsumme beträgt 469 Millionen, trotz der kurzen Frist. Rechnen wir auch hierauf die 20 Millionen, die Rothschild, die 30 Millionen, die Ihr Crédit mobilier gezeichnet, die 25 Millionen der Bank von Frankreich und die 5 Millionen Sina's ab, so bleiben immer noch 389 Millionen in kleinen Zeichnungen, also 139 mehr als ich haben will.«

»Euer Majestät werden sich erinnern, daß hierin gerade der weitere Vortheil liegt.«

»Allerdings, und Das ist der Punkt, wo sich unsere Operationen und unsere Interessen berühren. Sie sagen richtig, daß die Nation die einmal gezeichneten Summen nur sehr ungern wieder der Speculation entziehen und dafür jede andere günstige Gelegenheit benutzen würde.«

»Wir sind dessen gewiß, Sire. Durch die Bewilligung der von uns erbetenen Concessionen für den Crédit mobilier erhält unser Unternehmen erst seine wahre Bedeutung. Die Actien, die augenblicklich nur neun Franken über pari stehen, werden einen bedeutenden Cours erreichen und uns so leicht kolossale Kapitalien zufließen lassen, daß wir jeder spätern Anforderung der Regierung werden genügen können.«

Der hohe Herr lächelte unwillkürlich über die jüdische Bestechung.

»Die Disposition über Ihre Kasse,« sagte er, »ist bei der Genehmigung des Crédits weniger meine Tendenz gewesen. Ihr Memoir nennt vielmehr ganz richtig die Betheiligung des Volkes an den Börsenspeculationen eine Sicherung der Regierungen in dieser umwälzungslustigen Zeit. Sagen Sie mir aufrichtig, Baron Riepéra, war der Gedanke aus Ihrem Kopfe entsprungen?«

»Euer Majestät wissen bereits, daß er das Eigenthum und die Absicht der revoloutionairen Propaganda ist, mit welcher sie den Gewinn sichern und den allgemeinen Bankerutt, also den Umsturz Europa's in ihre Hand bringen wollte.«

»Ich weiß – und Sie haben mir denselben Plan vorgelegt, um im Gegensatz die Ruhe Europa's und die Consistenz der Throne an meine Person und an die Erhaltung des Friedens fesseln zu[373] können, nachdem Beide durch den gegenwärtigen Krieg die einflußreichste Stellung gewonnen. Aber ich möchte wissen, ob der Gedanke selbst zuerst von Ihnen ausgegangen ist?«

Der Finanzmann war schlau genug, das Gefährliche der Frage einzusehen.

»Die erste Anregung, Sire, gab ein italienischer Abbé – die finanzielle Ausarbeitung der Idee war mein Werk.«

»Das dachte ich mir – nur ein italienischer Pfaffe konnte eine so furchtbare Idee aushecken, und sie wird zur socialen Sündfluth werden, indem sie sich mit der jüdischen Speculation verbindet. Genug davon, Herr Baron. Ich habe Ihnen den Werth gezeigt, den ich auf Ihre Enthüllungen lege, indem ich Ihrem Verwandten, Herrn Pereira, sofort die Concession des Crédit mobilier ertheilt habe. Ich zweifle nicht an dessen Zukunft, aber merken Sie sich, ich will, daß diese Umwälzung der europäischen Credit-Verhältnisse meinem Hause dienstbar bleibe, oder diese Hand, die ihr die Lebenskraft gegeben, wird sie auch zu erdrücken vermögen. Sie haben, wie ich höre, heute Ihre Zahlungseinstellung angekündigt?«

»Ja, Sire – ich beschränke mich von jetzt ab auf eine anonyme Theilnahme an der Leitung des Crédit mobilier.«

»Wie hoch beläuft sich Ihr Manquement?«

»Nur drei Millionen, Sire.«

»Und wie viel verlieren die geheimen Gesellschaften dabei?«

»Eine Million und achtmalhunderttausend Franken, Sire.«

»Wie hoch rechnen Sie das Vermögen derselben?«

»Nach den durch meine Hände gegangenen Summen auf höchstens drei bis vier Millionen.«

»Indem man ihnen also die Operationen und den Einfluß an der Börse durch Ihren Bankerutt aus der Hand nimmt, wird jener Schlag ein sehr empfindlicher für die Propaganda sein?«

»Ja, Sire, denn die Beiträge fließen mit jedem Jahre spärlicher und ihre Hauptkraft war jetzt gerade die Speculation an der Börse.«

»Aber sie wird andere Vermittelungen dafür finden?«

»Mit Eurer Majestät Unterstützung,« sagte der Jüngere der beiden Financiers, »wird der Crédit mobilier Alles überflügeln. Von der unmittelbaren Einwirkung in Paris entfernt, wird ihre Kraft gebrochen sein und bei den Nachweisungen, die mein Vetter mir gegeben, wird es mir leicht werden, der Kasse der geheimen Verbindungen Schlag auf Schlag beizubringen.«

»Das wird Ihre Sache bleiben, Herr Pereire. Die erbetene Eisenbahn-Concession soll bewilligt werden.« – Der Redner wandte sich wieder zu dem Älteren:

»Wollen Sie mir aufrichtig sagen, Herr Baron, was Sie zu dieser Sinnesänderung, zu dem Entschluß gebracht hat, der Regierung jene Vorschläge und Entdeckungen zu machen?«

»Sire – eine große Nervenerschütterung – ein furchtbarer[374] Schrecken, den ich noch nicht überwinden kann. Lassen Euer Majestät über die Spezialitäten mich schweigen.«

»Aber fürchten Sie nicht, daß diese Revolutions-Gesellschaften Sie im Geheimen für den Austritt strafen, sich an Ihrer Person rächen werden?«

»Der Boden, auf dem ich stand, Sire, war bereits eine Mine, die jeden Augenblick in die Luft springen konnte. Jener Vorgang, auf den ich angespielt, zeigte mir, was ich zu erwarten hatte. Ich hielt Euer Majestät für den einzigen Mann in Europa, der siegreich den Kampf mit dieser verborgenen Macht führen könnte, und wollte lieber unter Euer Majestät Schutz mich begeben, als länger jene Lage ertragen. Meine Maßregeln sind getroffen; – indem ich Ihr Kabinet, Sire, verlasse, werde ich für alle Welt ein unsichtbarer Mann für ein oder zwei Jahre, bis ich glaube, mit Sicherheit für mein Leben mich wieder zeigen zu können. Man wird mich nach Amerika entwichen glauben und dort vergeblich suchen.«

»Im Interesse Ihrer Sicherheit würde es gut gewesen sein, wenn Sie möglichst vollständige Angaben über diese sogenannten ›Unsichtbaren‹ und ihre geheimen Zusammenkünfte gemacht hätten. Die Notizen, die Sie mir darüber haben zukommen lassen, sind jedoch sehr unvollständig, namentlich in Betreff des Ortes.«

»Sire – es ist Alles, was ich weiß; – da ich nur einen sehr untergeordneten Grad hatte und allein für die finanziellen Operationen benutzt wurde, kann ich nicht mehr sagen. Die Mitglieder meines Grades wurden unter ganz besonderen Vorsichtsmaßregeln an den Versammlungsort des Rathes geführt, und ich weiß nur, daß er sich in der Nähe der Seine befindet.«

»Gut; zum Glück bin ich im Besitz anderer Materialien. Leben Sie wohl, Herr Baron – ich glaube, die Zeit, in welcher Sie aus Amerika zurückkehren dürfen, wird nicht so fern sein.«

Eine leichte Verneigung des Kopfes zeigte den Beiden, daß die Audienz zu Ende; sie zogen sich unter Verbeugungen zu der Thür zurück, durch die sie eingetreten, und verließen das Gemach.

Wiederum verging eine Pause in ernstem scharfem Nachdenken, dann legte der Gebieter den Finger auf die Feder einer Glocke und ein scharfer durchdringender Silberton erklang. Der dienstthuende Adjutant trat sofort durch die große Thür in das Kabinet.

»Ist Persigny da, lieber Graf?«

»Zu Eurer Majestät Befehl. Der Herr Minister wartet seit einer halben Stunde und überbringt eine wichtige Nachricht, wie er mir sagt.«

»Sie hätten mir das gewöhnliche Zeichen geben sollen; lassen Sie den Grafen eintreten, Rognet.«

Der Minister des Innern, – jener Günstling und Anhänger des neuen Gestirns der Napoleoniden schon bei seinem ersten verunglückten Aufflug, – der Gesandte von 48 in Berlin, – der[375] Graf aus Recompense, – trat in das Kabinet. Das feine elegante etwas spitze Gesicht und die zierliche Figur paßte zu seiner Haltung. Dennoch schien die diplomatische Ruhe des Staatsmannes etwas aus dem gewöhnlichen Gleis.

»Was hast Du, Persigny?«

Der Gebieter, der überhaupt für Jugenderinnerungen sehr empfänglich ist, pflegt ihn in vertrauten Stunden oft ziemlich cordial zu behandeln.

»Sire – der Telegraph meldet, daß der Herzog von Parma heute Nachmittag beim Austritt aus seinem Palast ermordet worden ist.«

»Ein Bourbon!«

Der Ausdruck war fast unwillkürlich den Lippen entschlüpft.

»Sire es ist ein politischer Meuchelmord, offenbar ein Werk der revolutionairen Propaganda. Der Mörder ist entkommen und unbekannt.«

Er blickte ihn wie fragend an. Der Minister verstand seine Gedanken.

»Der Dolch, der sich an den legitimistischen Bourbonen gewagt, kann sich auch an den absoluten Napoleoniden wagen.«

»Du hast Recht, Persigny, und der Sache muß ein Ende gemacht werden. Das Schwert und das Scepter meines großen Oheims soll regieren über Europa, nicht der Dolch alberner Republikaner. Sorge dafür, daß morgen im Moniteur die That mit den schwärzesten Farben gebrandmarkt wird. Ich bin entschlossen, und noch heute soll der erste Streich fallen.«

»Meine Vorbereitungen sind getroffen.«

»Wohl – so breche ich denn vollständig mit der Revolution und der Vergangenheit. Sie oder ich, nur Einer darf herrschen. Ich habe dieses Netz geheimer Intriguen, das man seit zwei Jahren um mich gesponnen, von Anfang an durchschaut und wie Gregor VII. will ich die Krücken zu Boden werfen, denn ich kann allein stehen. Die Propaganda glaubte ein williges Werkzeug an mir zu finden, dessen Gängelband in ihren Händen blieb, aber sie hat sich getäuscht und wird ihren Herrn erkennen. Mein Oheim hat blos die französische Revolution von 1793 zu Boden geworfen, – ich werde der Revolution von ganz Europa den Maulkorb anlegen.«

»Wir haben mancherlei Vortheile aus diesem Gespenst der Staaten gezogen, Sire.«

»Das haben wir, Graf, gewiß, aber die Stunde des Bruchs mußte kommen. Der Thron Napoleons kann nicht von der Geneigtheit demokratischer Fanatiker oder Speculanten abhängen. Ich habe sehr wohl begriffen, warum man mich in dieser orientalischen Crisis so schlau unterstützt, oder vielmehr, warum man von allen Seiten den Krieg herangedrängt hat. Hätte er nicht meinen eigenen Zwecken und Wünschen entsprochen, alle ihre Künste und Avancen[376] sollten wenig genützt haben. Jetzt werfe ich die Maske ab und will die Bewegung in meiner Hand concentriren.«

»Euer Majestät wissen, daß ein großer Theil des Heeres, namentlich in Algerien republikanische Gesinnungen hegt, und daß viele unserer besten und beliebtesten Führer diese bei der Wahl offen bekundeten. General Pelissier ...«

»Pelissier wird thun, was ich ihm befehle. Eben indem ich der Armee Schlachtfelder, Ruhm und Rache biete, wird sie imperialistisch sein mit jedem Blutstropfen. Die französische Armee gehört dem Namen Napoleon. Du bist kein Soldat, Persigny, und begreifst das nicht. Bédeau, Lamoricière und Cavaignac haben mir ihre Degen anbieten lassen für den Krieg, aber ich brauche und will sie nicht, ich verzeihe nie; das Frankreich unter mir soll seine eigenen Marschälle ziehen. Ich halte in meiner Hand jetzt schon den Credit Europa's, diese mächtige Waffe des künftigen Friedens. Ich werde die Sieger des Hauses Napoleon demüthigen, und den einzigen Mann in Europa, dessen Stolz und Energie ich achte, bedauern lassen, daß er Ludwig Napoleon beleidigt und ihm sich in den Weg gestellt hat!«

Es war das erste Mal, daß dieser verschlossene Charakter selbst gegen seinen Vertrauten so offen sich aussprach, und der Graf fühlte die Gefahr des Terrains.

»Der Kaiser von Rußland, Sire,« sagte er, »dürfte es jetzt schon vielfach bereut haben, daß er Ihnen die Anerkennung Anfangs verweigerte. Die geheimen Anerbietungen in Betreff der türkischen Frage sind Beweise dafür.«

»Sie vergessen, Graf, wann sie gemacht wurden, und das ist eben der Umstand. Durch die Spione jener Propaganda mußte ich die erste Nachricht von den Unterredungen erfahren, die der Czar mit Lord Seymour gehalten und die das englische Ministerium jetzt in dem blauen Buche vor Europa veröffentlicht hat. Dies Übergehen Frankreichs oder vielmehr Napoleon's war eine neue Beleidigung. Ich weiß, der Czar haßt mich und nennt mich einen Avantürier. Das kann ich selbst thun – aber kein Anderer! Erst als die britischen Füchse ihn abgewiesen, kam Nesselrode uns mit seinen Plänen. Sagen Sie, Graf, wie nimmt man in Deutschland die Enthüllungen auf, die der Moniteur und das Journal de l'Empire über die neue Auflage des Vertrages von Tilsit gemacht haben?«

»Sire, die Zeit zu Äußerungen ist noch zu kurz – die Artikel erschienen erst vor drei Tagen.«

»Ich denke, man wird sich endlich jenseits des Rheines überzeugen, was man von der russischen Freundschaft zu erwarten hat. Dieses Preußen ist blind und störrisch, wie sein Adel. Ich will keine Eroberungen, aber so lange diese sogenannte heilige Allianz besteht, bleibt sie eine Bedrohung der napoleonischen Herrschaft. Der Tag, an dem ich hier in Paris in meinen Tuilerieen ein neues[377] Bündniß an ihre Stelle setze, wird der erste meiner wahren Herrschaft sein.«

»Der Tag wird kommen, Sire.«

»Ich weiß es, Graf – über die Schlachtfelder am Schwarzen Meere dämmert er bereits. Lassen Sie Moustier in Berlin genau auf die öffentliche Stimmung merken und verkehren Sie über die Presse direkt mit ihm. – Haben Sie die Nachweisungen, die ich Ihnen gab, mit den Ermittelungen Pietri's genau verglichen?«

»Es ist heute Mittag mit den beiden Präfekten und Herrn Collet-Meygret ausführlich conferirt worden. Wir glauben des Platzes ziemlich sicher zu sein und unsere Agenten bewachen ihn. Der Schlag kann, wie gesagt, jeden Augenblick fallen.«

Der Gebieter sah nach der Uhr über dem Kamin.

»In einer Stunde also – ich müßte mich sehr irren, wenn nach dem Bankerutt Riepéra's und der Nachricht aus Parma nicht heute noch eine Sitzung stattfinden sollte. Sind die Befehle nach den Departements ertheilt? – Lassen Sie besonders Lyon im Auge halten.«

»Sämtliche uns bereits bekannte Verbindungen, Sire, die Marianne, die Militante, der junge Berg und die Joseffiten sind möglichst genau überwacht, – es fehlt uns Nichts, als ihr Zusammenhang.«

»Wir werden ihn heute finden. Sobald die Verhaftungen erfolgt sind, lassen Sie mir durch Haußmann oder Pietri Bericht erstatten.«

Der Minister verbeugte sich.


Die Yella hatte in der großen Oper getanzt, die schöne russische Sylphide, die später den Muth bewies, dem französischen Kaiser gegenüber ihre Theilnahme an dem Siegesfest über ihr Vaterland zu verweigern. Das leichtherzige Volk der Künstler beunruhigte sich nicht über den drohenden Kriegssturm, – sie blieben in Paris und Petersburg, denn sie wußten, daß Paris und Petersburg, die Üppigkeit und das Raffinement, bald wieder einander bedürfen würde, daß Rußland seine Gränzen gegen die Bedürfnisse der Völker, aber nicht für die Schwelgerei der Reichen auf die Dauer verschließen kann.

Aus dem Foyer traten zwei Männer Arm in Arm und gingen plaudernd durch das Gedräng der Billethändler, der Ausrufer und Zeitungsverkäufer nach dem Boulevard des Italiens zu. Der Eine trug die Colonel-Uniform der Zuaven, der Andere Civil.

»Kaufen Sie, Messieurs, les Gardes de la Porte, mit schönen Illustrationen, ein Sou das Stück!«

Der junge Mann in Civil lachte.

»Kaufen Sie, Vicomte, um mit unserer Literatur au fait zu sein. Das nichtswürdigste und lächerlichste Pamphlet auf den Kaiser[378] Nicolaus. Ich wette, der Bursche, wenn Sie ihn fragen, hat auch die Revision der Karte von Europa, obschon die Polizei sie angeblich confiscirt hat.«

»Ich sehe, Sazé, Sie stehen bereits wieder vollkommen in der Tagesgeschichte, obschon Sie erst seit drei Tagen aus Poitou zurückgekehrt sind.«

»Ei, mein Lieber,« plauderte der fröhliche Lebemann, »wozu hat man die Zeitungen, die Correspondenz und seine Freunde? Sie können denken, daß ich ein eifriger Correspondent geworden bin und der Post viel eingebracht habe, um den abscheulich langen Herbst und Winter todt zu machen, den ich im Schloß meiner alten Tante zubringen mußte. Verwandschaftsrücksichten, mein Bester, Verwandte hat leider jeder Mensch! Zum Glück war es meine letzte und ich kann nun ungehindert thun, was mir beliebt, in die Diplomatie oder in's Militair treten, kurz, ein Mann des Staates werden, was die legitimistischen Grillen der Verstorbenen, von der leider meine besten Aussichten abhingen, mir bisher verschlossen. Ah, Colonel! – ich gratulire bei der Gelegenheit zum Avancement – wenn Madame la Marquise geahnet hätten, wozu der letzte Sprößling der Sazé's unterdeß all' seine viele Zeit verwandt hat, wie er in den durch das Bourgeoisieregiment und das neue Kaiserthum entweihten Tuilerieen Hof gemacht, dem Advocatenadel, der Börsenaristokratie und der Judennoblesse viele seiner schönsten Abende und Salonstudien zu danken hat, – auf Ehre, Vicomte, die alte Dame hätte mich zu all' ihrem langweiligen Predigten noch gänzlich enterbt.«

Méricourt – denn der wackere und hochherzige Geliebte der schönen Fürstin Oczakoff, die wir so lange aus den Augen verloren haben, war der Begleiter des Marquis, lächelte ernst.

»Die Verbannung von Paris hat Sie wenig verändert, obschon ich glaubte, daß pariser Luft Ihnen so nothwendig zum Leben wäre, wie dem Fisch das Wasser.«

»Da haben Sie Unrecht, Vicomte, ich bin nicht ein einziges Mal während der ganzen Zeit in Paris gewesen, sondern habe alle Landkränzchen und Bälle der Provinz mitgemacht, wie ein geborener Krautjunker. Sie sehen ja auch aus meinen Plänen, daß ich Paris missen will und in die Fremde gehen. Im Vertrauen kann kann ich Ihnen freilich sagen, es geschieht, weil nach meinem Arrangement von dem Erbe meiner Tante, das wegen der leidigen wohlthätigen Legate viel geringer ist, als ich und meine Gläubiger erwarteten, mir nicht so viel übrig bleibt, um das Leben in der frühern Weise hier fortführen zu können.«

»Werden Sie Soldat, Sazé, Sie dienten ja bereits in ihrer frühern Jugend.«

»Gewiß, mein Lieber; ein oder zwei Jahre, ich weiß nicht mehr – man muß seine Pflichten gegen das liebe Vaterland erfüllen. Auch hat ein Bekannter im Bureau des Kriegsministers[379] mir bereits das Patent als Lieutenant und zur Dienstleistung beim Stabe des Prinzen, der die 3. Division kommandiren soll, zugeschickt, – ich habe aber Lust, es doch wieder zurückzugeben, und die diplomatische Carriere vorzuziehen.«

»Im Augenblick, wo der Krieg vor der Thür ist?« sagte der Vicomte vorwurfsvoll.

»Ah, bah, – ich glaube, Sie zweifeln nicht an meinem Muth, nur ist das Leben im Felde so – so – unfashionable und ich verspreche mir mehr Spaß von den diplomatischen Operationen in dieser Zeit. Mit den türkischen Harems möchte ich schon Bekanntschaft machen, wenn wir nur nicht mit den schmuzigen Russen zu thun hätten. Man wird die Handschuh alle Augenblick wechseln müssen im Gefecht! A propos, Vicomte, haben Sie Nichts wieder von unserm kleinen durchgegangenen Duellanten gehört, der den Kamm so gewaltig blähte und dann spurlos verschwunden war?«

»Sie meinen den Fürsten Iwan?« entgegnete der Colonel ernst. »Sie wissen, Marquis, daß kein Flecken auf seiner Ehre haftet und daß Herr von Kisseleff, der russische Gesandte, uns am Morgen offiziel unterrichtete, daß er den Fürsten davon abgehalten und zur Abreise als Courier nach Petersburg gezwungen habe.«

»Ja, ich weiß, und ich begriff damals nicht, warum Sie das heimliche Anerbieten jenes russischen Obersten, für den jungen Fürsten einzutreten, ablehnten und sich mit Entschuldigungen des Gesandten begnügten. Sie schießen so wundervoll, Vicomte, und hatten die beste Gelegenheit, sich da von dem widrigen Tatarengesicht Ihres Rivalen zu befreien, denn verliebt in die schöne Fürstin waren Sie doch.«

Der Colonel schwieg.

»Haben Sie Nichts wieder von der Dame und ihrem Bruder gehört?« beharrte de Sazé.

»Fürst Iwan ist, wie ich aus den Zeitungen ersehen, in den Stab des Fürsten Mentschikoff gesandt worden. Sein Name hat bereits ehrenvolle Erwähnung in der blutigen Schlacht von Oltenitza gefunden. Die Fürstin ist – wie ich von einem Attaché der Gesandtschaft hörte – gefährlich in Berlin erkrankt und dann auf ihre Güter in der Krimm zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit gebracht worden. Ein seltsames Ereigniß erinnerte mich daran, als ich vor einigen Tagen bei meiner Rückkehr von Algier in Marseille der Einschiffung der ersten Division beiwohnte.«

»Bitte, erzählen Sie, Vicomte! – Aber was, zum Teufel! verfolgt uns denn eigentlich für ein fremdes Subject? Ich habe das confiscirte Gesicht schon beim Austritt aus dem Theater bemerkt, wie es mich aus der Menge der Flaneurs mit den Augen eines Wolfes anstarrte.«

Der Colonel sah sich um. In der Entfernung von etwa dreißig oder vierzig Schritt schlich mit auffallender Beharrlichkeit ein Mann hinter ihnen d'rein von finsterm verdächtigem Aussehen.[380] Seine Kleidung war die eines Commissionairs, das Gesicht eingefallen, hohl, so weit es die Entfernung und die Gasflammen zu erkennen erlaubten, – und von einem dichten Bart zur Hälfte bedeckt. –

»Vielleicht irgend ein Vagabond oder Bettler,« sagte der Vicomte, »Paris wimmelt davon. Aber die Zeit ist noch zu früh, kaum eilf Uhr und der Boulevard zu belebt für solche Nachtvögel.«

»Also Ihre Geschichte, Colonel!«

»Ich habe bereits erwähnt, daß ich bei dem ersten Einschiffen der Truppen zugegen war, denn zu der Division des Generals Canrobert wird auch das 3. Zuaven-Regiment gehören, dem ich mich von der Garde habe zum activen Dienst attachiren lassen und folgen werde, sobald ich hier meine Functionen beendet. Bei dem Gedränge der Einschiffung gerieth ich plötzlich mit einer jungen hübschen Marketenderin zusammen, die meine Hilfe in Anspruch nahm, weil, wie sie naiv sagte, ihr Bruder auch jetzt bei den Zuaven stände. Das wäre nun kein besonderes Abenteuer, denn Sie wissen, Marquis, mit welcher Nonchalance unsere braven Mädchen aus dem Felde mit Offizieren und Soldaten umzuspringen pflegen. Aber was mich dabei reizte, war das Aussehen ihres Begleiters, der in irgend eine zusammengesetzte Uniform, wie sie der Trödel bietet, gesteckt war und nur dazu zu dienen schien, das Gepäck der Kleinen zu bewachen, ohne ihr im Geringsten sonst an die Hand zu gehen, während sie mit einer auffallenden Sorgfalt jeden Augenblick nach ihm umschaute. Der Bursche war jung, aber hager und bleich, dabei aber so hübsch, ja schön, wie Fürst Iwan Oczakoff, mit dem er eine so auffallende Ähnlichkeit hatte, daß dies eben meine Blicke gefesselt hielt. Wären die starren todten Augen nicht gewesen, so hätte man die Ähnlichkeit für erschreckend halten können.«

»Der Zufall treibt oft sein merkwürdiges Spiel.«

»Das schien auch hier der Fall. Der arme Junge war blödsinnig oder wahnwitzig, ich weiß nicht was. Seine einzige Antwort, als ich ihm befahl, das Gepäck aufzunehmen und ihn die Soldaten hin und her stießen, war der immer wiederholte Refrain: ›Eilf Uhr – die Bahn geht ab!‹ und ein Lachen, das sogleich mir seinen Zustand verrieth, auch wenn die kleine Marketenderin nicht hinzugesprungen wäre und mir gesagt hätte, ihr armer Vetter sei geistesschwach und sie sorge für ihn. Ich gab der Kleinen meine Karte, notirte mir ihren Namen, Nini Bourdon, und empfahl ihr, mich später in Gallipoli aufzusuchen, wenn ich ihr gefällig sein könne.«

Die Freunde setzten plaudernd ihren Weg fort, das Wetter war schön und der Marquis begleitete den Freund eine Strecke auf dem Wege nach seiner Wohnung, die, wie wir aus dem ersten Theil unseres Buches wissen, jenseits der Seine lag. Sie waren über den Platz de la Concorde und bis zum Cours la Reine am Quai gekommen, auf welchem später die Nebengebäude des[381] Industrie-Palastes erbaut wurden. Der Colonel trat in einen der Läden, um sich eine nothwendige Kleinigkeit zu kaufen, während der Marquis langsam auf den breiten Quadern am Fluß hinschlenderte.

Der Ort war jetzt verhältnißmäßig einsam, wenn man dies in Paris so nennen kann, wo es zu keiner Stunde der Nacht an Flaneurs auf den Boulevards und Quais fehlt. Méricourt verweilte einige Augenblicke länger in dem Magazin, und als er sich nach dem Freunde umsah, konnte er ihn im ersten Augenblick nicht bemerken, bis, weiter gehend, der Schall von Stimmen ihn aufmerksam machte.

Im Licht der Gasflammen bemerkte er den Marquis und dicht vor ihm, mit wilden Gesten zu ihm sprechend, den Fremden, der ihnen von der Oper her über die Boulevards gefolgt war.

Der Colonel beeilte seine Schritte, denn die Sprache des Fremden klang rauh und drohend, obschon er die Worte noch nicht verstehen konnte.

Er mochte etwa noch dreißig Schritte von der Gruppe entfernt sein und bemerkte, daß außer ihm noch andere Vorübergehende aufmerksam geworden, als er sah, daß der Unbekannte sich auf seinen Freund stürzte und ihn mit wilder Erbitterung an der Brust faßte und schüttelte. Zugleich hörte er die Worte: »Sie sind sein Mörder, Herr; Ihr Blut für das seine!«

Im Nu war der Colonel an der Seite des Freundes, aber er kam zu spät, um eine unglückliche That zu hindern. Alfred de Sazé war von schlanker Gestalt, verbarg aber unter dem schmächtigen Äußern eine starke Muskelkraft. Im ersten Augenblick wankte er unter dem Angriff des Rasenden, dann aber hatte er ihn rasch an den Hüften gefaßt und schleuderte ihn mit Gewalt von sich. Der Unglückliche taumelte zurück, schlug an das Gitter, das den Quai nach der Seine hin abschließt, und von der gewaltigen Schwingung des Wurfs die Balance verlierend, rückwärts über die obere Stange des Gitters, und ehe die umherfassende Hand einen Halt zu ergreifen vermochte, in die Tiefe.

Ein lauter Schrei ertönte von mehreren Lippen, denn verschiedene Personen, durch den raschen heftigen Wortwechsel herbeigelockt, hatten die That mit angesehen. Alles stürzte nach den Gittern.

»Um Gotteswillen, de Sazé, was gab es? was ist geschehen?«

Der Marquis stand bleich, zitternd, odemlos, sein Gilet und seine Cravatte zerrissen von dem Griff des Fremden. – »Ich weiß nicht – ich verstehe es selbst nicht – retten Sie den Menschen, es ist ein Wahnsinniger!«

Er sprang an den Rand des Stromes, an die Unglücksstelle, an der bereits das Publikum mit dem Rufe: »Ein Mord! haltet den Mörder!« sich drängte.

»Er ist auf den Kahn gestürzt!« rief eine Stimme.

So war es in der That, aber wie sich erwies, zum Unglück[382] des Mannes. Dicht unter dem Quai lag eines der größeren Seineschiffe; der Stürzende war auf das Bugspriet desselben geschlagen, jedoch so unglücklich, daß er mit dem Hinterkopf auf die Schaufel eines Ankers traf. Als die von dem Tumult herbeigerufenen Schiffer ihn aufhoben und über die schwankende Bohlenbrücke auf den Quai trugen, zuckten die Glieder bereits im Todeskampf, die Augen rollten wild, ein Strom von Blut ergoß sich aus dem Munde und wenige Augenblicke darauf war der Unbekannte eine Leiche.

Im hellen Licht der Gaslaternen lag dieselbe auf den Quadern des Quais, umdrängt von der Menge; der Colonel untersuchte den Puls des Unglücklichen und bat einige Umstehende, ärztliche Hilfe zu holen – der Marquis starrte regungslos, verwirrt auf das bleiche Todtenantlitz.

Der Offizier erhob sich endlich. – »Jede Hilfe ist vergebens, der Mann ist todt. Es ist ein Unglück, Sazé, aber Sie sind außer Schuld.«

Ein Polizei-Agent drängte sich heran. – »Man bezeichnet Sie mir als den, welcher diesen Mann im Streit in die Seine gestürzt. Ich verhafte Sie und Sie werden mir folgen.«

Der Colonel entfernte ruhig die Hand des Agenten von dem Arm seines Freundes. – »Menagiren Sie sich, mein Herr. Sie sehen, daß ich Stabs-Offizier bin und dieser Herr ist gleichfalls Offizier, wenn er in diesem Augenblick auch nicht Uniform trägt. Er wurde von dem Manne angefallen und thätlich beleidigt, hatte also das volle Recht, ihn zu todten. Sie werden im Publikum leicht die Zeugen finden, einstweilen sind hier unsere Karten: Colonel Vicomte de Méricourt und Lieutenant Marquis de Sazé. – Wollen Sie mir morgen weitere Nachricht geben über den Verunglückten, so werden Sie mich verpflichten; einstweilen haben wir hier Nichts weiter zu schaffen. Kommen Sie, de Sazé.«

Er zog den Arm des Freundes durch den seinen und ihn aus dem Gedränge, den nächsten Nachtwagen anrufend, der sie schnell von dem unglücklichen Schauplatz hinwegführte.

»Der Mensch wollte Sie offenbar berauben, und doch kann ich die Worte nicht damit zusammen reimen, die ich hörte?«

Der Marquis hatte seine Fassung immer noch nicht wiedergewonnen und war auf das Heftigste angegriffen von dem unglücklichen Ausgang. – »Ich glaube nicht,« sagte er hastig. »Hören Sie den Hergang. Sie hatten mich eben verlassen,« erzählte er, »und ich näherte mich dem Trottoir am Strom, als ich hinter mir rasch Schritte hörte. Ich glaubte zuerst, Sie wären es, und drehte mich um, erblickte aber zu meinem Staunen den Mann, der uns von der Oper aus lange verfolgt hatte und der jetzt rasch auf mich zustürzte mit den Worten: ›Endlich habe ich Dich gefunden – wo ist mein Herr, mein Bruder?‹ – ›Was wollen Sie von mir? ich kenne Sie nicht!‹ – Dies war in der That wahr, und dennoch schwebt mir dies Gesicht dunkel vor, als hätte[383] ich es bereits gesehen, ohne daß ich weiß, in welcher Verbindung. Seine Augen rollten wie im Wahnwitz. ›Du warst es, Du warst bei ihm an jenem Unglückstage; ich weiche nicht von Deinen Fersen, bis Du mir Rechenschaft gegeben über meinen Gebieter.‹ – Ich glaubte, der Mensch sei verrückt, und wollte weiter gehen, da sprang er mir wie ein wildes Thier an die Kehle, und das Andere wissen Sie und – ich bin der Mörder eines Wehrlosen.«

Das überraschende Unglück schien den leichtsinnigen Dandy bis in's Innerste seiner Seele erschüttert zu haben. – »Ich kann dies Gesicht nicht los werden,« wiederholte er schaudernd, »und dennoch weiß ich nicht, wo es mir zufällig schon begegnet.«

»Sie werden sich vielleicht später dessen besser erinnern und die Untersuchung der Polizei über den Unglücklichen wird uns dabei unterstützen. Die Entscheidung Ihrer Wahl hat eine höhere Hand übernommen, denn es kann jetzt natürlich keine Rede von einer Rückgabe des Patentes sein; als Offizier kann man Sie nicht mit einer langwierigen bürgerlichen Untersuchung behelligen. Beruhigen Sie sich daher, denn Sie tragen an dem Geschehenen keine Schuld. Hier sind wir an Ihrer Wohnung, und wenn Sie erlauben, begleite ich Sie hinauf, um unsere nothwendigen Schritte für morgen noch zu besprechen.«

Der Marquis ließ sich willenlos geleiten; Méricourt blieb bis zum Morgen bei ihm. – –

In der Morgue, dieser letzten Stätte des Elends, der Verzweiflung und des Verbrechens von Paris, lag kalt und starr die Leiche Wassili's, des treuen Dieners des fürstlichen Geschwisterpaars. Die Polizei hatte bei ihm nur einen Brief in russischer Sprache gefunden, der die räthselhaften Worte enthielt: »Den letzten Bericht erhalten; fahre fort zu suchen und zu forschen und melde auch das Geringste eilig nach Sebastopol auf dem bekannten Wege über Berlin. Ein Wechsel liegt bei; spare kein Geld.« – Der Wechsel vom Banquierhause Stieglitz in Petersburg auf das legitimistische Bankhaus Leroy Chabrol in Paris und auf 2000 Franken lautend, lag bei – das Bankhaus hatte zwei Tage vorher jenen Bankerutt gemacht, der die Credite der Hauptstadt erschütterte.

Die Polizei ließ, nachdem alle weiteren Nachforschungen sich vergeblich erwiesen, den Leichnam des »so zufällig entdeckten russischen Spions« begraben und Herr Moustier, der Gesandte Frankreichs in Preußen, erhielt den Wink, daß die Fäden einer feindlichen Spionage von Berlin aus geleitet würden und man daher kein Bedenken tragen dürfe, sich in ähnlicher Weise zu revangiren.


Der Leser folgt uns zur Schlußscene der ersten Abtheilung unseres Buches, – in jene geheimnißvollen Räume, welche den Versammlungsort des »Bundes der Unsichtbaren« bildeten.

Ein Jahr und ein Tag waren vergangen, seit die Scene darin[384] eröffnet worden. Wiederum saßen um die rothbehangene, von Ampeln erleuchtete Tafel die geheimnißvollen Sechs in ihren rothen Capuchons – keine Zeit schien zwischen damals und jetzt zu liegen, und dennoch waren unterdeß die europäischen Geschicke aus ihren Angeln gehoben, Ströme von Blut waren bereits geflossen und die Kriegsfurie drohte über ganz Europa.

Der schwere rothe Vorhang vor dem hintern Theil des Gemaches war geschlossen. Die Mitglieder des Rathes verkehrten bereits einige Zeit mit leiser Stimme und ordneten verschiedene Papiere, als der feine scharfe Anschlag einer Glocke sich hören ließ und gleich darauf aus den Falten des Vorhanges die kleine verwachsene Figur schlüpfte, welche wir bereits als eines der Mitglieder der »höchsten Gewalt« haben kennen lernen.

Die Sechs erhoben sich; der Verwachsene dankte mit einer kurzen Verneigung und trat zu dem siebenten leeren Stuhl.

»Der Vorstand der Section VII. ist noch immer nicht zurückgekehrt,« sagte die scharfe schrille Stimme mit italienischem Accent unter der Maske hervor; »ich werde seinen Platz einnehmen, meine Brüder und den Vorsitz der Verhandlung führen. Setzen Sie sich und lassen Sie uns rasch die Tagesgeschäfte erledigen. Wer vertritt in Stelle des Abwesenden den Bericht für ›Petersburg und Warschau‹?«

Das nächstsitzende Mitglied des Rathes erhob sich. – »Der Graf Lubomirski berichtet aus Volhynien, wo er sich gegenwärtig aufhält. Die Aussichten in Polen für eine Schilderhebung der Revolution sind in diesem Augenblick ungünstig. Österreich und Preußen sind vollkommen gerüstet und würden sie sofort bekämpfen. Selbst unter den polnischen Patrioten ziehen sich Viele zurück. Die Garden sollen in Polen einrücken, um das Corps des Generals Osten-Sacken zu ersetzen. Der Graf legt den kühnen Plan vor, Rußland die Hilfe der Propaganda gegen die Türkei und die Westmächte anzubieten, unter der Bedingung der späteren Herstellung einer großen slavisch-magyarischen Republik zwischen der Weichsel, der Moldau und der Donau. Die Ausführung würde hunderttausend tapfere und kriegsgewohnte Soldaten dem Czaren zuführen und den Russen sofort den Weg nach Constantinopel öffnen.«

»Der Plan wird circuliren und Sie werden sämtlich ihre Meinung beifügen. Ich bin der Ansicht, daß bei den Gefahren, die ich später erörtern werde, der Versuch gemacht werden muß. Fahren Sie fort.«

»Der Graf begiebt sich nach Odessa und der Krimm, wo hauptsächlich die polnischen Regimenter stehen. Er glaubt unter diesen bedeutende Propaganda machen zu können. In Petersburg ist das Terrain überaus günstig. Man fühlt bereits, daß man sich in einen Krieg verwickelt, dem das Land noch nicht gewachsen ist. Der Eigensinn und die persönliche Kränkung, die der Tyrann erlitten, hat ihn verblendet. Zugleich macht sich der Drang nach[385] liberalen Zugeständnissen überall geltend. Der Krieg wird Rußland gänzlich niederwerfen, wenn wir auf der Seite seiner Gegner bleiben.«

»Es handelt sich jetzt bereits darum, meine Herren, wer unser gefährlichster Feind ist, der Czar, oder Louis Napoleon. Ich werde dem Grafen selbst antworten. Berichten Sie rasch aus Berlin und Wien.«

Der Vorstand der Section »Deutschland und Schweiz« erhob sich. – »Man hat die spanische Tänzerin genau beobachtet. In Berlin ist ihre Mission, was unsere Hauptzwecke anbetrifft, gänzlich mißlungen. Selbst der jüngere Adel und Offizierstand zeigt eine Hartnäckigkeit und ein starres Festhalten an den alten Ideen und Gewohnheiten, das einer gänzlichen Abschließung gleicht. Es tritt dies neuerdings in festem Zusammenhalten gegen die Eingriffe der Civilbehörden hervor. Wir werden einst einen harten Stand haben mit der preußischen Armee, doch hilft auf der andern Seite die immer mehr wieder hervortretende Absonderung des Adels vom Bürger. Die katholische Fraction in den Kammern bereitet stets neue Zerwürfnisse und ihre Oppositionsgelüste verleiten sie selbst zur Vertheidigung communistischer und liberaler Fragen. Das arbeitet uns in die Hände. Man protegirt jetzt das Rheinland auf alle Weise zum Verdruß der älteren Provinzen. – Von den Anwerbungen aus der Armee und dem Volke für Freicorps ist wenig zu hoffen – nur was dort nicht fortkommen kann. Die Jugend ist zu abstrakt, zu wenig empfänglich und abenteuerlustig. – Dagegen sind wichtige Verbindungen angeknüpft, welche die diplomatischen Geheimnisse fortlaufend in unsere Hände legen werden. Man geht unvorsichtig zu Werke.

Der Baron erstattet ausführlichen Bericht und verlangt dafür die versprochene Empfehlung seines Memoirs in England.«

»Und Wien?«

»Abbé Cavelli sendet nur den Finanzbericht. Unsere Operationen haben den besten Fortgang. Der Graf hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt und jenen Plan mitgetheilt, in Folge dessen der Abbé bis auf den Eingang weiterer Befehle die politischen Agitationen eingestellt hat. Oberst Pisani befindet sich mit seiner Gattin augenblicklich wieder in Wien.«

»Italien werde ich selbst übernehmen,« sagte der Vorsitzende, »da meine Nachrichten neuer sind, als der Bericht Mazzini's von Parma. Ferdinand Carl von Bourbon, genannt Herzog von Parma, ist heute Nachmittag unter dem Dolch der Unsern gefallen.«

Alle erhoben sich. – »So mögen alle Feinde der wahren Freiheit sterben!«

»Und der Tapfere?« fragte eine Stimme.

»Die Anstalten scheinen vortrefflich, er ist glücklich entkommen. – Ich weiß die Sache vorläufig nur durch die Regierungs-Depesche. Doch zu Wichtigerem. Sie sind hier zusammen berufen,[386] um über die höchsten Interessen des Bundes zu entscheiden. Sehen Sie!«

Er riß den Vorhang hinter sich auf, – der Raum war leer.

»Ich habe die Verantwortlichkeit allein übernommen, wie Sie sich überzeugen, denn meine beiden Collegen in der höchsten Gewalt sind augenblicklich von Paris abwesend. Der Bund hat in den letzten Tagen einen schweren Verlust erlitten. Sie wissen, daß wir bereits im vorigen Jahre dem Baron Riepéra zu mißtrauen Veranlassung hatten, der unsere Geldangelegenheiten verwaltete. Es ist ihm gelungen, bei einem wichtigen Plan, der die ganze Zukunft der Verbindung enthielt, dem Crédit mobilier, einen seiner Verwandten unterzuschieben und, wie ich fürchte, die Sache uns geradezu aus den Händen zu spielen. Heute Morgen hat er, den Fall des legitimistischen Hauses Leroy Chabrol benutzend, seine Zahlungseinstellung erklärt und ist seitdem unsichtbar geworden. Die Kasse des Bundes verliert mindestens eine Million, die Verluste lassen sich noch nicht übersehen.«

»Tod dem Verräther!« klangen die sechs Stimmen.

»Ich stimme dem bei, – doch dieser Verräther ist schlau, er war gewarnt durch unsere Nachsicht und wird seine Maßregeln genommen haben. Unsere Agenten verfolgen ihn bereits. Doch, Brüder, das ist nicht das Wichtigste und die größte Gefahr, die dem Bunde droht. Louis Napoleon, der sich Kaiser der Franzosen nennt und es allein durch unsern Willen geworden ist, droht die leitenden Bande zu zerreißen, mit denen der Bund ihn bisher seinen Zwecken unterthan gemacht hat. Er ist ein Tyrann, schlimmer noch, als die auf dem Throne geborenen, und der Todfeind der Revolution, die ihn auf den Thron gehoben, weil er fürchtet, daß sie ihn wieder herabstürzen kann. Er ist schlau und kühn und hat unsere Pläne und unsere Hilfe benutzt, um den orientalischen Krieg zu einer neuen und festen Stütze seiner Herrschaft zu bilden. Unter dem Vorwand, für die Rechte und die Freiheit der Völker zu kriegen, schlägt er die Freiheit in Fesseln. Er hat die Maske, die er schlau uns gegenüber getragen, abgeworfen und verfolgt unsere Brüder. Die strengsten Befehle sind an seine Schergen gegeben, Delescluze und 45 Angeklagte des jungen Berges wurden noch im Laufe dieses Monats durch seine Richter in die Kerker geworfen, und die Proclamation Manin's in der ›Presse‹ dient ihm als Vorwand der Verfolgungen.«

»Er sterbe!« hallte es durch das Gewölbe.

»Er scheint dem Bund auf der Spur und beabsichtigt seine Vernichtung in Frankreich. Es giebt einen Kampf auf Tod und Leben und ich habe den Rath versammelt, weil wir in Gefahr sind, jeden Augenblick durch einen unvorhergesehenen Schlag getroffen zu werden, Unsers Bleibens in Paris ist unter diesen Umständen nicht länger und unser nächster Versammlungsort wird London sein.«[387]

»Er sterbe!« hallte es wiederum.

»Seine Zeit ist gekommen. Ein Kampf auf Leben und Tod mit dem Tyrannen, Er oder Wir! Die Herrschaft des französischen Adlers über Europa, oder der Sieg der communistischen Revolution. Sammelt die Stimmen, Brüder!«

Zwei Urnen machten eilig die Runde. Als die zweite geleert wurde, zeigten sich vier schwarze und zwei weiße Kugeln.

Der Verlarvte warf drei schwarze dazu.

»Im Namen der höchsten Gewalt: Sieben gegen Zwei – die dreifache Majorität ist erreicht und dem Artikel zehn unseres beschworenen Statuts Genüge geschehen. Er ist verurtheilt.«

»Wer soll das Urtheil vollziehen?«

»Die Section Drei ist an der Reihe.« Er nahm ein kleines Notizbuch und blätterte darin. »Bereiten Sie jenen Gehorchenden zu der That vor, den Sie im vorigen Jahre nach England sandten. Sein Gesicht fiel mir schon damals auf und er scheint die geeignete Person. Ein Römer glaube ich?«

»Pianori!«

»Ich glaube. Sondiren Sie ihn sofort.«

»Und die gegebene Zeit?«

»Die gewöhnliche: ein Jahr, ein Monat und ein Tag, wie bei Franz von Parma. Lassen Sie uns ......«

Jener leise schrillende Ton ließ sich hören, der die Thätigkeit des electrischen Telegraphen verkündete, welcher von unbekannten Orten her zu dem geheimsten Schlupfwinkel der communistischen Propaganda führte.

Der Verwachsene stand hastig auf und eilte zu der Scheibe, unter der sich der schmale Streifen Papier hervordrängte, auf dem die Nadel der Maschine ihre ominösen Punkte gemacht.

Sein Blick überflog rasch die Zeichen, während an der ersten der vier, der Nische gegenüberliegenden Thüren ein leichter Hammerschlag erklang.

»Demonio! wir sind verrathen! Hinauf der Chef der Section Eins, das Zeichen benachrichtigt uns von Gefahr.«

Der erste Verhüllte stürzte aus der Thür, an der der Hammerschlag das Signal gegeben.

»Manigoldo!« fluchte der Verwachsene, »er soll uns büßen. Der Draht meldet mit dem verhängnißvollen Wort der höchsten Noth: ›Polizei beordert. Versammlungsort entdeckt. Eiligste Flucht.‹«

Die Verschworenen rannten durcheinander, an der zweiten, dritten und vierten Thür klangen kurz nacheinander die Signalschläge.

Der Verhüllte sprang auf einen Sessel – seine schwächliche verwachsene Gestalt schien im Augenblick zu wachsen, seine Stimme schwoll, als sie die Worte donnerte:

»Ruhe! – Gehorsam!«[388]

Alle wandten das Auge auf ihn.

»Section Zwei und Drei, die Kästen mit den Correspondenzen. Das Mitglied Vier reißt jenen Knopf aus der Wand, er sprengt den Drath des Telegraphen. Das Mitglied für Ungarn nehme die Kassette mit sich.«

Der Verschworene, der sich auf den ersten Hammerschlag entfernt hatte, stürzte herein:

»Das Magazin ist umgeben von Gensdarmen, alle Ausgänge sind besetzt!«

»Meine Herren, auf Wiedersehen heut über vier Wochen in London!« sagte ruhig die scharfe Stimme des Verwachsenen. Der kräftige Griff seiner Faust riß die rothen Behänge von der Hinterwand des Gewölbes, eine schwarze rohe Mauer kam zum Vorschein und er zog mit beiden Händen an einem massiven Ring, der aus den Quadern hervorhing. Der mächtige Stein drehte sich um eine eiserne Angel und zeigte eine schmale gähnende Öffnung, gerade breit genug, um einen Mann hindurchzulassen.

»Fort mit Ihnen! der Chef der ersten Section kennt den Weg – nehmen Sie die Lampe mit, so weit es geht – das Boot wartet wie am Abend jeder Versammlung – benutzen Sie die nächste passende Stelle des Ufers und senden Sie es an den Ausgang der Leitung zurück – in zehn Minuten bin ich am Gitter! Fort! fort!«

Sie drängten durch die Öffnung – nur eine Lampe blieb zurück und erhellte den öden geheimnißvollen Raum. Der Kleine sprang an die Thüren und öffnete sie, dann drehte er rasch den Knopf einer Röhre auf, und alsbald plätscherte ein Wasserstrahl auf den Boden der Gewölbe.

»Wasser und Feuer in unserm Dienst,« murmelte er, »wir spotten ihrer Macht.«

Seine Rechte faßte nach einer ziemlich starken Röhre, die in Mannshöhe an der Wand hinlief, während er die Lampe ergriff und nach dem geöffneten geheimen Ausgang sich wandte.

»Es ist Zeit, ich kann den Schall vieler Tritte hören.«

Sein Hauch verlöschte die Lampe, während seine Hand den Hahn aufzog. Sogleich verbreitete sich der scharfe widrige Geruch ausströmenden Gases durch das jetzt dunkle Gewölbe. Im nächsten Augenblick hörte man die große Quader in ihre Fugen zurückklappen –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der Präfect selbst leitete die Arbeiten. Gensd'armen mit Fackeln standen auf dem großen gepflasterten Hofe umher, der von Lagerhäusern umgeben und mit Hölzern und Waarenballen bedeckt war.

Mehrere Arbeiter waren beschäftigt, eine gewichtige mit Eisen beschlagene Kellerthür zu erbrechen.[389]

»Nehmen Sie Fackeln, Herr Commissair, und durchsuchen Sie die Souterrains.«

Die Thür war geöffnet, mehrere Polizei-Agenten, Fackeln voran, drangen in das Gewölbe, in dem große Stückfässer Wein lagerten. Einige Minuten nachher hörte man die Brecheisen gegen eine zweite Thür im Innern schlagen – dann erfolgte eine Explosion unter den Füßen der Obenstehenden, die an einzelnen Stellen das Pflaster des Hofes spaltete – die Fackeln verloschen mit einem grellen Aufflammen und ein widriger Dunst drang aus der Erde und füllte die Luft.

Während man die Fackeln auf's Neue anzündete und zu dem halb zerstörten Eingang des Kellers eilte, hörte man in der Tiefe Rauschen von Wasser. – – –

Am andern Tage enthielt der Moniteur die Nachricht, daß in den Lagerkellern eines Magazins der Rue ......, in der Nähe der Seine, das aus den beschädigten Leitungsröhren ausgeströmte Gas eine bedeutende Explosion verursacht und dabei die Wasserleitung des Viertels gesprengt habe. Zwei Personen seien bei der Explosion verunglückt, mehrere beschädigt.

Ein anderer Artikel des Moniteur benachrichtigte das Publikum von Paris, daß die Regierung neuen revolutionairen Umtrieben der geheimen Gesellschaften auf der Spur sei.

Der Minister des Kaiserlichen Hauses, Fould, überbrachte am Abend dem Senat und der gesetzgebenden Versammlung die Botschaft über die Kriegserklärung gegen Rußland.


(Schluß des zweiten Theils und der ersten Abtheilung.)[390]

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 2, Berlin 1856, S. 365-391.
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