Auf und unter der Erde.

[179] Auf einem Rohr-Divan mit schlechten Polstern lag Doctor Welland, ausruhend von den Strapazen und Mühen der Nacht, die er – es war mehrere Tage nach dem blutigen Ausfall – an der Seite der Kranken und Verwundeten zugebracht.

Nursah, der schwarze Knabe, schaute durch den gehobenen Vorhang herein, ob sein Gebieter wach sei, und als er sich davon überzeugt,[179] kam er näher und legte demüthig einen klein zusammengefalteten und schwarz gesiegelten Brief vor ihm nieder, der statt der Adresse den bloßen Namen des Arztes trug.

»Woher der Brief?«

»Jussuf fand ihn am Morgen auf der Schwelle der Thür.«

Der Doctor betrachtete das Blatt, das offenbar keine dienstliche Mittheilung enthielt, von allen Seiten, wie wir wohl zu thun pflegen bei Briefen, von denen wir nicht wissen, woher? obschon das Öffnen uns jedes Nachdenken leicht ersparen würde, und sagte:

»Ich sah Deinen Bruder gestern in Gesellschaft eines Menschen, der jetzt der Diener des Engländers zu sein scheint, welcher mich neulich mit seinem Landsmann besuchte. Ich müßte mich sehr irren, oder wir haben Beide den Mann schon in Widdin gesehen bei Handlungen, die keineswegs für seinen Charakter sprechen. Warne Deinen Bruder.«

»Er hat dem Italiener bei dem Sturm auf Arab-Tabia das Leben gerettet und Signor Lucia beweist ihm seitdem große Dankbarkeit.«

»In dem Auge des Mannes liegt Tücke und Verbrechen – ich wiederhole es: warne Deinen Bruder.«

Ein leichtes kaum merkliches Lächeln flog über das dunkle Gesicht des jungen Dieners, als er sich verbeugte und zurückzog, während Doctor Welland den Brief erbrach.

Der Brief war vom Capitain Meyendorf geschrieben und lautete:


»Bei unserer Begegnung im Sturm der Schlacht erst erfuhr ich mit Gewißheit, daß mein Befreier aus der türkischen Gefangenschaft zu Widdin in Silistria weilt. Nur wenige Augenblicke bleiben mir heute, da ich wieder im Stabe des Fürsten bin und die Folgen des Ausfalls noch alle Kräfte in Anspruch nehmen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihr Schuldner bin. Erhöhen Sie diese Verpflichtung, indem Sie mir Weiteres mittheilen und jede Nachricht über den Gegenstand geben, der uns Beide verbündet, – es ist für mich von Werth, das Geringste zu erfahren. Wie schwierig auch der Verkehr sein mag, ich werde Mittel finden, ihn zu unterhalten, und wenn Ihnen eine Person den Namen nennt, der unsere Loosung ist, können Sie ihr sicher jede Botschaft auftragen. Leben Sie wohl und möge der Himmel Sie schützen. Ihr

Alexander von Meyendorf.«[180]


Der Arzt las den Brief, mit einer tiefen Rührung des traurigen Schicksals jenes wackern edlen Kriegers gedenkend, der auf der Seite der Feinde stand und für den er doch so viel Theilnahme empfunden. Er steckte das Blatt zu sich und beschloß, noch genauere Nachforschungen anzustellen, wie es in seine Wohnung gekommen, da es offenbar bewies, daß die Russen ihre Spione in der belagerten Festung hielten.

Der Eintritt der Capitaine Grach und Morton, wiederum begleitet von Sir Maubridge, machte seinem Nachdenken ein Ende.

»Wir haben uns nur wenige Augenblicke seit der Nacht des Ausfalls und dem großen Sturm gesehen, den die Russen am Tage darauf unternahmen. Indem wir dem Feind die zerstörten Vorwerke am Babadagh-Thor überlassen haben, können wir unsere Mittel concentriren, und auch ich habe dadurch mehr Zeit gewonnen. Wie geht's mit Ihren Verwundeten und Kranken, Doctor?«

»Es ist mir lieb, Sie zu sehen,« entgegnete der Arzt, »und ich bitte um Ihre Unterstützung beim Pascha. Ich bin mit meinen Collegen darüber einig, daß für die Rettung unser Aller ein Waffenstillstand von einigen Stünden unbedingt nothwendig ist, wenn nicht der Typhus, ja noch Schlimmeres, Alles verschlingen soll.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Capitain.

»Sie selbst müssen bereits die Verpestung der Luft durch die zahllosen Leichen von Thieren und Menschen empfunden haben, die um die Forts aus den zwei letzten Stürmen und den täglichen kleinen Gefechten liegen geblieben sind. Ich habe alles Mögliche gethan, um im Innern der Stadt die sofortige Beerdigung aller unserer Leichen durchzusetzen, aber Sie kennen zur Genüge die Fahrlässigkeit und den Schmuz der Moslems, und die Cadaver der Thiere bleiben unbeachtet auf den Straßen. Hier haben wir nicht die Hilfe der Hunde, wie in Constantinopel. Überdies geschieht auch das Begraben der menschlichen Leichen äußerst sorglos, und die großen Gruben, die zu ihrer Aufnahme dienen, werden nur mit einer dünnen Schicht von Erde bedeckt. Die Hitze ist im Steigen und es entwickeln sich auch in der Festung Miasma's, die mit dem Pesthauch von außen vereint zehnfach tödtlicher wirken müssen, als alle feindlichen Batterieen. Die Cholera ist bereits stark im Zunehmen!«

»Goddam!« meinte der englische Offizier, »es ist eine verteufelte Aussicht, wie ein Hund zu sterben.«[181]

»Aber die Russen,« warf der Baronet ein, »haben denselben Nachtheil wie wir.«

»Darauf eben gründe ich meinen Vorschlag. Unsere Kanonen verhindern sie, ihre zurückgelassenen Leichen zu begraben. Ein vorgeschlagener Waffenstillstand zu diesem Zweck wird als eine Noblesse unsererseits angesehen werden und ihnen sehr willkommen sein. Wir aber ziehen den besten Vortheil davon.«

Der Capitain hatte aufmerksam und nachdenkend zugehört.

»Sie haben Recht, Doctor, und wir werden Ihren Vorschlag ernstlich bei dem Pascha unterstützen. Es wird am besten sein, wenn Sie ihn sofort und in unserer Gesellschaft anbringen. Mussa hat mir außerdem einen Auftrag an Sie gegeben. Ich glaube, der Knabe, der uns am Sonntag die letzten Nachrichten und Depeschen aus Schumla in die Festung schmuggelte, befindet sich bei Ihnen.«

»So ist es.«

»Master Welland,« sagte spöttisch der Baronet, »scheint eine ganze orientalische Familie in seiner Begleitung zu haben.«

»Ich besitze einen einzigen Diener, Sir,« entgegnete der Arzt ruhig, »der hier seinen Bruder gefunden hat. Über Beide bin ich meinen Vorgesetzten jede Auskunft zu geben bereit. Was den Knaben betrifft, so ist er das Vermächtniß eines treuen, aber mißleiteten Mannes an einen theuern Freund. Daher kenne ich ihn.«

»Etwa des Räubers Jan Katarchi für Herrn Caraiskakis?« fragte spitzig der Engländer.

Capitain Grach unterbrach ihn unwillig.

»Was geht das uns an, Sir! Wollen Sie hier im Orient den Stammbaum eines Jeden prüfen, ehe Sie mit ihm verkehren, so möchten Sie seltsame Geschichten zu hören bekommen. Hier ist die Frage, ob Sie den Burschen für geschickt genug zur Ausführung eines Auftrags halten und ob er ihn übernehmen will?«

»Das Erstere beantwortet sein Hiersein, daß Zweite ist leicht zu entscheiden, indem wir ihn rufen.«

»Nehmen Sie ihn mit, Doctor, und begleiten Sie uns zum Pascha. Es handelt sich darum, Briefe nach Schumla zu bringen und Nachricht von dort zu holen über die beabsichtigten Bewegungen zu unserm Entsatz, damit wir vielleicht eine unterstützende Diversion aus der Festung machen können.«

Mauro wurde gerufen und der Arzt begleitete mit ihm die Offiziere, um den Kommandanten aufzusuchen.[182]

Sie fanden ihn auf der nämlichen, zu einer Art Paradeplatz der Truppen dienenden Stelle, auf der wir ihm zuerst begegnet sind. Das Bombardement der Stadt hatte den ganzen Vormittag gedauert und Mussa-Pascha denselben auf den Wällen zugebracht, mit Anordnungen und Ermunterungen beschäftigt. Hussein-Aga und die beiden französischen Offiziere waren wieder in seiner Begleitung. Der Knabe wurde sogleich dem Pascha vorgestellt.

»Bismillah,« sagte Mussa, »der Bursche sieht aus, als trüge er die ganze Welt in dem Winkel seines Auges. Getraust Du Dich, sicher nach Schumla zu kommen, ohne den Moskows in die Hände zu, fallen, wenn ich Dir zwanzig goldene Ghazi's verspreche und eben so viel bei der Rückkehr?«

»Ich bin ein Kind, Hoheit – die Moskows achten nicht auf mich.«

»Ai dschänum! das ist eben der Grund, weshalb wir Dich wählen. Wie heißest Du, Knabe?«

»Mauro.«

»Du bist im Glauben an den heiligen Koran erzogen? Wer sind Deine Eltern?«

»Möge Dein Schatten lang sein, Hoheit, und der Ruhm Deiner Tapferkeit über dem des Sirdars. Ich bin ein Grieche von Geburt, aber habe seit meiner Jugend keine Eltern mehr und diene den Müssilmännern.«

Der Pascha fühlte sich durch das Compliment zu geschmeichelt, um Mißtrauen zu zeigen.

»Sprich zu einem Griechen von Gold und er verkauft seine Seele! Dieser Knabe wird zuverlässig sein, er hat bereits seine Probe abgelegt und es ist gefährlich, einen andern Boten zu schicken. Geh' mit Selim, meinem Divan-Effendi, er wird Dir die Briefe einhändigen und die Hälfte des Geldes, denn es ist nothwendig, daß Du zur Stelle und ohne weiter mit Jemand in der Stadt zu verkehren, die Wälle verlassest. Es fehlt den Moskows leider nicht an Spionen in Silistria, und unsere besten Unternehmungen werden oft vereitelt. Selim wird Dich dem Offizier des südlichen Thurmes Yania übergeben und Allah möge Deine Augen, Deine Ohren und Deine Füße stärken, damit Du den Feinden glücklich entkommst. Geh', denn wir haben noch mehr zu thun.«

Der Knabe ward auf seinen Wink fortgeführt, nachdem er demüthig den Rock des Pascha's berührt und die Hand des Arztes[183] geküßt hatte. Capitain Grach machte hierauf den Commandanten mit den schweren Besorgnissen der europäischen Ärzte und dem Vorschlag des Doctor Welland bekannt. Alle in der Umgebung des Pascha's befindlichen europäischen Offiziere stimmten sofort den erhobenen Bedenken bei und erkannten die Nothwendigkeit und Dringlichkeit der Abhilfe an. Nur Hussein-Aga machte einige Einwendungen.

»Bei meiner Seele,« sagte er, »diese Dschaurs werden sich einbilden, wenn sie die weiße Fahne auf unsern Wällen sehen, wir dächten an Übergabe.«

»Desto bitterer werden sie sich getäuscht fühlen,« widerlegte ihn der Capitain. »Ich dächte, die Russen hätten die Kraft Deines Armes und die Unbezwingbarkeit Deines Muthes bei dem letzten Ausfall genug kennen gelernt, tapferer Aga, um zur Genüge zu wissen, was sie zu hoffen haben.«

»Du hast Recht, Jüs-Baschi1 Grach,« entschied der Pascha, »und Dein Rath ist immer weise gewesen, wie Dein Muth groß. Ich habe noch heute Gutes von Dir geschrieben an den Sirdar. Wir wollen die Fahne des Waffenstillstandes aufstecken auf dem Thurm der Citadelle und einen Unterhändler senden in das Lager der Moskows. Wen räthst Du, zu wählen?«

Der Pascha hatte – während die Zwischenreden unter den türkischen Militairs und die Instruction des kleinen Spions in türkischer Sprache geführt worden – bei der die europäischen Offiziere interessirenden Frage sich wieder des Französischen bedient und war daher Allen verständlich gewesen. Der Baronet, welcher der ganzen Verhandlung mit großer Aufmerksamkeit gefolgt war, nahm die Gelegenheit wahr, eine Bemerkung zu machen, die er offenbar schon lange anzubringen wünschte.

»Vielleicht würde Doctor Welland selbst der beste Bote der Vermittelung sein, da er, wie ich von Capitain Morton vernommen, besondere Freunde unter den russischen Offizieren zählt.«

Aller Augen wandten sich bei der unerwarteten, einer Anklage ähnlichen Bemerkung auf den deutschen Arzt, der in der That von der Bosheit des Gegners überrascht, einige Augenblicke verlegen und unsicher blieb. Das Gefühl, wie nöthig es sei, keinen unwürdigen Verdacht aufkommen zu lassen, gab ihm indeß die Fassung[184] zurück und er erwiderte ruhig und fest dem Angreifer in's Auge schauend:

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen, Sir, und was überhaupt das Bekümmern um meine Person und meine Angelegenheiten bedeuten soll?«

»Der Baronet,« sagte scharf Capitain Morton, »scheint auf die zufällige Äußerung von mir hinzudeuten, daß in dem Augenblick, als Sie, mein Freund, bei dem Ausfall am Sonntag so aufopfernd uns in's Kampfgewühl folgten und wir in großer Gefahr waren, von einer Abtheilung der Kosacken niedergemacht oder gefangen zu werden, ein russischer Offizier unser Beider Entkommen ermöglichte, weil er in Ihnen wahrscheinlich einen Bekannten früherer Zeit wiedersah, ebenso wie wir selbst uns schon im früheren Leben getroffen haben.«

»So ist es, Sir, und ich glaube nicht nöthig zu haben, mich darüber zu verantworten.«

Der Zuaven-Colonel hatte mit sichtlichem Unwillen der Wendung des Gesprächs zugehört.

»Das ist eine Sache, die sich von selbst versteht und die einzig wir Offiziere zu beurtheilen haben,« fügte er mit unverhehlter Verachtung gegen den versteckten Ankläger bei und indem er dem Arzt die Hand reichte. »Ich habe Gelegenheit gehabt, diesen Herrn trotz meiner erst kurzen Anwesenheit in seiner Pflichterfüllung zu beobachten, und möchte wünschen, daß die türkische und die verbündete Armee viele Männer seiner Ehrenhaftigkeit in ihren Reihen besitze. Ich selbst zähle viele liebe Bekannte in der feindlichen Armee und werde mit Vergnügen auch auf dem Schlachtfelde die Erinnerung früherer Zeiten anerkennen.«

Doctor Welland verbeugte sich erfreut gegen ihn.

»Ich danke Ihnen, mein Herr; Sie haben mir nur Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

»Der Vorschlag war überhaupt unpassend,« bemerkte Capitain Grach, während sich der Baronet mit einer hochmüthig höhnischen Miene, als verachte er die Kritik seines Benehmens, zurückzog, »da zu der Sendung nur ein Offizier verwendet werden kann. Die Sache ist jedoch dringend, Hoheit, und Du wirst gut thun, sofort die nöthigen Befehle zu geben.«

»Lasse die Fahne ausstecken, und Du, Hussein-Aga, sende zwei Offiziere ab an die Posten der Moskows. Mashallah! Wir[185] möchten gern, wie es tapfern Soldaten ziemt, im Kampf gegen unsere Feinde und auf den siegreich behaupteten Wällen sterben, nicht auf dem Krankenlager an der scheußlichen Pest.«

Der Ruf des Muezzims vom Minaret: »La Illa illa Allah, we Muhammed Resul Allah2!« unterbrach seine Worte. Der streng seine religiösen Pflichten ausübende Pascha wandte sich sofort gegen die Moschee.

»Der Azam ruft uns zum Assar,« (das dritte oder Nachmittags-Gebet,) »laßt uns das Heiligthum betreten und Allah und dem Propheten danken, daß sie uns bisher den Sieg gegeben. Möge Azraël, der Engel des Todes, uns ...«

Der Tapfere sprach die Worte nicht aus; durch die Luft über ihnen knisterte und zischte es, und es krachte nieder mit gewaltigem Schlag tief in den Erdboden.

»Eine Bombe! Nieder mit Allen!«

Capitain Grach rief's, indem er sich zu Boden warf und Alle – bis auf den ziemlich starken und etwas unbeholfenen Pascha – seinem Beispiel folgten oder wenigstens zur Seite sprangen. Fast im selben Augenblick, als die Bombe den Boden berührte, platzte sie auch schon und die Eisenstücken sprühten rings umher. Doctor Welland war der Erste wieder empor, und sein Auge fiel sogleich auf den unglücklichen Kommandanten. Der Brave stand aufrecht, aber wankte wie ein Mann, der einen harten Stoß erhalten, und seine beiden Hände preßten sich auf die linke Seite und den Leib, während zwischen den Fingern durch ein Strom dunklen Blutes hervorquoll. Der Arzt sprang auf ihn zu und umfaßte ihn, im Augenblick waren auch Capitain Grach und die andern Offiziere ihm zur Seite.

»Um Gottes willen, Hoheit – bist Du schwer getroffen?«

Der Pascha machte einige Versuche zu sprechen – Blut quoll mit jedem Athemzug über seine Lippen.

»Es ist mein Kismet! – Der Tag des Todes ist gekommen – mögen Munkir und Nekir3) gnädig mit mir verfahren! – Freunde, gebt mir die Kiblah4[186]

Mehrere der türkischen Offiziere hoben ihn empor und trugen ihn in die Vorhalle der Moschee, wo sie ihn an einen Pfeiler lehnten, mit dem Antlitz gen Mekka. Der Arzt war eifrig um ihn beschäftigt und untersuchte die schreckliche Wunde.

»Ist Hoffnung vorhanden?«

Der Capitain frug es auf Deutsch – Doctor Welland antwortete in derselben dem Sterbenden unverständlichen Sprache.

»Keine,« sagte er hastig, »in wenigen Augenblicken steht er vor dem allmächtigen Richter. Das Eisenstück hat die Lebensarterien getroffen und steckt noch in seiner Seite. Jeder Versuch würde ihm nur unnützen Schmerz machen.«

Alle standen um den sterbenden Kommandanten bestürzt und stumm und das mit Blitzesschnelle sich verbreitende Gerücht füllte schnell die Halle der Moschee und den Platz vor derselben mit Menschen an. Der Verwundete athmete mühsam, aber er blieb bei voller Besinnung.

»Der Padischah hat mir diese Stadt vertraut, aber Gott bestimmt es anders. Hussein-Aga, Dir übergebe ich den Schlüssel des Thores, vertheidige ihn wie Deinen Bart und achte auf den Rath dieser Franken. Möge der Prophet Eurer Tapferkeit den Sieg geben!«

Der Arzt, der neben ihm kniete und seinen Puls mit den Fingern bewachte, winkte mit den Augen den Umstehenden. Hussein-Aga legte seinen Tisbeh oder Rosenkranz ihm zwischen die Hände und einige Augenblicke hörte man zwischen dem entfernten Donner der Kanonen und dem Krachen der einschlagenden Kugeln keinen Laut, als die röchelnden und immer kürzer werdenden Athemzüge mit jenem schauerlichen Gurgeln in der Kehle, das bei Bluterstickung den Tod verkündet. Dann quoll ein schwarzer Strom dieses Blutes aus dem Mund, die kräftige Gestalt des Pascha's zuckte zusammen und streckte sich – her tapfere Krieger hatte geendet.

»Er ist zum Barzakh5 eingegangen,« sagte Hussein-Aga ernst, »die Mizam6 des Barmherzigen wird seine Thaten wägen und ihm das Dschennet7 der sieben Himmel öffnen. Bei Eblis, dem[187] finstern Geiste, wir wollen seinen Schatten rächen mit dein Tode von tausend Moskows!«

»Möge der Sieg Dich begleiten, Bey, Du bist unser Kommandant nach dem Willen des Todten, und der Sirdar wird sicher Deine Tapferkeit ehren.«

Die türkischen Offiziere machten dem neuen Befehlshaber ihren demüthigen Gruß.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Den russischen Generalen war der Antrag eines Waffenstillstandes zur Beerdigung der Leichen nur willkommen gewesen, da ihre Truppen noch mehr wie die Türken von dem Miasma litten und die Krankheiten bereits in ihren Reihen wütheten. Die weiße Fahne, die auf den Bastionen Silistria's wehte, ließ die Nachricht von der Übergabe der Festung die Runde durch Europa machen, aber schon am andern Tage – am 3. Juni – nachdem beide Theile ihre Todten begraben hatten und auch der Kommandant von Silistria seine Ruhestätte unter den so tapfer vertheidigten Wällen gefunden hatte, entbrannte der Kampf auf's Neue und mit verdoppelter Energie. Die Russen unternahmen an diesem Tage einen allgemeinen Sturm und griffen die Forts an, während ihre Flotille die Stadt bombardirte. Der Kampf war mörderisch, aber ohne Erfolg für die Angreifer. Gegen Abend war es diesen zwar gelungen, eine Mine unter der ersten Batterie von Arab-Tabia herzustellen, aber die Capitaine Depuis und Grach hatten rechtzeitig eine Gegenmine geschlagen, und diese sprengte an 400 Mann der Angriffs-Colonne in die Luft, als diese auf das Sprengen einer Bresche harrten. In der durch die unerwartete Explosion entstandenen Verwirrung machten die Türken einen Ausfall und zerstörten die nahe liegenden Schanzen.

Von diesem Tage an ruhten kurze Zeit die Sturmangriffe und es begann der furchtbare Krieg unter der Erde, jener Krieg mit der Bussole und dem Spaten, der Krieg der lebendig Begrabenen – der Bergleute des Blutes und des Todes!

Das war der unheimliche gespenstische Kampf, zu dem man wie zum Orkus aus dem hellen Sonnenlicht hinabstieg und in dem General Schilder, der gespenstische Seher der Zukunft, ein Meister war.

Die Russen drängten Tag um Tag, Stunde vor Stunde ihre Laufgräben vorwärts gegen die schwer bedrohte Stadt, und in der[188] Heimlichkeit, in dem Schutz der aufgeworfenen Erde wühlte der General gleich dem Maulwurf seine Gänge gegen die Wälle und Bastionen.

Es war ein Glück für die Festung, daß der neue, noch jungkräftige und kecke Kommandant doch die Manen seines Vorgängers dahin achtete, die Talente und Kenntnisse der europäischen Rathgeber zu ehren. Während er den Krieg der Ausfälle und offenen Vertheidigungen leitete, überließ er den beiden Genie-Offizieren die unbestrittene Leitung der Befestigungsrenovationen und der Gegenarbeiten. Trotz der verdoppelten Thätigkeit der Vertheidiger konnte man sich dennoch nicht verhehlen, daß die Fortschritte der Belagerung, wenn auch langsam, doch jeden Tag bemerklicher wurden. Es war bereits mehrfach zwischen den Minirern und Gegenminirern zum erbitterten unterirdischen Gefecht gekommen. Am 8. hatten die Russen eine Sappe aus Schanzkörben, mit Baumwolle gefüllt, bereits bis an den Rand der südöstlichen Contreescarpe getrieben, hinter welcher sich die Minirer mit dem Ausgraben zweier Schachte beschäftigten. Die Führer entwickelten dabei eine unablässige Thätigkeit. Was der fortwährende Kartätschen- und Granatenhagel der Türken bei Tage niederwarf, zeigte sich am anderen Morgen wieder aufgebaut.

Am 7. und 8. hatten kleine Ausfälle und Gefechte mit wechselndem Glück stattgefunden. Der 9. Juni war ein blutiger Tag gewesen. Nachdem des Morgens eine Mine gegen zwei der Wasserforts gesprengt worden, versuchten die Russen die Breschen zu nehmen, wurden aber mit bedeutendem Verlust von den neuen Hilfstruppen, denen es, 3000 Mann stark, unter Rifat-Pascha am Tage nach Mussa's Tode gelungen war, von Rasgrad her sich in die Festung zu werfen, zurückgeschlagen. Zu gleicher Zeit machte Paskewitsch selbst mit einer bedeutenden Truppenzahl – 31 Bataillonen Infanterie, 32 Schwadronen Kavallerie und 8 Sotnien Kosaken mit 12 Feldbatterieen – eine große Recognoscirung um alle Befestigungen bis zu dem Flecken Kalopetra auf der südöstlichen Seite. Hier stieß die Colonne auf türkische Kavallerie aus der Festung und zwang dieselbe, sich in das Fort Abdul-Medschid zurückzuziehen, das nunmehr ein heftiges Feuer eröffnete. Eine matte Kugel, die zu den Füßen des Pferdes des Fürsten von Warschau niederfiel und dasselbe zu Boden riß, fügte dem greifen Führer selbst eine Contusion an der rechten Hüfte zu. Der Feldmarschall achtete[189] jedoch nicht darauf und blieb bis zum Ende der Kanonade zu Pferde. Wir führen den Leser an demselben Abend wieder in's russische Lager.

Es ist in Kalarasch selbst, dem Hauptquartier des Fürsten, wo wir die Scene wieder aufnehmen. Der greise Statthalter lag in dem frühern Quarantainegebäude, das zu seinem Quartier eingerichtet worden und mit Stabs- und Ordonnanz-Offizieren überfüllt war, auf einem freistehenden Feldbett in halb sitzender Stellung, neben sich einen niederen Tisch mit Papieren bedeckt. Das Gemach war ziemlich ärmlich ausstaffirt, aber glänzend erhellt, indem große Kerzen auf silbernen Leuchtern überall umherstanden. Der Leibarzt des Fürsten, der schon bei seiner Rückkehr in's Lager bedeutende Schmerzen gefühlt und nur mit Anstrengung nach Kalarasch gelangt war, – hatte so eben die Verletzung untersucht und ihm erklärt, daß sie zwar nicht gefährlich sei, ihn aber mehrere Wochen hindern werde, zu Pferde zu steigen. Während der Arzt fortfuhr, lindernde und frische Umschläge auf die verletzte Stelle zu legen, hatte der Fürst bereits sich zu wichtigen Geschäften gewendet. Es befanden sich außer dem Arzt und dem Stabschef General-Major Wranken, der eben auf die Nachricht der Verletzung eingetroffene Fürst Gortschakoff und General-Lieutenant Chruleff mit einem dritten hohen Offizier im Gemach, der, am Ruhebett stehend, dem Fürsten eine Depesche überreicht hatte, mit deren Durchsicht dieser eben beschäftigt war. So sehr der alte Krieger und Staatsmann auch Herr seiner Mienen sein mochte, war es doch allen Anwesenden sichtlich, daß der Inhalt des Briefes, dessen grünes Couvert und Siegel ein Handschreiben des Kaisers erwiesen, von großer Wichtigkeit sein mußte und einen tiefen Eindruck auf den Fürsten machte. Er faltete endlich das Papier langsam zusammen, steckte es wieder in das Couvert und schien einige Augenblicke in schwere Gedanken verloren. Dann – sich ihnen entziehend – wandte er sich zuerst zu dem Arzt:

»Kann ich Deiner Hilfe auf eine Stunde entbehren, lieber Tschetukin?«

»Ich fürchte, nein, Durchlaucht – muß ich Sie jetzt verlassen, so kann ich für die Folgen nicht stehen – die Contusion ist vernachlässigt und die Geschwulst bereits eingetreten.«

»Und wenn ich Dich gewähren lasse, in welcher Zeit bin ich fähig, das Lager zu verlassen?«[190]

»Ich verlange nur für morgen Ruhe, Durchlaucht – zu Wagen sollen dann Ihre Bewegungen unbehindert sein.«

»Gut, Staatsrath, – ich kenne Dich und weiß, daß ich mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen kann. Kümmere Dich nicht um uns und fahre fort mit Deinen Mitteln, da die Erhaltung dieses alten Körpers in den nächsten Wochen vielleicht unserm Herrn, dem Kaiser, noch einigermaßen nützlich sein mag. Wir sind sämtlich hier treue und bewährte Söhne des heiligen Rußlands und ich kann daher ungescheut sprechen, wie es die ernsten und schweren Umstände erfordern. Nimm Platz, Schebesky, und Du Wranken, wir haben eine ernste und lange Berathung vor uns. Ihre Ankunft, Fürst, hat mir erspart, Sie rufen zu lassen. Der Tag hat wichtige Nachrichten gebracht.«

»Auch ich habe dergleichen, Durchlaucht.«

»Gut. Einer nach dem Andern. Hast Du vielleicht auch Nachricht von dem Gesandten aus Wien?«

»Mein Bruder benachrichtigt mich von dem Ausgang der Zusammenkunft des Kaisers von Österreich und des Königs von Preußen in Tetschen.«

»Verdammniß über die österreichische Dankbarkeit, – ich wollte, wir hätten Ungarn den Rebellen gelassen. – Es ist, wie ich gefürchtet, Österreich wird in die Donau-Fürstenthümer einrücken und hat sich den Rücken gedeckt durch das Garantie-Cartell mit Preußen.«

»Es sind Differenzen entstanden zwischen den beiden Herrschern über die Auslegung des Cartells.«

»Ich weiß, ich weiß, – aber der Nutzen ist nur passiv. Preußen hält das wiener Gelüst in Schranken, aber nur, wenn wir auf unserm eigenen Gebiet stehen. Österreich kann nicht offen operiren, aber sein Druck zwingt uns zurück. Dennoch ist das nicht das Schlimmste. Ich habe heute wichtige Berichte über die Zusammenkunft in Varna erhalten.«

»Die Rapporte unserer Agenten über den Kriegsrath am 19. liegen seit acht Tagen vor.«

»Das ist es eben, Fürst, was uns getäuscht hat. Die Halunken taugen Nichts, – Marschall Arnaud und Lord Raglan wissen sehr wohl, daß sie von unseren Spionen umgeben sind, und was mit den Türken berathen wird, in der kürzesten Zeit uns bekannt ist. Ich sage Dir, Fürst, Deine Agenten in Schumla sind[191] Dummköpfe und haben nur erfahren, was alle Welt weiß. Wie lautete doch der Bericht?«

Fürst Gortschakoff, einigermaßen pikirt, nahm aus seinem Taschenbuche ein Papier und entfaltete es:

»Hier ist die Abschrift der Chiffern: ›Der Zusammenkunft am 19. in Varna wohnten der Marschall St. Arnaud, Lord Raglan, Omer Pascha, die Admirale Dundas und Hamelin und der Kriegsminister Riza-Pascha bei. Oberst Tignir machte den Dolmetsch, auch Aguiah-Pascha, der neu ernannte Pforten-Commissair im Lager des Muschirs, war zugezogen. Das Resultat war, daß Herrn von Saint-Arnaud die Leitung der Kriegsoperationen sämtlicher am Kriegsschauplatz aufgestellter Streitkräfte übertragen worden ist. Der Muschir erstattete über die Lage Silistria's Bericht und der Ersatz wurde beschlossen. Die beiden Generale sind vollständig auf die Pläne Omer's eingegangen und die Dampfboote mit den Ordres nach Skutari und Gallipoli abgegangen, um einen Aufbruch in Masse anzuordnen.‹ – Die Berichte gingen uns allerdings spät zu, da die unglückliche Verhaftung unserer Hauptagenten in Constantinopel einige Verwirrung in die Sache gebracht hat.«

»Sind das alle Ihre Nachrichten, Fürst?«

»Bis auf die neuen Meldungen über die Ersatzoperationen, die ich eben empfangen und später vorzutragen die Ehre haben werde, ja.«

Der alte Feldmarschall lächelte.

»Sei nicht ärgerlich, Kamerad, Deine Nachrichten sind gut, aber ich habe wichtigere. Nach der Rückkehr der Generale nach Varna hat eine zweite Berathung, aber diesmal ohne die Türken, auf dem französischen Flaggenschiff stattgefunden, und die Expedition gegen Sebastopol ist beschlossen worden.«

Ein leises Lächeln, gedämpft durch die Ehrfurcht vor dem greifen Haupt des Fürsten-Statthalters ging durch den kleinen Kreis der Generale, doch blieb es von jenem nicht unbemerkt.

»Du hast Unrecht, Fürst, und glaubst, weil Du ein Artillerist bist, daß es eine Unmöglichkeit sei, die furchtbaren Batterieen von Sebastopol zu überwinden. Ich bin kein Seemann und weiß nicht, was Schiffe gegen Granitwälle ausrichten können, aber ich sage Dir, ich wünschte, Fürst Mentschikoff verließe sich nicht allzusehr auf sie, – ich kenne diese Franzosen und sie werden irgend ein Auskunftsmittel finden, ihren Zweck zu erreichen.«[192]

»Darf ich etwas Näheres von den Nachrichten Eurer Durchlaucht erfahren?« fragte einlenkend der Zweitkommandirende.

»Der Versuch gegen Sebastopol ist ausdrücklich beschlossen, aber man wird mindestens zwei Monate mit den Vorbereitungen zubringen. Diese sollen möglichst geheim betrieben und die Truppen in Varna unter dem Anschein concentrirt werden, zum Entsatz von Silistria zu dienen. Die Aufgabe bleibt aber dem Muschir selbst überlassen. Die Übertragung des Gesamt-Oberbefehls an Herrn von Saint-Arnaud ist eine leere Comödie und Omer-Pascha nicht sehr gesonnen, sich unterzuordnen. Er trifft umfassende Anstalten zum Entsatz durch seine eigenen Truppen.«

»Das Letztere stimmt mit meinen Nachrichten überein. Sie können Ihrem Berichterstatter vollkommen trauen, Durchlaucht?«

»Er hält sich bereits zwei Monate in Varna auf und ist mir von Bodinianoff in Constantinopel, als volles Vertrauen verdienend, empfohlen. Er ist ein Bruder des Führers der Griechen im Epirus, Caraiskakis ....«

»Ich kenne den Namen und habe bereits selbst Beweise seines Eifers für die russische Sache erhalten. Ich glaube, daß auch unsere Verbindungen in Silistria unter seinem Einfluß stehen.«

»Ehe wir zu einem Resultat kommen, sage mir Deine eigenen Nachrichten.«

»Der Knabe,« berichtete der Fürst, »der am 28. die Nachricht von dem Ausfall an Selwan und später die Depeschen Mussa-Pascha's an den Muschir uns zur Durchsicht brachte, ist aus Schumla diesen Abend zurückgekehrt.«

»Hat man ihn wieder als Boten benutzt?« fragte hastig der Feldmarschall.

»Man scheint blindes Vertrauen in ihn zu setzen und Nichts von der Eröffnung der Depeschen gemerkt zu haben. Hier sind die neuen.«

Er legte mehrere Briefe auf den Tisch. Die Siegel waren durch das gewöhnliche Mittel heißer Dämpfe nach Abformung des Petschafts in Staniol geöffnet.

»Der Inhalt, Fürst?«

»Hier ist der Auszug. Der Muschir bestätigt Hussein-Bey im Kommando, setzt ihm jedoch Rifaat-Pascha als ältern Offizier zur Seite. Ein vollständiger Plan des Entsatzes durch eine combinirte Truppenbewegung und einen Ausfall der Garnison ist für[193] den 13. und 14. bestimmt. Said-Pascha in Rustschuk hat 30,000 Mann zum Aufbruch bereit, und Iskender-Bey von Widdin, der den Angriff von dieser Seite leiten soll, ist bereits über Nicopolis eingetroffen. Die Vorposten des Corps stehen bei Baba und Turkosimich. Zugleich wird Giurgewo angegriffen werden. Im Hafen von Rustschuk liegen zwei türkische Dampfschiffe und an achtzig Boote bereit, um die Expedition zu unterstützen. Der Muschir selbst wird mit Mehemed-Pascha von Schumla her in zwei Colonnen eine Diversion unternehmen. Sein rechter Flügel lehnt sich an die Anhöhe des Taiban-Dereh, – seine linke Flanke an den Dristra, das Centrum steht bereits bei Erekli an der Straße von Schumla nach Silistria.«

»Wer führt die Vorhut und wie stark ist der Muschir?« unterbrach der Feldmarschall.

»Der Renegat Czaikowski mit den sogenannten türkischen Kosacken. Die Depesche giebt die Stärke des Südcorps auf 70,000 Mann an, also mit Said-Pascha an Hunderttausend. Am 13. soll das gemeinsame Vorrücken beginnen. Am 14. werden die Corps in der Nähe von Silistria stehen und am Morgen des 15. angreifen, indem Hussein-Pascha zugleich auf drei Stellen an den Wasserforts, aus dem Babadagh-Thor und Abdul-Medjid einen Ausfall machen soll.«

»Wie stark sind wir in diesem Augenblick hier?«

»Mit Pawloff nur 64,000 Mann. Wir haben vor Silistria bereits über 6000 gelassen.«

Das Gespräch, das bisher allein zwischen den beiden Führern gepflogen worden, verstummte jetzt ganz, – der greise Feldmarschall war in ernste Betrachtungen versunken und seine Hand faßte unwillkürlich zwei Mal nach dem Briefe des Kaisers.

»Wir müssen zu einem Entschluß kommen. Recapituliren wir die Sachlage. Auf der einen Seite Bessarabien und die Krim über kurz oder lang bedroht; – unsere Stellung in der großen Walachei nicht länger haltbar – kaum noch in der Moldau; – Silistria fast noch eben so fest wie beim Beginn der Belagerung, und ein starkes Entsatzcorps in der Nähe. Die Truppen kaum genügend, den Gegnern die Spitze zu bieten, – an einen Übergang über den Balkan nicht mehr zu denken und keinerlei Vortheil im längern Beharren auf dieser Seite der Donau. Wägen Sie selbst ab, meine Herren.«[194]

»Was würde man in Petersburg dazu sagen!«

»Schebesky kommt von dort. Er kann uns den besten Bescheid geben.«

Der angerufene General zuckte die Achseln.

»Ich glaube, man hält dort die Donau-Besetzung jetzt selbst für einen Fehler. Man hätte am Bosporus stehen oder innerhalb der russischen Gränzen bleiben müssen.«

»Sehr wahr. Aber wir dürfen Silistria nicht aufgeben ohne des Kaisers ausdrücklichen Befehl,« sagte ziemlich heftig General Chruleff.

Der Feldmarschall nickte ihm zu und zog dann langsam den Brief seines kaiserlichen Herrn aus dem Couvert.

»Wollen Sie des Kaisers eigene Worte hören?«

Alle schwiegen ehrfurchtsvoll.

»Hast Du, Fürst Iwan Feodorowitsch,« las der Feldmarschall, »bei Empfang dieses Briefes die Festung Silistria genommen, so wollen wir Gott und den Heiligen für diesen Sieg Rußlands danken. Weht der Halbmond noch auf ihren Mauern, so will ich Dir überlassen, was Du das Beste zu thun hältst. Bedenke jedoch, daß Rußlands Ehre nur in Rußland selbst liegt. Ich wiederhole die Vollmacht, die ich Dir bei der Übernahme, des Kommando's ertheilt habe.«

Der Fürst-Statthalter schwieg; General Chruleff war der Einzige, welcher eine rasche Antwort hatte:

»Wir können unmöglich von hier gehen, ohne wenigstens noch einen Schlag versucht zu haben.«

Der alte Fürst lächelte.

»Nein, tapferer Chruleff,« sagte er freundlich, »das sollst Du auch nicht. Ich sehe, daß wir einig sind über die Nothwendigkeit des Rückzuges, doch darf er natürlich nicht übereilt werden. Es gilt zunächst, die Combination des Muschirs zu vereiteln.«

»Wir haben die Depeschen in unserer Hand.«

»Ganz recht, aber ich halte es für zweckmäßiger und weiser, sie richtig in die Hand des neuen Kommandanten gelangen zu lassen, um nicht sein Mißtrauen wachzurufen. Es handelt sich blos darum, Zwiespalt und Verwirrung in ihre Beschlüsse zu bringen.«

»Man könnte den Datum um zehn Tage ändern!« sagte General Schebesky kaltblütig.[195]

Der Fürst von Warschau lächelte sein.

»Das war meine Meinung; im Kriege ist jede List erlaubt. Sobald dies mit der nöthigen Vorsicht geschehen, womöglich noch diese Nacht, Fürst, lasse den Boten nach Silistria laufen, triff aber Anstalten, daß wir genau von allen Vorgängen in der Stadt unterrichtet bleiben. Ich bin entschlossen, wie ich in Warschau beabsichtigte, mein Hauptquartier bis zum Eintreffen weiterer Befehle des Kaisers nach Jassy zu verlegen. Es ist der geeignetste Punkt – 32 Meilen von Silistria, 20 von Kamienecz und 22 von Odessa, – wir übersehen da das Feld. Du, Fürst Gortschakoff, übernimmst von diesem Augenblicke an wieder den Oberbefehl der moldau-walachischen Truppen. Lasse morgen das Bombardement gegen die Festung von den Inselbatterieen wieder beginnen, fange aber an, Dein anderes schweres Geschütz auf das linke Ufer zu bringen. Schilder muß so weit fertig sein, daß am 13. ein Versuch gegen die Citadelle gemacht werden kann. Beordere Pawloff, von Tuturkai aus sich dem Zuzug von Rustschuk entgegenzuwerfen, indeß Chruleff den Renegaten Mehemed8 und den Muschir angreift. Dadurch wird der ganze Operationsplan der Gegner zerstört und wir erhalten Zeit, zu sehen, was sich mit der Festung noch beginnen läßt.«

»Ich werde die Befehle noch diese Nacht ertheilen. Ich höre, Lüders befindet sich auf dem Wege der Besserung?«

»So ist es. Gott und den Heiligen sei Dank; dafür werden wir den braven Orloff verlieren. Ich bedaure seinen Vater, meinen alten Freund! – Verdammt, Doctor, ich glaube, die Schmerzen nehmen wieder zu!«

»Wenn Euer Durchlaucht sich nicht sofort einige Ruhe gönnen, stehe ich für Nichts, am wenigsten für die Möglichkeit, abzureisen.«

Die Generale verabschiedeten sich.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es war am Morgen des 13. – Dienstag –, in der seit zwei Tagen durch ein unaufhörliches Bombardement schwer bedrängten Festung erwartete die Besatzung jeden Augenblick einen Sturmangriff der Russen, sobald die Minen des Generals Schilder ihr Werk gethan, deren bereits einige von den Russen in den letzten Tagen gesprengt worden, ohne daß sie jedoch mehr als leicht wie[196] derherzustellende Mauer- und Erdrisse zu Wege gebracht hatten. Jedermann wußte, daß sie hauptsächlich gegen das Fort Abdul-Medjid gerichtet sein mußten, und daß hier die Entscheidung des Tages und des Schicksals der Stadt lag. Die Capitaine Grach und Depuis und selbst der alte Chef des Geniewesens, Mehemed-Bey, so weit seine Fähigkeiten reichten, waren indeß nicht müßig gewesen und der Spaten unter der Erde arbeitete rüstig an den geheimen, furchtbaren Gängen, bestimmt, die eindringenden Feinde in die Luft zu schleudern. Schon zwei Mal waren unter der Erde die feindlichen Mineurs aufeinander gestoßen und das blutige Würgen hatte das schauerliche Grab im wahren Sinne begraben. Das Sprengen der Minen war das Einzige, wovor die türkischen Soldaten, zum Theil aus ihrem bewußten Ungeschick, zurückbebten, während der passive Gehorsam der Russen darin bekannt war, und die Bewachung und Sprengung der türkischen Minen blieb daher einer Anzahl Freiwilligen anvertraut, die aus den kecksten und jedem Wagstück Trotz bietenden fremden Abenteurern gewählt waren und durch reichen Lohn gelockt wurden. Hussein-Aga oder, wie er jetzt bereits hieß, Hussein-Pascha, und sein Gefährte im Kommando, der Ferik Rifaat hatten am Tage vorher für den Morgen des 13. – auch ohne Kunde von den Demonstrationen der Ersatzcorps zu haben, – einen allgemeinen Ausfall beschlossen, und die Truppen standen daher, kampfgerüstet, innerhalb der Wälle und Thore.

Auch diesmal hatten die Russen keine Ahnung davon – wir werden im Verlauf der Geschichte hören, durch welche Ursache, – und der Sturm gegen die Festung war erst für den Nachmittag 3 Uhr festgesetzt, nachdem drei große Minen, welche die Russen gegen die Forts Abdul-Medjid, Arab-Tabia und Yania gerichtet hatten, gesprengt sein würden. – – –

Eine finstere undurchdringliche Nacht füllte wieder den etwa drei Fuß breiten, langen, winkligen Gang, der aus dem Souterrain der Bastion von Arab-Tabia unter dem Graben gegen den äußern Wall führte und dort in einer Kammer von etwa zehn Fuß Quadrat und Mannshöhe endete. Die schwarze Finsterniß dieser Kammer wurde gebrochen durch das matte Licht einer sorgfältig verwahrten Laterne von dickem Glase, die auf dem Fußboden am Eingang des Ganges stand und ihren Schein auf mehrere, an den feuchten Seitenwänden aufgestellte Fässer und zwei Männergestalten[197] warf, die in der Mitte des engen Raumes in der gewöhnlichen türkischen Stellung auf dem Boden kauerten.

Die Deckel der Fässer waren aufgeschlagen, schwarz, wie die Umgebung rings umher, war der Inhalt derselben – ein starker Zündsack lief von einer der Öffnungen zu der andern. Am Eingang der Erdkammer hing an einem in die Seitenwand gestoßenen Querholz eine große Klingel, von deren Griff eine Schnur sich in das Dunkel des Ganges verlor.

Die beiden Männer waren die Wächter der Mine, – in der Tiefe des einmündenden Ganges, um die Ecke des Winkels biegend, verlor sich eben der letzte Lichtschein einer sich entfernenden Laterne, – Capitain Grach mit seiner Ordonnanz, der eben die Minengänge nochmals revidirt hatte.

Die Runde schien ein inhaltschweres Gespräch der beiden der Todesgefahr keck trotzenden Wachen gestört zu haben, denn als kaum jener letzte Lichtschein verschwunden war, begann es auf's Neue. Obschon in dieser Tiefe der Erde, weit entfernt von der Ausmündung der Gänge, selbst der lauteste Schrei von keinem menschlichen Ohr weiter gehört werden konnte, wurde das Gespräch doch leise, fast flüsternd geführt, – gleich als verböten die Schauer des grabähnlichen Ortes jeden lauten Ton.

Der Schein der Laterne fiel auf die beiden Gesichter, wie sie manchmal in seinem Dunstkreis sich vorwärts beugten – auf das dunkle Antlitz des Mohren Jussuf mit den großen gelbweißen Augen, die er gedankenvoll auf den Zweiten gerichtet hielt, auf seinen neuen Freund und fast unzertrennlichen Gefährten – Sta Lucia, den ehemaligen corsischen Banditen.

»Der Hekim-Baschi vermißt seit zwei Tagen einen wichtigen Brief,« sagte langsam der Mohr. »Bak – sieh – er glaubt, daß Du ihn gestohlen hast, während Du bei mir warst, denn er hat mich und meinen Bruder gewarnt vor Dir. Doch der Prophet weiß es, ich kann nicht von Dir lassen, und darum bin ich mit Dir in dieser Höhle der Schrecken, wo Eblis herrscht, der Fürst der Finsterniß.«

Der Corse lachte.

»Barbuasso! bekommen wir nicht glänzendes schönes Gold dafür, daß wir den gefährlichen Posten übernommen, der nur Gefahr droht den Feigen und Ungeschickten, und hätten wir die Zechinen des Pascha's Andern lassen sollen? – Aber genug, ich[198] hatte noch eine andere Ursache, Dir den Posten vorzuschlagen, um unbelauscht hier sprechen zu können.«

Er griff in seinen Gürtel, zog einen ledernen Beutel heraus und öffnete ihn im Licht der Laterne.

»Kennst und liebst Du das?«

Der Beutel enthielt etwa 30 bis 40 Goldstücke.

»Bismillah! Kamerad – wie kamst Du dazu?«

»Höre mich an, Jussuf,« sagte der Andere, indem er den Beutel wieder einsteckte, »Du sollst halb Part haben und noch mehr als dies. Antworte mir aufrichtig bei Deinem Propheten: Hältst Du große Stücke auf den Hekim-Baschi, Du und Dein Bruder?«

»Was soll ich sagen, Freund – es ist so und es ist anders. Nursah, mein Bruder, ißt sein Brot; aber er ist ein Franke, ein Dschaur. Was geht ein Ungläubiger mich an?«

Der Corse sah den schlauen beobachtenden Blick nicht, den sein Gefährte bei den Worten auf ihn schoß.

»Per bacco! das ist Recht, – ich konnte es mir denken. Jussuf, es ist wahr, ich habe den Brief.«

»Wallah! ich dachte es mir! Ein Brief ist ein Brief und eine Erfindung des Teufels. Ich spucke auf alle Briefe und ihre Väter und Mütter. Was thust Du mit dem Briefe?«

»Ei zum Teufel! Mir selbst ist wenig an dem Wisch gelegen, aber desto mehr, wie es scheint, dem Engländer, der die Ehre hat, mich jetzt als eine Art Leibdiener und Khawaß in seinen Diensten zu haben!«

»Dem Inglis?«

»Ja. Ich will Dir Etwas sagen – der Hekim-Baschi, Dein – oder vielmehr Deines Bruders Herr, ist ein Spion der Russen, er verkehrt mit ihnen und sendet ihnen Botschaft aus der Festung.«

Er sah den dunklen, blutigen Blick nicht, der auf ihn schoß.

»Ich weiß nicht, ob Du mit zu dem Complot gehörst,« fuhr der Corse ruhig fort, »aber ich möchte es fast glauben. Du weißt, was einem Verräther nach dem Kriegsgesetz droht?«

»Inshallah! wohl weiß ich es! Aber Du wirst nicht von hier gehen, um es weiter zu erzählen.«

»Narr! laß Deinen Handjar ruhig im Gürtel stecken. Ich fürchte Dich nicht; wenn ich nicht eine gute Absicht mit Dir hätte, würde ich mit Dir nicht hierher gegangen sein und Dir jetzt nicht[199] offen meinen Verdacht oder vielmehr meine Gewißheit in's Gesicht gesagt haben.«

»Was konnte ich thun? – ich bin ein armer Sclave und meine Haut ist schwarz.«

»Der Hekim-Baschi hat Dich und Deinen Bruder mit Gold bestochen, aber Du sollst mehr verdienen und ohne Gefahr, alle Tage eine Kugel durch den Kopf zu bekommen. Ich bin Dir Dank schuldig, denn Du hast mein Leben gerettet vor dem verfluchten Russen und Du sollst sehen, daß Sta Lucia kein undankbarer Schuft ist, wenn auch sonst mein Gewissen sich gerade nicht viel Kummer macht.«

»Meine Ohren sind offen.«

»Mein Herr haßt den Deinen – das Warum? geht uns Nichts an, ich weiß es auch nicht. Kurz und gut, er sinnt auf sein Verderben oder will ihn wenigstens in seine Gewalt bekommen, um irgend einen Zweck von ihm zu erpressen. Am Tage, da der Zufall gerade Dich zu meinem Lebensretter gemacht hat« – er unterbrach sich und beugte sich horchend nach vorn. »Was ist das für ein Geräusch, – mir ist, als hörte ich es neben uns?«

»Du irrst, Freund, – vielleicht ein Posten, der über die Mine geht. Fahre fort, in des Propheten Namen.«

»Also an diesem Tage hatte mein Herr den Doctor zufällig hier wieder gefunden, und als er hörte, daß Du, der mich so sorgfältig in den beiden ersten Tagen pflegte, im Dienst seines Feindes ständest, oder doch unter seinem Dache wohntest, gab er mir den Auftrag, mich an Dich zu machen und mit Dir gute Freundschaft zu halten.«

Die Zähne des Mohren glänzten weiß zwischen den dicken Lippen hervor.

»Ich weiß nicht, woher er gleich den Verdacht eines Verkehrs des Hekim-Baschi mit den Russen hatte, aber genug, er hatte ihn und ich hätte nicht Sta Lucia sein müssen, wenn ich nicht, ehe acht Tage vergingen, gewußt hätte, daß sein Verdacht Wahrheit sei. Der Brief ist in seinen Händen.«

»Wah! was ist ein Brief! der Hekim-Baschi hat Freunde!«

»Ich sage Dir, er und Ihr Alle seid in unsern Händen. Meinst Du, wir würden es bei einem Beweise gelassen haben? – Der türkische oder griechische Knabe, den Dein Herr zu seinen Botschaften gebraucht, ist in unserer Gewalt; wir fingen ihn gestern[200] Abend auf, als er am Wall umherschlich. Der Bursche kam geduldig, als ich ihn rief, und merkte Nichts eher, als bis ich ihn in meinen Händen hatte, aus denen kein Entrinnen ist. Wir haben die Briefe, die er bei sich trug, gefunden.«

Der Mohr war bei der Nachricht erschrocken zurückgefahren, hatte sich aber bald gefaßt.

»Und was habt Ihr mit dem Knaben gemacht?«

»Wir haben ihn eingesperrt in des Beisädih's9 Wohnung.«

»Es ist ein Unglück – was kann ich dafür? Was beabsichtigst Du, mit uns zu thun?«

»Hab' ich Dir nicht gesagt, daß Du Nichts zu fürchten hast? – Es soll kein Haar der Wolle auf Deinem Schädel in Gefahr sein, wenn Du meinem Rath folgst. Der Beisädih hat mich beauftragt, mit Dir zu sprechen. Der Junge, den wir bereits in der Hand haben, wird festgehalten bis zu der Zeit, da der Lord für nöthig hält, die Anzeige zu machen. Bis dahin beobachtest Du den Hekim-Baschi genau und theilst mir Alles mit, was er thut und treibt, dann treten ich und Du als Zeuge gegen ihn auf. Nursah, Dein Bruder, erhält des Doctors Habe und wir einen reichen goldenen Lohn von meinem Herrn. Er kennt mich und weiß, daß er sein Versprechen halten muß. Jetzt rede und sage Deinen Entschluß.«

Schon seit einiger Zeit hatte der Mohr wiederholt den Kopf vorgebeugt und während er mit dem einen Ohr der Rede des würdigen Genossen zu lauschen schien, angestrengt nach der andern Seite hin gehorcht. Jetzt machte er eine Bewegung mit der Hand, wie um dem Anderen Schweigen zu gebieten, und warf sich dann lang auf Boden, das Ohr auf die Erde pressend.

»Was hast Du? – Demonio! – jetzt hör' ich auch ....«

Jussuf war bereits wieder auf den Füßen.

»Bismillah! Ich glaube, die Moskows arbeiten neben uns, überzeuge Dich selbst, o Freund.«

Der Bandit schlich zu der Wand, aus deren Richtung sehr entfernt und undeutlich und nur durch den dumpfen Wiederhall des Erdbodens hörbar ein einförmiges Geräusch herüber dröhnte. Er kniete auf dem Boden nieder, weit vorgebogen und den Kopf horchend unten an die Erdwand gedrückt, das andere Ohr mit der[201] Hand hohl bedeckend, wie man zu thun pflegt bei Anstrengung der Gehörnerven. In dieser Stellung konnte er nicht sehen, was hinter ihm vorging.

»Höre genau, Freund!«

»Zum Teufel! – schweig'!«

Hinter ihm stand, wie lauschend, gleichfalls gebückt, die Gestalt des schwarzen Couriers, aber seine Rechte hatte leise den Handjar aus dem Gürtelshawl gezogen und hielt die graue mattglänzende Klinge hinter dem Rücken verborgen.

Es war eine jener wunderbaren, unscheinlichen Klingen, wie sie Damascus in früheren Zeiten aus zusammengeschweißten Drähten gehärtet, ein matter schwarzgrauer Stahl mit wirren Damastfiguren, der in der Hand eines Moslems – und selbst von diesen verstehen ihn nur noch Auserwählte zu führen – nicht mit dem Schlag und der Kraft des Armes, sondern durch die rasche und sichelförmige Führung und seine unglaubliche Härte und Schärfe Eisen und Daunen durchschneidet.

»Die Moskows sind – – Marzocco! was thust Du?!«

Er wollte empor springen, doch es war zu spät. Der Mohr hatte ihn mit der Linken am Genick gefaßt und drückte seinen Kopf zu Boden, während seine Rechte rasch und gewandt mit der Schärfe des Handjars einen anscheinend nur leichten Schnitt über die ihm zugekehrte innere Seite der Beine seines Gefährten führte. Dann ließ er ihn los und sprang zurück, zugleich den neben der Laterne liegenden Handjar des Verwundeten aufhebend und die Waffe in den Gang schleudernd.

Der Bandit, der nur eine geringe Verletzung empfunden hatte, wollte wüthend sich erheben und auf den verrätherischen Freund werfen. – »Hund von einem Neger! Du mußt sterben!«

Aber die Beine versagten ihm den Dienst, er fiel kraftlos zusammen, gleich als wären die Füße ihm am Knie amputirt – der Handjar des Mohren hatte mit einem Schnitt die vier Kniemuskeln, welche innerhalb des Kniees Schenkel und Bein verbinden, durchschnitten, er war unheilbar in einem Augenblick zum machtlosen Krüppel geworden und die Wahrheit durchfuhr bei dem zweiten vergeblichen Versuch seine schwarze Seele.

»Manigoldo10! Noch habe ich meine Arme, um Dich zur[202] Hölle zu senden!« Er griff nach den Pistolen in seinem Gürtel, ließ aber die Hand alsbald mit einem wilden Fluch kraftlos sinken: er erinnerte sich, daß nach strengem Verbot Niemand eine Schußwaffe in die Minengänge mitnehmen durfte und schon aus eigener Besorgniß nicht mitnahm.

Der Mohr hatte die Bewegung gesehen und lachte spöttisch.

»Warum hast Du mir das gethan, schwarzer Teufel, nachdem Du selbst mir das Leben gerettet?«

»Bana bak, ai gusum! – Schau' mich an, Licht meiner Augen! – öffne den Brunnen Deiner Gedanken, und Du wirst es wissen,« sagte höhnend der Schwarze. »Du hast ein schlechtes Gedächtniß, Freund Lucia, und mich hat Allah mit einem vortrefflichen gesegnet. Aber es ist Zeit, daß wir unsere Rechnung schließen, Eblis, der Engel des Unheils, könnte uns die Moskows auf den Hals schicken und mich um meine Rache betrügen.«

»Komm' mir nicht zu nahe, Schurke! – Zu Hilfe, Kameraden!«

Der Mohr machte eine verächtliche Bewegung, die das Nutzlose des Rufs an menschliche Hilfe zeigen sollte, dann zog er aus der langen Seidenbinde um seine Hüften eine dort verborgene starke Schnur und warf sich damit auf sein Opfer.

Es erfolgte ein langer heftiger Kampf, bei dem Keiner der Kämpfenden einen Laut hören ließ. Der Corse wehrte sich verzweifelt und mit riesiger Kraft. Aber der Blutverlust, der Schmerz seiner Wunden und die Unbehilflichkeit, in die er durch dieselben versetzt worden, mußten ihn bald unterliegen machen. Er fühlte seine Brust und Arme von der verhängnißvollen Binde zusammengeschnürt und in wenig Minuten sich eine hilflose, fast regungslose Masse, die wie ein Stück Holz am Boden lag.

Der Schwarze betrachtete spöttisch sein Werk und rollte mit dem Fuß den Körper rundum. Hätten die wuthfunkelnden Augen des besiegten Feindes ihn durchbohren können, sie wären wie tausend Dolchstöße gewesen!

»Schwarzer Teufel – sprich – was habe ich Dir gethan? – was willst Du von mir?« keuchte der Corse.

»Was Du mir gethan hast, Brüderchen?« fragte langsam der Courier. »Bei den sieben Thoren des Paradieses, Du sollst es hören. Zuvor aber will ich mir die Freiheit nehmen, Deine Taschen zu untersuchen. Bei der Reise, die Du nun bald in[203] Gesellschaft jener Moskows antreten wirst, deren Nähe Du hörst, bedarfst Du des Gepäcks nicht.«

Er begann ruhig die Taschen und den Leibbund des Hilflosen zu plündern.

»Höre mich, Jussuf! Wenn es Gold ist, was Dich reizt, ich will Dir Alles lassen, was mein ist – ich schwöre Dir bei der heiligen Jungfrau, ich will mich nicht rächen an Dir und Dir vergeben, daß Du mich zum Krüppel gemacht hast, nur bringe mich an das Licht des Tages!«

»Du sollst dahin kommen, verlaß Dich d'rauf!«

Er hatte seine Plünderung beendet und das Gold und mehrere Schlüssel, die er bei dein Banditen gefunden, zu sich gesteckt; dann setzte er sich neben ihn.

»Wenn Deine Laune gut ist, o Effendi Lucia, so laß' uns plaudern. Wir haben noch einige Minuten Zeit. Erinnerst Du Dich eines Abends im Monat Schewal und an ein kleines Geschäft, das Du an einem schwarzen Mann auf der Straße nach Silivria verrichtetest, dem Du hundert Zechinen und einen Brief stahlst? – Du scheinst das Briefstehlen zu lieben!«

Ein kalter Schweiß begann die Stirn des gefesselten Banditen zu bedecken. Er fing an, zu begreifen, daß er einem mitleidslosen Rächer in die Hand gefallen.

»Du – der Courier – wo hatte ich meine Augen!«

»Was weiß ich! Allah hat die meinen besser gemacht. Als Du meinen wunden Körper auf Deinen Armen zu jener Schlucht von Tschekmedsche trugest und ihn in die blauen Wellen des Meeres versenktest, traf mein Auge Dein Antlitz und, wenn ich Ibrahim's11 Alter erreicht hätte, ich würde es nimmer vergessen haben.«

»Erbarmen, Jussuf – ich habe Gold – viel Gold – –«

»Weißt Du, wer meine Wunden heilte? wer mir das Wasser des Lebens gab, von dem meine Glieder wieder ihre alte Kraft bekommen, jene Kraft, die Dich gebändigt hat? – Der Hekim-Baschi war es, den Du verfolgst und den der fränkische Hund, Dein Herr, bedroht!«

»Erbarmen, Jussuf – ich will Alles thun, was Du willst – ich will den Engländer tödten, wenn er die Papiere nicht herausgiebt oder dem Doctor Schlimmes thun will.«[204]

»Narr! Du bist zu Nichts mehr gut, selbst nicht zu Deinem Handwerk, dem Meuchelmorden. Du bist wie ein Kloß Erde und wirst Erde werden. Wisse, daß der Hekim-Baschi, den Du verderben wolltest, nicht einmal Schuld und Ahnung hat von dem Verrath an die Moskows. Selbst hier warst Du auf falschen Wegen, und Allah wird nur die Mittel geben, das gut zu machen, was Du böse gemacht.« –

Man hörte in der Pause, die Jussuf seinen Worten folgen ließ, jetzt dumpf aber deutlich das Arbeiten, Hacken und Schaufeln zur Seite der Minenkammer in einiger Entfernung.

»Die Moskows sind uns nahe – kaum zehn Schritt breit Erde trennen sie von uns – Du wirst in ihrer Gesellschaft zu Ladha12 fahren, wo Du die Teufelsköpfe von Zakhum fressen wirst, die Deine Eingeweide zerfleischen werden, verrätherischer Christ!«

»Verfluchter! Die Moskows werden mich retten! Zu Hilfe!«

Er begann mit aller Kraft seiner Lunge zu schreien, doch im Nu hatte sich der Mohr aus ihn geworfen und preßte ihm ein Tuch in den Mund.

»Thor – Du beraubst Dich selbst des Trostes, Dein letztes Gebet sprechen zu können!«

Er lauschte – die Arbeit der Russen schien für einige Augenblicke eingestellt, sie hatten den gewaltigen Ruf vielleicht als dumpfen Klang zu sich dringen hören und horchten. – Als Alles stumm blieb, setzten sie bald die Arbeit fort.

Mit fast aus den Höhlen dringenden Augen folgte der machtlose Bösewicht den Vorrichtungen, die sein Todfeind jetzt begann. Jussuf schleppte eines der Pulverfässer an die Öffnung des Ganges und stellte es dort auf. Dann zog er den Banditen in die Mitte des Raumes und warf ihn dort achtlos hin, mit dem Gesicht dem Eingange zugekehrt. Er hob die Laterne, leuchtete seinem Opfer in's Gesicht und hielt sie dann vor sein triumphirend grinsendes Antlitz, gleich als wolle er Jenem dessen Züge für die letzten Augenblicke noch schreckensvoll einprägen.

Dann nahm er sorgfältig das Licht aus der Laterne, putzte es mit den Fingern und trat in den Gang zurück vor das Pulverfaß. Sorgfältig die Flamme mit der Hand umhüllend, steckte[205] er die Wachskerze in das Pulver – langsam tiefer und tiefer – bis die Flamme kaum noch einen Zoll von der Pulverschicht entfernt war.

Sein schwarzes Antlitz mit den großen gelbweißen Augen und den glänzenden Zähnen schien dem Verlorenen das Haupt des dunklen Engels Eblis im rothen Schein des Lichts, der darüber fiel.

Dann richtete sich sorgfältig, vorsichtig der Mohr wieder auf. Er hob wie zum Abschied den Finger in die Dunkelheit empor.

»Gedenke Jussuf's des Couriers und der Straße von Silivria!« –

Er verschwand gebückt und langsam im Dunkel des Ganges, jeden Luftzug vermeidend.

Mit ihm sank des Corsen letzte Hoffnung. Der Mörder, der reuelos das Blut so Vieler vergossen, saß jetzt, halb aufgerichtet – in dem eigenen Grabe, in der Gewißheit des Todes, des furchtbaren Todes, dessen Nähe auch der verhärtetsten Seele Alles in einem andern Licht erscheinen läßt.

Kalter Schweiß drang Tropfen aus Tropfen aus seinen Poren, wirre Gedanken zuckten durch sein Hirn, wie er das Schreckliche wenden möchte. Der Knebel im Munde erlaubte ihm kaum das Athmen, – aber nur leben! den Schmerz der Wunden fühlte er nicht – nur leben! – ob er es als jammervoller Krüppel müsse, – was that es? – nur leben, ach, nur leben! –

Seine Augen hafteten stier auf dem brennenden Licht – mit Todesangst beachtete er jede Bewegung der Flamme, wenn sie ein Luftzug aus dem Minengang zur Seite trieb.

Er versuchte, sich dem Pulverfaß näher zu wälzen, sich aufzurichten – vergeblich, die zerrissenen Sehnen hielten ihn an den Boden gefesselt. Dann kam es ihm in den Sinn, daß jede Bewegung das Licht erschüttern und umfallen machen könne, daß seine Hände gefesselt, um es zu ergreifen, daß sein Mund verschlossen sei, um die Flamme in seinem Innern zu begraben.

Seine Anstrengungen, die Bande der Arme zu zerreißen, waren furchtbar. Plötzlich traf ein Laut sein Ohr – die Klingel am Eingang war in Bewegung gesetzt, – sie schellte – – –

Heilige Jungfrau, Mutter des allsühnenden und vergebenden Heilands, er war gerettet, – Menschen waren nahe – – –

Nein – die Schwingungen des Glöckchens verhallten – kein Laut ließ sich hören! Mit teuflischer Bosheit der Rachgier hatte[206] der Mohr beim Austritt aus dem Minengang die Schnur in Bewegung gesetzt, durch welche den Wachen im Innern der Erde die Befehle signalisirt werden sollten.

Der erste Zug der Schnur bedeutete: »Fertig zum Zünden!«

Des Unglückliche fühlte den schneidenden Hohn – ein Hauch konnte das furchtbare, immer tiefer und tiefer brennende Licht verlöschen und er war gerettet! aber dieser Hauch – er war eine Unmöglichkeit für ihn.

Nochmals verdoppelte er seine Anstrengungen, die Arme, die Hände, die Zunge loszuringen – das Blut schien ihm aus den Augen dringen zu wollen vor der gewaltigen Anspannung aller Nerven! –

Vergeblich!

Da versuchte er, zu beten! zum ersten Mal vielleicht wieder seit seiner Kindheit – seit jener Zeit, da er den schwarzen Lockenkopf in den Schooß der Mutter gelegt, da sie ihn zum Kirchlein geführt auf der Felsenhöhe von Capo Calvi, von wo der Blick des Kindes hiuausschweifte über das blaue, sonnige, liebliche Meer, über Fels und Thal – –

Und er sollte Meer und Thal und Fels nie wieder schauen?

Um ihn schwarze Finsterniß – das Grab – das ewige furchtbare Grab –

Die Gebete seiner Seele wurden zu Lästerungen – entsetzliche Bilder tanzten und tauchten aus der Finsterniß um ihn her –

Lauter und lauter schallte durch die dicke Erdwand das Arbeiten der russischen Minirer zu ihm herüber. Ihm däuchte, er könne schon die einzelnen Stöße der Spaten, das Murmeln der Stimmen, das Commando des Ingenieurs vernehmen – –

Ein Blick auf die Kerze – er hatte sie eigentlich nie aus den Augen gelassen – belehrte ihn, daß jede Hoffnung vergeblich sei – kaum linienbreit noch schwebte die Flamme über dem Pulver.

Da begannen bleiche drohende Gestalten vor ihm sich zu erheben, die er so lange zurückgedrängt; die blassen Todten von Ajaccio – die geschändeten Mädchen und gemordeten Greise aus den Schreckenstagen Roms – Paduani in der Straße von Pera – das schreckensbleiche Gesicht, die starrenden Augen des armen Dieners in der Villa zu Hietzing vor den Thoren Wiens – auch dessen Augen allein hatten Sprache, auch dessen Zunge fesselte der Knebel –[207]

Jahre der Angst und der Furcht vor dem Ewigen lagen in den wenigen Minuten, die seit dem Verschwinden des Mohren doch erst vergangen, und doch waren sie so kurz, so kurz – –

Näher und näher dröhnten die Spatenstiche der Russen – er hörte es deutlich, sie hatten die Richtung nach ihm eingeschlagen, von dem dumpfen Klang der Höhlung geleitet – er hörte das versuchende Pochen – deutlich den Befehl des Offiziers – kaum wenige Fußbreit noch – –

Allbarmherziger Gott – Rettung – Rettung – –

Da – da –

Es knisterte an der Flamme des Lichts – es zischte – ein, zwei Körner sprühten –

Dann – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Mit der fahlen Bleiche, welche die schwarze Farbe annimmt, durch welche der grelle Sonnenstrahl des Äquators die Wesen jener glühenden Länder gezeichnet hat, stürzte Jussuf, der Courier Mariam's, mit hastigem Schritt aus den Gewölben der Bastion, die zu den Minen führten.

Er sah das goldene Mittagslicht, den blauen Himmel über sich – der Sonne Strahl blendete sein Auge, das aus der Nacht des Grabes kam.

»Der On-Baschi – der On-Baschi – wo ist er?«

Man trug ihn halb den Capitainen entgegen, die auf die Meldung eilig herbei kamen.

»Fasse Dich, Mann! – Was ist geschehen? – wo ist Dein Gefährte?«

Der Mohr stand vor den Offizieren, deren Kreis sich mit jedem Moment vermehrte; er hatte alle seine Fassung wieder erhalten.

»Die Moskows, o Aga, sind in der Nähe der Minenkammer, wir hörten deutlich ihr Arbeiten – vielleicht keine zehn Ellen uns zur Seite –«

»Ich will mich überzeugen!«

Capitain Grach eilte nach der Kehle der Bastion.

Der Mohr warf sich ihm in den Weg.

»Wallah! es ist zu spät – mein Kamerad wird zünden, so bald er die Russen nahe genug hält, – er muß jeden Augenblick erscheinen; ich eilte voran, es zu verkünden.«[208]

»Das Glück ist für uns!« rief der französische Capitain, dem rasch die Worte übersetzt worden. »Eilen Sie zu Hussein-Pascha, Herr Kamerad, damit er die Truppen zum Ausfall bereit hält. An die Geschütze, meine Herren, und fertig zum Feuern!« Er sprang die Böschung hinauf, auf die Wälle der Bastion – Capitain Grach war davon geeilt.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Durch die vorderste Linie der gegen Arab-Tabia vorgeschobenen Trancheen kam mit seinem Adjutanten der greise Chef des russischen Geniewesens. Sein kalt-graues aufmerksames Auge prüfte genau jede Linie, die Höhe der Brustwehr, die Anlage der Embrasüren, die Arbeiten zum Aufstellen der Kanonen, die Richtung der fertigen Geschütze, die bereits in vollem Feuer gegen die Bastionen waren. Zuweilen aber machte er eine plötzliche unheimliche Bewegung, wandte das weiße Haupt zurück, gleich als wolle er Jemand sehen, der ihm folgte, und schien, in's Leere starrend, auf Worte zu horchen, die nicht gesprochen wurden.

An der Kehle der Sappe rief er den kommandirenden Artillerie-Offizier. – »Lieutenant Potemkin!« – es war derselbe, welcher so kühn und umsichtig in der Nacht des großen Ausfalls die ersten Geschütze in's Feuer gebracht – »welche Nachricht von den Minirern?«

»Capitain Ochalski hat vor fünf Minuten melden lassen, daß er das Bett des Grabens bis zur Mitte erreicht hat. Man beginnt das Pulver hinabzuschaffen.«

»Gut! Sobald die Sache beendet, schnellen Rapport. Er findet mich an der zweiten Mine gegen die Citadelle.« Er brach plötzlich ab und wandte sich hastig um, als sähe er Jemand hinter sich stehen. »Zum Henker! kann ich des Kaisers heute denn gar nicht los werden? Gespenster passen nicht zum Dienst! – Was winkt der Schatten fortwährend mir und raunt mir in's Ohr, als ob ich nicht wüßte, daß heute der Dreizehnte! – Der Fürst läßt mir melden, Lieutenant, daß in einer Stunde die zum Sturm bestimmten Truppen in die Linien rücken werden. Vergessen Sie die Botschaft an Ochalski nicht, daß ich schleunigen Rapport haben muß; – ich hoffe, ehe die Sonne sinkt, dort drüben die Fahne mit dem Adler flattern zu sehen!«

Er wandte sich, um nach den Pferden zurückzukehren, die in einiger Entfernung ihm langsam nachgeführt wurden.[209]

Der General hatte kaum zwei Schritte gethan, als die Erde unter ihm zu rollen begann, wie bei einem Erdbeben – dann erfolgte ein gewaltiger Stoß, der ihn und alle in der Nähe Befindlichen zu Boden warf; – die Erde schien sich zwischer der Sappe und der letzten Batterie zu öffnen und hoch in die Luft sich zu erheben; ein ohrzerreißender Knall – ein dichter Regen von Erde und Steinen, menschlichen Leibern und Gliedern füllte fast minutenlang Alles rings umher, Geschützstücke selbst flogen weit über die Trancheen hinaus und fielen zerschmetternd nieder – die Wände der Laufgräben waren weithin eingestürzt, die Sappe ein hohler Krater, die nächste Batterie in die Luft gesprengt, – ein Theil der diesseitigen Böschung des Grabens in diesen zusammengestürzt.

Ein Jammerruf – ein wildes schmerzliches Gewimmer drang zugleich aus den dicken Pulver- und Staubwolken, die rings umher fast wie dichte Nacht die Luft füllten.

Der junge Artillerie-Offizier, der den General zurückgeleitet, war erst wenige Schritte wieder entfernt und der Erste, der – wunderbar allen Verletzungen entgangen – aus der Erde der Brustwehr, die ihn überschüttet, sich emporraffte.

»Excellenz, wo sind Sie? sind Sie verwundet?«

Er sprang durch den Dampf und Rauch nach der Stelle zu – der General stand bereits aufrecht, bleich, aber ruhig.

»Die Gräber öffnen sich und bringen die Todten zurück – mein kaiserlicher Herr und Freund – ich seh' Dich licht und hehr aus den Wolken der Finsterniß daher schreiten – sprich – ist die Stunde Deines Dieners gekommen?«

»Um der Heiligen willen, Excellenz, fassen Sie sich!« – der junge Mann wagte es, seinen Arm zu ergreifen – »ein unglücklicher Zufall muß die Mine Ochalski's zu früh gesprengt haben.«

Der Name des einem gräßlichen Schicksal erlegenen Offiziers führte den greifen General in die Wirklichkeit zurück.

»Tscherti tjebie by wsiali! Hinauf auf die Brüstung! Du hast junge Augen – was siehst Du?«

Der junge Mann stand schon oben, ein Adjutant des Generals folgte ihm.

»Das Fort ist unbeschädigt – ich sehe Nichts von unseren Arbeiten – Alles scheint verschüttet – der Dampf –«

»Herunter, Bursche! – nicht uns're Mine ist es; die Türken[210] haben eine gegen uns gesprengt und wir werden gleich mehr von ihnen hören.«

Eine Kartätschensalve, die von der Bastion über das Glacis daher prasselte, bestätigte die Befürchtung des Generals.

»Die Pferde! die Pferde! Die Tölpel vor dem Abdul-Medjid sind thöricht genug, ihre Mine zu sprengen in dem Glauben, daß ich hier das Signal gegeben. Verdammt sei der Tag!«

Er eilte mit jugendlicher Kraft zurück über die Trümmer und Erdstürze, welche die Trancheen füllten, bis zu der Stelle, wo die Pferde zurückgelassen worden.

»Gott geleite Sie, General!«

»Narr! Deine Batterie ist Atom – hierher zu mir; es ist keine Schande für den Krieger, in solchem Fall sich zu retten!«

Noch ehe sie die Pferde erreichten, gellte bereits der Allahruf der Türken, den Ausfall verkündend – –

Die Pferde waren glücklich verschont geblieben – der General stieg mit Potemkin's Hilfe auf das seine und jagte querfeldein davon, den russischen Werken vor der Citadelle Abdul-Medjid zu. Er hatte den Hut verloren, sein langes graues Haar flatterte im Winde.

Wer eines Rosses habhaft geworben, folgte ihm.

Ein Hagel von Kugeln peitschte über die offene Fläche – mehrere Reiter stürzten – das Pferd des Generals ward von einer Paßkugel am Hintertheil getroffen und schleuderte, zusammenbrechend, den alten Offizier weit von sich, daß er zum zweiten Male niederstürzte. An vier Stellen brachen die Ausfallscolonnen der Türken aus den drei Forts – die egyptischen Truppen – Kavallerie – im hellen Sonnenstrahl blitzten die hochgeschwungenen Waffen der anstürmenden Geschwader. Aber schon war der junge Artillerie-Offizier, dem es geglückt, in der Verwirrung eines der Pferde zu nehmen, an der Seite des Generals, sprang aus dem Sattel und half ihm hinein. – »Vorwärts, Väterchen; was ist an einem Lieutenant gelegen! Erhalte Du Dich dem Kaiser!« Er sprang neben dem Pferde des Generals her, der auf's Neue den russischen Schanzen zu galoppirte; da überschlugen sich plötzlich Roß und Reiter – eine Kanonenkugel hatte des alten Offiziers linkes Bein dicht unter'm Knie zerschmettert – –

»Kaiser Alexander – Kaiser Alexander –!«

Wieder stand im Nu der junge Lieutenant neben ihm, den[211] Säbel in der Faust, bereit, in seiner Vertheidigung das Leben zu lassen – kaum tausend Schritt weit jagte türkische Kavallerie bereits daher – aber sie warf sich zum Glück rechts hin gegen die Trancheen – Offiziere sammelten sich auf Potemkin's Ruf um den verwundeten General – von der naheliegenden Schanze eilte ein Kommando herbei – im Augenblick war er von der Last des schlagenden Pferdes befreit und auf mehrere Gewehre gelegt, auf denen laufend die Soldaten ihn zurücktrugen aus dem blutigen Gemetzel, das sich auf allen Punkten der langen Linie entspann.

Der Erfolg des Ausfalls war ein vollständiger, alle Erwartungen übertreffender, denn die Russen, in keiner Weise auf den Angriff vorbereitet und den ihren auf die vorhergehende Sprengung von Breschen basirend, wurden vollständig überrascht und bis hinter ihre ersten Linien zurückgeworfen. Das Donauufer entlang der Festung fiel in die Hände der Belagerten und blieb darin. Auf der Ost- und Südostseite wurde der größte Theil der Belagerungsarbeiten der Russen zerstört, mehrere Fahnen und eine Mörser-Batterie blieben in den Händen der Türken, die dritte Mine, die nach der voreiligen Sprengung der gegen das Abdul-Medjid-Fort noch übrig blieb, wurde verschüttet – die Belagerung mußte auf's Neue begonnen werden. Tausend Todte ließen die Russen in den zerstörten Laufgräben – der Verlust der Türken war nur wenig geringer, denn heldenmüthig hatten in ihren Werken sich die Posten gewehrt, ehe die Hilfe herbeikam.

Schon beim Beginn des Kampfes hatte Jussuf, der Mohr, sich eilig und still aus dem Fort entfernt, und während die Schlacht tobte, eilte er mit beschwingtem Fuß durch die engen Straßen, bis er an der Hofmauer des Hauses anhielt, das, wie er wußte, der Engländer Maubridge bewohnte. Mit Hilfe der Schlüssel, die er dem Todfeind abgenommen, der jetzt bereits vor dem ewigen Richter und Rächer stand, gelangte er leicht in das Innere, wo jetzt nur ein altes, ängstlich dem Bombardement lauschendes Weib zugegen war, und dieses, durch sein grimmiges Aussehen und die Todesdrohung erschreckend, führte ihn bald in die einsame und wohlverwahrte Kammer, wo er den Knaben Mauro eingesperrt fand. Er nahm ihn an der Hand und führte seine Beute glücklich davon. Durch die zum Ausfall geöffneten Thore und im Gewirr der ein- und ausdrängenden Truppen gelangten Beide rasch in's Freie, und während zu ihrer Linken noch donnernd[212] und blutig der Kampf ras'te, schlugen sie eilig die Straße nach Schumla ein. – –

Am 13. war Mehmed-Pascha – der Renegat Czaikowski – mit den bei Erekli stehenden Truppen vorgerückt und traf am 15. mit dem Chruleff'schen Corps bei Baldakidi zusammen. Gleichzeitig hatte Said-Pascha die bei Turkossimich auf der Straße von Rustschuk stehenden Truppen unter Iskender-Pascha gemäß dem allgemeinen Operationsplan vorrücken lassen, während er selbst Giurgewo und die Mokan-Insel angriff. Aber Pawloff's Division, rechtzeitig benachrichtigt, warf sich den Truppen des ehemaligen Grafen Ilinski in den Weg und verhinderte ihre Vereinigung mit Silistria und dem türkischen Südcorps. Bis in die Nacht hinein dauerte die Kanonade.

General Schilder ward noch im Lager amputirt und dann nach Kalarasch gebracht. Aber der Brand trat in die Wunde und es mußte eine zweite Amputation am obern Schenkel vorgenommen werden.

Doch auch diese rettete den greifen Krieger nicht. Seine Stunde war am 13. gekommen, wie das Traumbild seines verewigten Kaisers ihm verkündet: – er starb am 23. in den Armen des jungen Artillerie-Offiziers, der ihn vor der türkischen Gefangenschaft gerettet und den er nicht wieder von seiner Seite ließ. Er starb – indem er noch das Leid hatte, die Aufgabe der Belagerung und den Rückzug der Russen vom rechten Donauufer zu erfahren.

Beides erfolgte in den letzten Tagen des Monats, nachdem schon seit dem 15. jeder active Angriff auf gehört und die Belagerung sich auf eine theilweise Cernirung durch das Corps des Generals Grotenjhelm auf den von Jassy angelangten Befehl des Fürsten-Statthalters beschränkt hatte. Fürst Gortschakoff und die Generäle Lüders und Chruleff trafen schon am 19. wieder in Bukarest ein, alle Drei leidend und krank. Das Einrücken der Österreicher in die Donau-Fürstenthümer wurde bereits ganz offen proclamirt. Im Angesicht der österreichischen Truppenmärsche, welche den ganzen Raum von der serbischen Gränze an über Siebenbürgen bis zur Bukowina bedeckten und Flanken und Rücken der russischen Armee bedrohten; bei der Aufstellung neuer Truppen an der Gränze bei Krakau und der Bildung eines Reservecorps[213] in Mähren war auch die Stellung in der Moldau bedroht und es erfolgte der Befehl zum Rückgang über den Pruth. Damit endete der erste Akt des großen orientalischen Drama's.

An zehntausend Todte ließen die Russen allein vor Silistria zurück, darunter sechs Generäle und fünf Obersten.

Der Donau-Feldzug hatte sie mit der furchtbaren Verheerung der Krankheiten an achtzigtausend Menschen gekostet.

1

Hauptmann.

2

Es giebt keinen Gott als Allah, und Muhammed ist Allah's Prophet.

3

Die Folterengel, die den Begrabenen befragen.

4

Die Richtung nach Mekka, die stets beim Gebet und in der Sterbestunde jeder Mahommedaner nimmt.

5

Nach dem Koran der Zustand zwischen dem Tode und der Auferstehung.

6

Die Waage, auf der die Thaten der Guten und Bösen gewogen werden.

7

Das Paradies.

8

Czaikowski.

9

Sohn eines Lords – Benennung vornehmer Engländer.

10

Schuft von einem Scharfrichter!

11

Abraham's.

12

Hölle.

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 3, Berlin 1856, S. 179-214.
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