Auf der Rennbahn.

[215] Der vierte Tag – Dienstag, der 20. Juni – der so rasch im Sporting berühmt gewordenen Berliner Rennen nahte sich bereits dem Ende. Obschon der Hof bald nach den Festlichkeiten zur Feier der silbernen Hochzeit des Prinzen und der Prinzessin von Preußen, an der das ganze Land so patriotischen Theil nahm, sich nach der Provinz Preußen begeben hatte, war doch noch immer viel hohe und vornehme Gesellschaft in der preußischen Königsstadt versammelt und namentlich das diplomatische Corps vollständig geblieben, da jeder Tag jetzt neue wichtige Botschaften und Verhandlungen brachte.[215]

Ein leichtes Gewitter war gegen Abend heraufgezogen, der kurze dünne Regenschauer hatte jedoch nur dazu gedient, den Staub des weiten Sandfeldes, auf dem die Bahn ausgesteckt ist, zu mildern, ohne die zahlreichen Sportsmans vom innern Turf zu vertreiben oder die farbenreichen Toiletten der Damen – denn die Berlinerinnen lieben das Bunte – zu verderben, welche in großer Zahl und etwas pikanter Mischung die Tribünen rechts und links von der erhöhten Hofloge füllten, während das Publikum zu Vier-Groschen, das man bereits zum Volke zählt, seine Stehplätze auf den Flanken behauptete, unterstützt von den nie fehlenden fliegenden Marketenderinnen in Kümmel und Schinkenstullen.

Der Platz im Innern zeigte ein lebhaftes Treiben – sehr viele Offiziere, die mit großer Vorliebe an den Aufregungen der Bahn hängen, die Mitglieder des Rennvereins und des Jockey-Clubs, viele Aristokratie aus den Provinzen, die Wollmarkt und Rennen hierher geführt, hohe Beamte, Attaché's, pferdeverständige Banquiers, jene zahlreiche Sorte berliner Flaneurs, theils Juden, theils Christen, die überall sind, ohne daß man weiß, wer sie sind, überall unverschämt und absprechend – des Morgens in irgend einem vornehmern Weinlokal, zur Caffeezeit auf der Kranzler'schen Rampe, Abends im Foyer des Opernhauses oder im Kroll'schen Garten, aber niemals an einem Mittagstisch. Da waren die vornehmen Industriellen in Gold, Edelsteinen, Seide und Bronce, die, weil der Hof bei ihnen kauft, glauben, sie gehörten dazu, die im März 1848 auf's Schleunigste das Hoflieferanten-Wappen bei Seite brachten, in der Vossischen Zeitung mit einem anständigen Beitrag für die Hinterbliebenen der Märzhelden zeichneten und jetzt über den Undank die Nase rümpfen, daß sie noch nicht das Hohenzollern-Kreuz erhalten haben, einstweilen aber keine Galla-Vorstellung im Opernhause und keine Gelegenheit versäumen, wo das Entree ihnen erlaubt, sich unter Hof und Adel zu mischen. Da fehlten auch nicht die markirten Physiognomieen, die ein Conto gegen 150 Prozent offen halten für die Ehrenscheine junger Sprossen aus Preußens alten Familien, jene Blutegel am großen Grundbesitz der Aristokratie. Die berliner Börse endlich in ihren ältern und jüngern Prachtexemplaren, die junge Litteratur und die Hotelbesitzer, die ihre Fremden zum Rennen fahren, wenn die Frau Gemahlin nicht etwa die Equipage mit Groom und Bedienten für sich selbst gepreßt hat.[216]

Kurz Alles Bewegung, Alles Glanz, Alles Sehen und Gesehenwerden.

Das Hürden-Rennen um den von des Königs Majestät gesetzten Preis war eben im Gange; die vier Pferde, von den adligen Besitzern oder Offizieren geritten, hatten das letzte Hinderniß dicht zusammen genommen und es entwickelte sich nun ein interessanter Kampf. Selbst auf den Tribünen hatte sich Alles erhoben und war in Bewegung, die Linien im Innern des Platzes drängten möglichst weit vor zum Ärger des Flanken-Publikums, das seine Rechte mit lautem Rufen vertheidigte, und die Aufregung und Theilnahme hatte selbst Männer erfaßt, die sonst herzlich wenig um den Turf sich zu kümmern pflegen.

»Caurire siegt – Breidbach ist eine Länge voraus! Hundert Friedrichsd'ors Paré! Haben Sie Lust, Baron?«

»Angenommen, Hoheit – ich wette auf den ›Shakespeare‹. Lüttwitz weiß, wann es Zeit ist.«

»Sie kommen – sie kommen! – ›Trial‹ und der ›Emperor‹ bleiben zurück!« –

»Sie werden galant sein und mich zwei Louisd'ors gewinnen lassen,« flüsterte es aus der ersten Reihe der Tribüne zu dem Herrn mit starker Nase und Backenbart, Frack von Heymann unter den Linden, der an der Linnenwand der Tribüne auf die Bank gestiegen, mit allerlei schwedisch-gymnastischen Körperverdrehungen dem Lauf der anstürmenden Pferde folgte, gleich wie die Kegelschieber die edle Gewohnheit haben; – »ich wette auf die Blaukappe – die Equipage an den Renntagen ist so theuer!«

»Avec plaisir, reizende Amanda! Was werd' ich nicht thun! – Wollen Sie zwei Friedrichsd'ors auf den ›Shakespeare‹ halten, Herr von Walther?« – Der galante Verlust der Wette war so gesichert.

»In des Teufels Namen, stehen Sie doch ruhig, Herr Wolf. Sie werfen noch die Bank um. Ich wette nie!«

Ein lauter Jubel begrüßte die jetzt am Pfosten vorüber stürmenden Pferde – »Shakespeare« voran, »Caurire« als Zweiter.

»Das macht mit den gestrigen Wetten vierhundertundzwanzig Friedrichsd'ors, Hoheit!«

»Ich weiß, ich weiß! – wir haben morgen noch das Jagdrennen, – der Brin d'Amour siegt gewiß!«

»Heute Abend, holder Engel, bringe ich's!« flüstert Herr Wolf[217] und springt von der Bank, sich unter das Gedränge mischend, das wieder den Platz füllt und die dampfend zur Waage zurückkehrenden Pferde umgiebt. »Wissen Sie, lieber Freund, wie viel ich eben hab' verloren auf die ›Caurire‹? – Zwanzig baare Louisd'ors! Aber 's schadet nischt – 's ist an eene vornehme Dame!«

Alles drängt durcheinander, die Freunde den Sieger begrüßend, Andere mit den Besiegten jeden Satz der Pferde discutirend.

»Sind Sie heute Abend zu Hause, Herr Meyer?«

»Zu unterthänigstem Befehl. Wie viel? – Es ist schwer, Geld aufzutreiben – die Cöln-Mindener und Ludwigshafen-Bexbacher nehmen Alles in Anspruch – 115 Procent heute!«

Ein verächtliches Achselzucken. – »Das ist Ihre Sache – ich kann mich hier nicht mit Ihnen aufhalten; um neun Uhr schicke ich.« –

Die jugendliche Bettelgeneration mit Blumensträußchen macht ihren letzten Angriff – einzelne Equipagen nehmen bereits ihre Besitzer auf – die Prinzen haben die Königliche Loge verlassen und bewegen sich freundlich plaudernd über das eben beendete Rennen unter der Menge – die neuen Nummern werden aufgezogen und sechs Jockey's machen sich fertig zum nächsten Handicap.

Zwei Herren gehen aus und ab in der Bahn, an den Tribünen entlang – beide offenbar keine Sportsmans, doch den gebildeten Klassen angehörend; der Eine in Reiserock und Mütze.

»Ich wußte Sie wirklich all keinen Ort zu führen, lieber Doctor,« sagte der Andere, »der Ihnen, da Sie zum ersten Male in Berlin sind, rascher und prägnanter ein Bild unseres Lebens und der Klassen, Sünden und Annehmlichkeiten der Berliner Gesellschaft gegeben hätte. Sie finden in der That hier Alles, was auf diesen Namen Anspruch macht, und ein buntes pêle-mêle ist es in der That.«

»Bitte, bezeichnen Sie mir einige pikante oder hervorragende Persönlichkeiten.«

»Da sehen Sie unsern preußischen Premier; Sie kennen ihn bereits. Er unterhält sich eben mit dem Chef unserer Polizei.«

»Herr von Hinckeldey hat in der That sich bereits einen europäischen Ruf erworben.«

»Ich fürchte, er wird an diesem und seiner Energie scheitern. Bei der Macht ist es schwer, die richtige Gränze zu treffen.«[218]

»Die öffentliche Stimme nennt Ihre Finanzen, Ihr Postwesen und Ihre Polizei vortrefflich.«

»Ich erkenne an, daß ohne einige kleine Sünden gegen die Paragraphen über die persönliche Freiheit nicht Ordnung zu halten ist. Dennoch lieben wir auch hier manche Neuerungen aus dem Jahre 1848 nicht.«

»Sie haben wenigstens in Preußen den Vorzug, daß zu Ihren Sicherheitsbeamten stets nur Personen von unbescholtenem Ruf und bewährter Treue, keine Vidocq's gewählt werden.«

Der Preuße zeigte nach einem Herrn, der im seinen Reitfrack vorüberging, den weißen Bibi auf dem etwas kahlen Kopfe und einen großen Brillant im Chemisett. – »Wissen Sie, daß der Mann dort, der rechts und links grüßt, zehn Jahre in Spandau gesessen hat und einen der berüchtigsten Gaunernamen der Residenz trägt?«

»Und er kommt hierher?«

»Warum nicht! Sie werden noch ganz andere Dinge auf unserer Runde erfahren. Der Mann ist reich und man antichambrirt bei ihm unter den Linden. – Sehen Sie den kleinen Herrn dort – er trägt einen vornehmen Namen, ist ein rastloser thätiger Geist und hat Vieles geleistet auf dem Felde der politischen Intrigue in den bösen Jahren. Er hat manchen künftigen General-Consul gemacht. Man hätte ihn zum Diplomaten creiren sollen, wenn er nur nicht eben so gut im Hause der Wucherer, als im Hotel der Minister bekannt wäre.«

»Der Herr, um den er eben einen Umweg macht?«

»Ein ehemaliger Schulkamerad von mir; vor ihm und seinem Bruder liegt viel Zukunft, obschon ihn die Gegenwart in eine schiefe Stellung gebracht hat. Die Majestät soll 1849 von ihm gesagt haben: ›Der ..... will wohl gar Minister werden?‹ – Und dennoch, Freund, wird er's einst sein und ich wünsche es ihm, denn er ist vielleicht am meisten von der conservativen Partei mit Undank behandelt worden. Ich weiß, welche zähe Thätigkeit er im Jahre 1848 entwickelt hat! Es sind Viele in den Reihen unserer Kammeropposition, die damals Männer voll Treue und Aufopferung waren.«

»Man sagt im Auslande, das Princip der preußischen Regierung nach dem Jahre 48 sei mehr darauf gerichtet gewesen,[219] die Nichtbewährten an sich zu ziehen, als das Verdienst der Bewährten anzuerkennen?«

Das Gesicht des Andern wurde ernst. – »Das Gleichniß vom verloren gegangenen Lamm,« sagte er mit einem gewissen Hohn, »ist christlich, aber nicht politisch. Die Treue ist kein Verdienst, aber die Untreue ist eine Schmach; das ist ein ewig geltender politischer Satz, und für das Rechtsgefühl treuer und ehrlicher Herzen ist es eine tiefe Verletzung, Leute sich jetzt brüsten und blähen und überall mit ihrem Patriotismus für König und Thron sich in die vordersten Reihen drängen zu sehen, die, als die Wogen hoch gingen, nicht blos feig den Posten verlassen, sondern die zu den offenen Gegnern und Schmähern des Thrones gehörten.«

»Sie haben zwei Stände in Ihrem Lande, deren Gesinnung sich unverbrüchlich bewährt hat: den Adel und das Heer.«

»Sie sprechen da eine schwere Beschuldigung aus, die ich auf meinem Vaterlande nicht haften lassen kann. Das ganze Land ist treu dem Throne und ehrlich conservativ – der Graf wie der Bauer, der Soldat wie der Bürger. Was schlecht und faul war und ist, das sind zwei Dinge: der Schachergeist des christlichen und orientalischen Judenthums und der rabulistische Advokatengeist von Westen. Beide sind Früchte der gepriesenen Neuzeit.«

»Ihr Adel –«

»Unser Adel – sehen Sie hin da auf jene zahlreiche Gesellschaft, markige frische Gestalten und Gesichter – ich liebe die geborene Noblesse des Körpers! Unser Adel hat sich brav bewährt und ich gönne ihm selbst seine stark wieder hervortretende Exclusivität. Aber der Schachergeist nagt leider auch an ihm, schmuziger Rost an gutem Stahl, die Spiritusspeculation und der Handel ruinirt mir den noblen Eindruck. Der berliner Wechselwucher hat schon manchen berühmten Namen fallen machen.«

»Es sind dies leider Corruptionen, die Sie überall finden – die Sucht, reich zu werden, die Börse, die sogenannte Geldaristokratie, sind Übel, die nicht allein demoralisiren, die auch materiell untergraben.«

»So möge man den kaufmännischen Geist, den sogenannten Segen des Handels, nicht allzusehr poussiren. Ich bin kein Feind des Judenthums als solches, Freund, aber ich hasse das Judenthum als sociale Macht aus tiefster Seele, und unser ganzes Ringen,[220] unser ganzer Kampf ist hauptsächlich mit ihm. Wollen Sie materielle Beweise? – Berlin bietet sie in reichem Maaße. Seit 1848 sind erst sechs Jahre verflossen. Gehen Sie durch den Thiergarten – mehr als die zweite prächtige Villa ist jüdischer Besitz. Sehen Sie unsere Etablissements, unsere Banquiergeschäfte, den Getreidehandel, die glänzenden Waarenbazars, die Schneider- und Tischlermagazine, – Handel und Wandel – Besitz und Arbeitgebung an – zwei Drittheile befinden sich in den Händen der Juden. Der Handwerkerstand ist durch die Speculation der Geldmacht förmlich ruinirt. Das Judenthum herrscht in der Kunst – unsere ersten Schauspieler sind fast sämtlich Juden! – wie in der Litteratur und Wissenschaft. Ich wiederhole es Ihnen, ich bin kein Feind der Juden als Juden, und habe liebe, geschätzte Freunde unter ihnen, – aber ich hasse das speculative zersetzende Judenthum, das Alles unter die Herrschaft der Zahlen bringt.«

Der fremde Arzt lächelte. – »Sie werden eifrig in Ihrem Thema. Das sind Fragen, über die Staatsmänner und Zeitungen verhandeln mögen.«

»Entschuldigung für die Abschweifung, und den noch wird sie Ihnen auch einigermaßen hiesige Verhältnisse characterisiren, die Factoren des jetzigen berliner Lebens: den Hof, den Adel und das Militair, – das Geheimerathsthum, – die jüdische Geldherrschaft und zuletzt – das bürgerliche Philisterthum.«

»Sie vergessen Ihre Presse, zu der Sie ja selbst gehören und die immer eine Macht ist.«

Der Berliner lächelte. – »In Berlin nicht. Es giebt in der ganzen Residenz zwei Blätter von journalistischer Würde und Gesinnung: die Kreuzzeitung und die Nationalzeitung. Die Presse? Wissen Sie, aus was unsere Presse besteht? Aus einem kleinen Häufchen anständiger und gesinnungsvoller Männer, aus einigen wenigen Talenten, aus einem Schwarm politischer Apostaten und aus einer ziemlichen Anzahl unfähiger Judenjungen, die in andern Geschäften nicht vorwärts kamen. Bewährte Republikaner redigiren conservative Organe, von Eitelkeit geplagte Krämer fabriciren Leitartikel, Frauen und Narren machen die Kritik, ehemalige Bänkelsänger und durchgefallene Referendarien die Politik und naseweise Jungen die Correspondenzen. Es giebt verteufelt Wenige, zu denen man mit Anstand sagen kann: Herr College! und die Collegenschaft der Anständigen ist so jämmerlich, daß sie noch niemals den geringsten[221] Gemeingeist gezeigt hat, selbst gegenüber der polizeilichen Zuchtruthe des Herrn von Hinckeldey.«

Sie waren Beide stehen geblieben im Gespräch und schauten dem Abritt der Jockey's zum neuen Rennen zu, als zwischen ihre Köpfe sich der eines hochbeinigen, störrigen Gaules streckte. Vergebens zerrte der jugendliche Sonntagsreiter, in einen jener duftigen Gummiröcke gehüllt, die das Grauen der Damennerven sind, an den Zügeln, um der Rosinante eine andere Richtung zu geben, der Gaul wollte nicht, und eine Gruppe lachender, junger Offiziere und Sportsmans bildete sich um den Unglücklichen.

»Verehrungswürdiger James,« sagte der Journalist spöttisch, »verschiedene Thiere aus dem alten Testament waren auch höchst störrischer Natur, also ärgern Sie sich im neuen nicht; für den Aufkauf der Billets zum Auspfeifen meines letzten Stückes will ich Ihnen den Gefallen thun, Ihren alterthümlichen Fuchs gleich einem Hirsch in's Feld galoppiren zu machen.«

Er gab lachend dem Gaul einen Hieb mit dem Spazierstöckchen, und der unglückliche junge Orientale galoppirte wirklich zum Gelächter der Tribünen – deren ständische Flanken ihn mit dem Rufe: »Pietsch kommt!« begrüßten – über die Bahn. –

»Ein Sprößling jener Aristokratie, die Sie vorhin so sehr anfeindeten?« fragte lachend der Arzt.

»Ein Candidat des künftigen berliner Löwenthums. Der Vater ein verständiger Geschäftsmann, der junge Narr ein Affe, der noch nicht begreift, daß Lächerlichmachen das größte Übel. Er hatte ein pikantes Vorbild an seinem Oheim, der viel Geld an die Schreier von Achtundvierzig verlieh und natürlich Nichts wiederbekam. Ich sah ihn an einem Ballabend im Gesellschaftshause das Champagnerglas zwei Mal mit blanken Dukaten füllen und es einer Phryne für seine Wahl bieten, das Mädchen, schlug sie lachend aus und wählte ihren Louis – Sie kennen doch die Benennung von Herrn Arago her, gesandtschaftlichen Andenkens!«

»Wer ist der Herr dort, der mit der Gruppe von Offizieren spricht und Sie vorhin grüßte?«

»Ah – das Embonpoint Überall und Nirgends? Seine Familie ist vor Kurzem geadelt worden und zeugte Künstler, Banquiers, Diplomaten und Bummler. Der Herr da ist der stereotype Flaneur aller öffentlichen Orte, eine gutmüthige Haut und seit seiner verunglückten theatralischen Carriere in Dessau von der[222] Familie als amüsanter Müßiggänger unterhalten. Da drüben sitzt seine Schwester ohne ›von‹, und das ist ein trüber Kummer, der sich vielleicht durch eine vornehme Heirath redressiren läßt. Papa gab zur Feier seiner Adelung einen prächtigen Ball, zu dem nur pure Aristokratie geladen war. Das Fräulein vom Hause tanzte mit einem unbekannten, durch seine noblen Manieren ausgezeichneten Cavalier und amüsirte sich an seinen pikanten Bemerkungen über die Toilette der Gäste. ›Vraiment, Monsieur le Baron, Sie machen höchst scharfsinnige Bemerkungen über die Garderobe der Herren!‹ – ›Meine Gnädige, warum sollte ich auch das nicht verstehen? ich arbeite doch schon drei Jahre bei Heymann unter den Linden!‹ – Sie können den Eclat denken!«

Beide lachten. Der Journalist erwiederte mit kaltem Nicken den Gruß eines Vorübergehenden. »Der Mann rühmte sich, am 18. März den Lieutenant von Zastrow vom Pferde geschossen zu haben. Doch seine Küche ist gut.«

Ein großer Herr mit kahler Stirn grüßte im Vorbeigehen.

»Sie haben meinen Artikel noch immer nicht gebracht, Doctor?«

»Es ist unmöglich, auch nur zwei Worte zu lesen. Ich besitze keine Dechiffrir-Anstalt. – Ein schmuziger Geizhals,« sagte er im Weitergehen, »obschon einer der ersten Spiritusbrenner und einst der Vorstand einer ganzen Provinz. Jetzt hat er das Verdienst, jedes Mal mit seinen Reden die Bänke der Kammer zu leeren. – Doch sehen Sie da die beiden Herren – sie sind in der That aus dem Herrenhause und Beide Träger erster Namen Preußens, der Eine der Nachkomme eines berühmten Generals, der Andere der Sohn eines energischen Ministers. In diesen beiden Gestalten liegt wahre Aristokratie und Noblesse.«

»Die dunklen runden Augen des Zweiten haben einen ergreifend melancholischen Ausdruck.«

»Sie meinen den, der eben mit dem Polizeipräsidenten eine Verbeugung wechselt – vom Scheitel bis zur Sohle ein Edelmann. Der Offizier, mit dem er spricht, machte in Paris Aussehen durch seine Reiterkünste. Es fließt hohes Blut in seinen Adern und er ist einer unserer bekanntesten Cavaliere. Die Künstlerinnen wissen davon zu erzählen. Ah! – da – sehen Sie die stolze Figur dort, die Donna Diana unserer Bühne? Ihr Bett soll einen förmlichen Pavillon abgeben, größer als das der Königin von England, das ein besonderer Courier im Schlosse von Brühl einrichtete.«[223]

»Sie haben eine böse Zunge.«

»Man lernt dergleichen in Berlin; es gilt, sich zu wehren. Der Angreifer hat den Sieg. Die Glocke hat uns von der Bahn gejagt, lassen Sie uns im Vorübergehen die Schönheiten der Tribünen mustern.«

»Die Damen da dicht an der Königlichen Loge?«

»Es sind die einzigen Plätze, die sich die hohe Aristokratie und die Repräsentation der Westmächte zu bewahren vermocht hat. Und dennoch werden auch diese bereits blokirt. Sehen Sie die vierschrötige Gastwirthin dort, die sich gar zu gern in die zweite Reihe drängen möchte? Sie wusch einst für einen gutmüthigen Rentier, und seit ihr würdiger Gemahl in patriotischen Concerten machte, fiel sie während der Bade-Saison auf allen Wegen den höchsten Damen durch ihr Knixen zur Last, bis Beide endlich, um sie los zu werden, ihren Zweck erreicht haben.«

»Und Jene dort mit dem blassen orientalischen Gesicht?«

»Wahrhaftig, diesmal nur in der zweiten Reihe? – die Mama mit der ganzen Familie von sieben hoffnungsvollen Sprößlingen ist zu spät gekommen. Die junge Dame trägt nur Unterröcke von Valencienner Kanten, hat damit einem reichen jungen Handlungsherrn durch ihren Papa bloß 60,000 Thlr. als Abstandsgeld einer Heirath abgegaunert, tanzt ziemlich schlecht und läßt mit dem Gelde Wuchergeschäfte machen. Die Familie ist ganz vorzüglich auf ähnliche Speculationen dressirt und ausgezeichnet geachtet.«

»Ich muß Ihnen gestehen, ich begreife die Möglichkeit einer so gemischten Gesellschaft nicht.«

»Ich auch nicht, mein Lieber, aber wie gesagt, das Geld gewinnt bei uns alle Tage mehr Boden. Reines Blut ist wahrhaftig bald nur noch in den Vierfüßlern von Race zu finden. Sehen Sie – da kommt die Carriere an, Graf Reichenbach's ›Despair‹ voran.«

Die Aufregung im Turf war groß, denn der Sieg blieb lange unentschieden. Despair, Brandenburg und des Fürsten Sulkowski Renner »Exhibition« rangen wacker Kopf an Kopf.

»Zum Henker! der Pole hat wahrhaftig gesiegt!«

Das Gedräng' hatte sie hinter zwei Personen gebracht, deren Äußeres einen scharfen Contrast bot. Die Eine breit und aufgeschwemmt mit einem nichtssagenden, gedunsenen, fast bleifarbenen[224] Gesicht, aus dem allein die runden Augen Schlauheit und Bosheit leuchteten, zeigte in allen Bewegungen großes Phlegma und Sicherheit; die Andere von ziemlicher Größe, schlanker Statur und einem gewissen aristokratischen Aussehen wies jene unruhige Bewegung und Rastlosigkeit, die auf den Sanguiniker oder ein schlechtes Gewissen schließen läßt.

Die Hinterstehenden hörten unwillkürlich einige Worte des Gesprächs.

»Was sagte Ihnen der Franzose?« fragte der Dicke.

»Nichts als das Loosungswort und die Bestellung auf heute Abend 11 Uhr in den Thiergarten.«

»Dann können wir das gelbe Tuch einstecken, es hat seine Dienste gethan. Wird Ihr Mann auch sicher kommen?«

»Um 10 Uhr mit der Bahn von Potsdam. Sie wissen, der Eine wenigstens begleitete den König und –«

Die beiden Männer wandten sich im Fortgehen und das Auge des Dicken begegnete dabei dem finstern und festen Blick des Journalisten. Er zuckte sichtlich zusammen und sein fahles Gesicht wurde fast noch aschbleicher, während er seinen Gefährten fortzog.

»Ein fatales Gesicht!«

»Und ein Schurke im Innern durch und durch. Ich war einst thöricht und unvorsichtig genug, ihn zu benutzen und durch seine Eigenschaften als vortrefflicher Gesellschafter bestochen, viel mit ihm umzugehen. Er lohnte mir zahllose persönliche Wohlthaten mit einer öffentlichen Verleumdung.«

»Und was thaten Sie?«

»Was konnte ich thun? Ich ohrfeigte ihn, als ich ihm das erste Mal wieder begegnete, auf offener Straße, und damit war die Sache abgethan. Er ist jedoch einer der gefährlichsten Menschen Berlins und ich möchte wohl wissen, zu welcher Nichtswürdigkeit er seinen Begleiter dort verlocken will – denn er selbst als Winkeladvokat ist schlau genug, sich stets zu sichern. Am 19. März saß er bei der Fahrt der Polen neben dem Fanfaron Mieroslawski.«

»Wer ist der Andere?«

»Ich glaube, ein ehemaliger Polizei-Officiant, ein Herr von Hassenpflug oder dergleichen, ich kenne ihn nur vom Sehen.«

»Man bricht auf; ich dächte, auch wir suchten unsern Wagen.«

Die Hof-Equipagen mit jenen prachtvollen Gespannen preußischer Zucht, die selbst in England Staunen erregt haben, waren[225] bereits abgefahren, Reiter und Wagen füllten den Weg, betreßte Lakaien suchten ihre Herrschaften, Herren und Damen ihre Equipagen, berittene Constabler die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das Gedränge und die Verwirrung waren trotzdem ziemlich groß.

»Sehen Sie, Doctor, da fährt eben der russische Gesandte ab, dem Sie morgen vor der Abreise nach Warschau Ihre Aufwartung machen wollen, der hagere blasse Herr.«

»Sein Einfluß und seine Thätigkeit hier scheinen bedeutend zu sein?«

Der Journalist lächelte.

»Sie haben keinen Begriff von der Apathie der Russen – sie waren der Ansicht, sie hätten Deutschland im Sack und das ist ihr Unglück. Glauben Sie wohl, daß mir neulich noch ein angehender russischer Diplomat, als ich mit ihm über die Stimmung der deutschen Presse sprach, im vollen Ernst sagte: Wir werden ihnen mit unsern Kanonen antworten!«

»Ich glaube selbst, daß ich manche Erfahrungen in Rußland machen werde.«

»Ich erinnere mich beiläufig einer guten Anekdote, die mir dieser Tage erzählt wurde. Bei der vorletzten Anwesenheit des Kaisers Nicolaus wollte dieser einem von ihm sehr geschätzten und stets sehr freundlich behandelten hiesigen Künstler ein Zeichen seines Wohlwollens zurücklassen und es sollte in Form einer werthvollen goldenen Uhr geschehen. Einige Tage darauf kommt der Hofmaler zu einer hohen Person und diese sagt ihm: ›Ich gratulire, mein lieber X., zu der schönen Uhr, die Sie vom Kaiser erhalten haben.‹ – Der Künstler zieht dieselbe lächelnd hervor und frägt: ›Wollen Eure Hoheit sie sehen?‹ – Die hohe Person nimmt das mohnblattartige Fabrikat in die Hand, besieht es staunend und sagt entrüstet: ›Das ist wohl kaum möglich, da muß ein Irrthum stattgefunden haben. Ich bitte, lassen Sie mir die Uhr, der Kaiser kommt morgen zurück und ich möchte sie ihm zeigen.‹ – Das geschieht, und der Kaiser, als er die Uhr sah, antwortete lachend: ›Voilà que je connais mon Prince de ...... off!‹«

»Sie müssen in Ihrem bewegten Leben einen Schatz von Anekdoten gesammelt haben.«

»O ja – so ziemlich. Meine Memoiren sind so reich, wie die meines kleinen pikanten Freundes, den wir heute Morgen trafen. Doch – was geht da vor? – welche Unverschämtheit!«[226]

Es hatte sich dicht neben ihnen eines jener kleinen Dramen entsponnen, wie sie oft so hohnneckend einschneiden in glänzende Scenen und glänzendes Leben.

Eine noch junge, elegant gekleidete Frau, sichtlich den höchsten Ständen der Gesellschaft angehörend, war mit ihrem Gatten die Stufen der Tribüne heruntergestiegen und dieser hatte sie einen Augenblick allein gelassen und sich entfernt, um seine Equipage zu suchen.

Die Dame war groß und schlank, aber von blassem, leidendem Aussehen. Wer ihr damals unter das verhüllende Capuchon und den Schleier geschaut hätte, wie jenes dicke, vom Branntwein und der Völlerei geröthete Weibsstück es einst gethan, das jetzt bei dem fliegenden, von einem Hunde gezogenen Marketenderkarren stand und kein Auge von der blassen Dame schlug, der hätte leicht darin die Gräfin Marie wiedererkannt, die wir im ersten Bande unseres Buches mit dem heimlich Geliebten zu der Wiege ihres armen verstoßenen Kindes begleiteten.

Eines Jahres Gram und Schmerzen vermögen im glänzenden Sommer des Lebens die Züge noch nicht so zu verändern, daß sie nicht wiederzuerkennen wären – das ist den Herbststürmen aufbehalten!

Plötzlich ließ das Weib die Karre stehen und sprang auf die Dame zu, mit der schmuzigen schwieligen Hand die seidene Robe derselben erfassend und festhaltend, gleich als solle die Beute ihr unter keiner Bedingung entwischen.

»Donnerwetter! – der Teufel soll mich holen, oder dat is ja des gnädige! Madamken von de Jöhre, des Marieken, das ick jepeppelt habe. Se werden mir doch noch kennen, de Müllendorfern aus de Luisenstraße?«

Die Blässe der Dame ging in's Leichenhafte über, als ihr Blick auf das Weib fiel, und ein Schauder überlief ihre Glieder bei der Berührung. Dennoch hatte sie Muth und Fassung genug zu dem leisen Versuch, ihr Kleid loszumachen: »Ich kenne Sie nicht, Frau.«

Das Weib, dem man ansah, daß sie während des Nachmittags ihrem eigenen Verkaufsartikel reichlich zugesprochen hatte, bekam jetzt ein ganz rothes Gesicht, stemmte den Arm in die Seite und schrie, ohne die Dame loszulassen:

»Wat – Sie kennen mir nich, mir, de Müllendorfern, die[227] Ihren Bankert sieben Monate lang jepeppelt? Na, det sollt' mir fehlen! Meenen Sie, ick hätte keene Augen nich? Eenen eenzigen Blick – und ob Sie zehn Schleiers hätten, ick kenne meine Leute wieder.«

Die Geängstigte stammelte:

»Was wollen Sie von mir? – gehen Sie!«

»Aha!« schluchzte das Weib, die in ihrem Rausch jetzt anfing, die Gekränkte zu spielen; »sehen Sie, nu kommt man die Erinnerung. Der arme Wurm, ick hatte ihn so lieb und hätt' ihn niemals nich von mir jejeben, wenn mir nich der Neid anjeschwärzt bei die Polizei von wejen die Jöhre mit die Masern, Sie wissen's schon, da im Korbe, und der Kummissarius mich die Kinder verboten hätte. Aber ich habe noch eene Rechnung für Extra-Milch und Medicin – die Zeiten sind schlecht – Drei Thaler und zehn – nee, zwanzig Iroschens – Ihr Amant war mir wegjeblieben und ick halte mir an Sie!«

Die Dame war mehr todt wie lebendig, fliegende Röthe und Blässe wechselte mit Gedankenschnelle auf ihrem schönen Gesicht, während ihr Auge ängstlich in der Ferne suchte.

»Um Gotteswillen, Frau – ich habe kein Geld bei mir – Sie sollen mehr als das haben, nur machen Sie jetzt kein Aufsehen.«

»Nee, ick kenne die Vornehmen – daruf läßt sich die Müllendorfern nich fangen.«

»Heute Abend – 10 Uhr, am potsdamer Thor links – ich komme bestimmt.«

In dem Augenblick drängte sich der Journalist durch einige Neugierige, die sich bereits um die Scene sammelten, deren Schauplatz zum Glück etwas abseits und durch einen Vorsprung vom Menschenstrom gesondert war.

»Gnädige Gräfin, ich bitte, meinen Schutz zu genehmigen.«

»Befreien Sie mich von dieser Frau, mein Herr – um Gotteswillen – beruhigen, befriedigen Sie sie, oder ich bin verloren! Mein Gemahl kommt ...«

Der Journalist winkte dem Freunde.

»Geben Sie schnell dieser Frau das Geld, was sie verlangt, lieber Koch.«

Er bot der Dame den Arm und führte sie dem herbeikommenden Grafen entgegen.

Dieser war eine große, hagere Gestalt, schon über die Mitte[228] des Lebens hinaus – ein kaltes graues Auge – ein hochmüthiges, etwas abgespanntes Gesicht.

»Was hatten Sie da, meine Liebe? ich sah Sie von Leuten umringt und beeilte mich – dieser Herr ...«

»Dieser Herr,« sagte die Gräfin mit gewaltsamer Fassung, »hat mich aus einer großen Verlegenheit befreit, in die Sie mich durch Ihr Alleinlassen gebracht. Eine unverschämte Bettlerin belästigte und insultirte mich.«

Der Graf verbeugte sich mit süßlich kaltem Lächeln gegen den Zurückgetretenen und griff nach seiner Börse.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden – Sie haben für meine Gemahlin eine Auslage gemacht – darf ich bitten –«

Die Gräfin legte erröthend rasch die Hand auf den Arm ihres Gemahls und der Schriftsteller, dem bereits eine spitzige Antwort auf der Zunge saß, hörte, wie sie ihm das Wort: »die Karte!« zuflüsterte.

»– um Ihren Namen?« beendete der vornehme Herr seine Rede.

Jener nahm schweigend die Karte aus dem Portefeuille und übergab sie mit einer kalten Verbeugung. Der Graf hielt die Lorgnette an's Auge und las den Namen.

»Ah! Herr Walther, es freut mich, bei der Gelegenheit Sie kennen zu lernen, habe von dem Namen viel gehört; gehören ja gewissermaßen zu uns. Ich hoffe, Sie bei mir zu sehen. Leben Sie wohl indeß, mein Lieber.«

Die Gräfin saß bereits in der glänzenden Equipage – ein flehender dankender Blick der schönen Frau traf ihn, während ihr Gemahl einstieg, und deutete dann rasch nach der Gegend, wo sie jenes drohende Weib verlassen hatte. Der Journalist verstand, seine Augen senkten sich zusagend, eine wiederholte Verbeugung und dahin rollte der Wagen.

Als er zurückkam zu der Gruppe um den Marketenderkarren, sah er voll Verdruß und Besorgniß, daß der Winkelconsulent mit dem bleigrauen Gesicht sich herangemacht hatte und mit dem Weibsbild eine Unterhaltung pflog. Sein Hinzutreten scheuchte Jenen zwar hinweg, aber er bemerkte wohl, wie er fortfuhr, sie aus der Ferne zu beobachten, und von dem Freunde erfuhr er, daß der Bleifarbene, während jener dem Weibe fünf Thaler gab, auf die sie ihre offenbar aus der Luft gegriffenen Ansprüche steigerte, unter dem Vorwande, einen Kümmel zu trinken, hinzugetreten war und[229] allerlei neugierige Fragen über ihr Gespräch mit der Dame an sie gerichtet hatte.

»Seine Schurkenseele,« sagte verstimmt der Journalist, »wittert ein Geheimniß, durch dessen Kenntniß er eine Familie bedrohen und im Trüben fischen zu können hofft. Es muß hintertrieben werden.«

»Ich stelle mich gern zu Ihrer Disposition. Die arme Frau that mir in der Seele leid.«

»Gut, so nehme ich Ihre Güte für einen Weg zu Fuß in Anspruch, statt daß wir fahren. Ich kenne zufällig Einiges aus dem Leben jener vornehmen Dame, und dies giebt mir ein trauriges Licht zu der erlebten Scene.«

»Darf ich das Einige wissen?«

»Warum nicht? Sie sind ja fremd hier und vergraben morgen schon die kurze Mittheilung in die weiten Steppen Rußlands. Die Dame ist die Tochter einer unserer ältesten Familien, ihr Vater war ein vielgenannter Staatsmann, aber die Lenkung der öffentlichen Angelegenheiten ließ ihm wenig Zeit, sich um das Vertrauen seines einzigen Kindes zu kümmern. Stolz und Koketterie ließen ihn und die Tochter in der Jugend manche Partie ausschlagen, vielleicht suchte sie auch Besseres, als eine Convenienz-Heirath. Die Jahre vergingen – sie kam darüber in jene, deren Zahl unverheirathete Damen ein Decennium lang nicht überschreiten – sie kam an die Dreißig. Zu dieser Zeit scheint das Herz seine Rechte gefordert zu haben und man flüstert von einer geheimen Liebe mit einem Abenteurer – einem fremden Offizier – der sich einige Zeit hier aufhielt und auf irgend eine Weise Carriere zu machen suchte, nachdem er vergeblich den Liberalismus und die Revolution zur Leitersprosse benutzt hatte. Seiner ehrgeizigen Speculation scheint jetzt eine Chance sich zu bieten – man nennt seinen Namen als Zugabe zum orientalischen Feldzug. Ich kenne das Nähere jener tendre liaison nicht und weiß nicht, wie sie zum Abbruch gekommen, sondern nur, daß die Gräfin im letzten Winter von ihrem Vater genöthigt wurde, ihren jetzigen Gatten, den Typus steifer, hohler Form und geistlosen Hochmuths und ihr an Jahren weit überlegen, zu heirathen. Einen Monat darauf starb ihr Vater, das neue Ehepaar aber ist erst vor zwei oder drei Wochen von seiner Reise zurückgekehrt.«

»Aber das Verhältniß zu jenem Weibe, das doch den untersten Volksklassen angehört?«[230]

»Das, lieber Freund, kann ich vielleicht fürchten, mag ich aber nicht wissen, ehe mir die Kenntniß nicht von anderer Seite aufgedrängt wird. Glauben Sie mir, man lernt in Berlin manche trübe Blicke in das Leben der Familien thun, die allen Schimmer und allen Glanz zum Moder machen und zeigen, wie selten das ›Hemd des Glücklichen‹ zu finden ist. Es ist so viel Schein, so viel Trug und Elend in der großen Stadt, die dort vor uns sich hinstreckt, daß dem scharfen Beobachter bange wird um's Herz, wenn er ein solches hat. Wahre Humanität fehlt.«

»Ich habe stets gehört, daß Berlin eine so große Anzahl wohlthätiger Anstalten und Stiftungen besitzt, wie keine andere protestanische Stadt.«

»Sie haben Recht; die Könige und Königinnen Preußens haben mit offener Hand und weiser Umsicht wahrhaft Erhabenes für die Leiden und unermeßlich mehr geschaffen, als diese Stadt ihnen je gedankt hat, weil sie sich einbildet, vor dem ganzen Lande ein Recht darauf zu haben. Da drüben das Gehölz verhindert uns, eine der erhabensten Stiftungen frommen Wohlthuns zu sehen: Bethanien. Auch die Privatwohlthätigkeit thut unendlich viel und giebt bei allen Gelegenheiten gern und viel. Ich erinnere Sie an den Brand von Hamburg. In neuerer Zeit jedoch fängt an, die Eitelkeit des Gebens überhand zu nehmen. Man beginnt mit zwei gefährlichen Dingen ein böses Spiel, das leicht das wahre Gefühl abstumpfen kann, man macht in ›Wohlthätigkeit‹ und in ›Patriotismus‹, eine Art Annoncen- und Prahlerei-Geschäft gleich den sich überbietenden Kleiderhändler-Affichen. Es ist wahr, der Berliner hat gern zu Allem sein Stück Vergnügen, und wenn er liest: Der große Künstler X.X. wird sich zum Besten der und der Überschwemmten beide Beine abschneiden lassen und dann auf dem Kopf eine Polka tanzen, so steuern Tausende und aber Tausende zu dem guten Zweck höchst neugierig bei. Indeß es ist die Pflicht der Volkserziehung hier, das Ne quid nimis zu halten und namentlich die häufig im Hintergrunde lauernden eigennützigen oder ehrgeizigen Speculationen der Einzelnen zu beschränken, sonst untergräbt das vorhin besprochene christliche Judenthum selbst uns diese beide schönen und ehrenden Gefühle1. Auf der, einen Seite das[231] fortwährende Gift des Liberalismus und Materialismus, auf der andern das Lächerlich- und Widrigmachen – das genügt, um auch den Granit eines im Ganzen noch braven Volkssinnes zu untergraben.«

»Sie sehen finster!«

»Das beiläufig; – es ist traurig, daß man immer wieder auf das politische Feld hinüberschweift, während ich Sie doch blos von socialen Gebrechen unterhalten wollte. Doch dort eben bietet sich mir ein geeignetes Bild zur Rückkehr. Sehen Sie dort die Equipage, den Herrn mit dem starren Aktengesicht und der hochnäsigen, breiten, wohlhäbigen Miene darin, mit Frau und drei Töchtern – alle Toilette von Gerson. Der Geheimerath – es steht zwischen dem Geheimen und dem Rath freilich noch ein Wort in der Mitte, aber es ist in Berlin Styl, hier zu abbreviren, und die Gesellschaft wimmelt von Geheimeräthen und Doctoren (selbst Ihr Ergebenster par courtoisie), gerade wie von Dresden von Baronen, Wien von Herren Von's und die rheinischen Fremdenlisten von Mhlady's! – also der Geheimerath hat ein ganz anständiges Einkommen, gerade so viel wie acht wackere Subalternbeamten in seinem Büreau, und dennoch petitionirt er beim Minister alljährlich um Gratification zur Badereise und Zulage zu Weihnachten, und wo irgend ein Diäten-Extraordinarium in der Luft schwebt, schnappt er es den Untergebenen vor der Nase weg. Dabei lebt der Mann für gewöhnlich zu Hause viel schlechter, als ein Subalternbeamter in der Provinz. Warum? Um im Winter seine Empfangsabende und Soiréen zu geben, bei denen ein jammervoller Thee, ein dünn gestrichenes Butterbrot mit durchsichtigen Schinkenscheiben, ein Punsch oder Cardinal mit zwölf Theilen Wasser und einem Theil Rum oder Wein, aber unendlich viel Toilette, Musik, Gelehrsamkeit, Singakademie und lebenden Bildern gereicht wird; um alle Concerte und Opern mitzumachen, dazu nie die werthe Familie zu Fuß gehen, sondern beim trockensten Wetter vorfahren zu lassen u.s.w. u.s.w. Glücklich und ehrlich, wenn er noch mit den häuslichen Entbehrungen davon kommt und sich nicht auf's Schuldenmachen legt!«

»Die allgemeine Genußsucht ist überall im Steigen«

»Das ist's, was ich sagen wollte. Eine bescheidene Lebensfügung schwindet immer mehr. Ich weiß in der That nicht, wie viele Subalternbeamten- und andere Familien, deren Einkommen[232] man doch ziemlich genau überschlagen kann, in der Gegenwart das Alles mitmachen können, was man sie mitmachen sieht. Die zufriedenen Leute werden immer seltener. Sehen Sie den darauf folgenden eleganten Miethswagen – ein unbekannter ungarischer Jude, der mit sehr gutem Gehalt an der Bühne engagirt zu werden das unverhoffte Glück hatte. Er war noch kein halbes Jahr im Engagement, so hatte er die Unverschämtheit, bei einer Höchsten Person um einen Pump von zweitausend Thalern zu bitten – weil er nicht auskommen konnte! Und nun sehen Sie die Dame in dem nächstfolgenden Wagen, die mit dem pariser Hut, den der Staub der Rennbahn und des Weges an dem einen Tage verdorben, mit dem Kinde auf dem Rücksitz. Ein Kind ist jetzt Mode bei unsern Loretten! Neben ihr die Mutter – die Tochter ernährt sie und sie speculirt bereits darauf, sich von ihrer Tochter einst wieder ernähren und kleiden zu lassen. Pfui über den Schacher mit dem Mädchenleib!«

»Es geht in Paris,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »leichtsinniger und frivoler zu, als hier, aber selbst dort ist die Speculation nicht so raffinirt ausgebildet. Sie werden nie sehen, daß diese Hermaphroditen zwischen Frau und Mädchen Knaben haben – immer wieder Mädchen! Die Schande speculirt in die Zukunft, der Fluch unserer Zeit, die Speculation auch in diesem Genre. Da zwischen dem Wagen durch drängen sich mehrere junge Mädchen – wissen Sie, was sie verdienten, ehe sie das Seidenkleid, das sie tageweise leihen, auf dem Leibe trugen? Drei und vier Silbergroschen in Strohhutfabriken, sechs mit Hemdennähen, denn verhältnißmäßig sehr wenige bringen es zur Selbstständigkeit einer Schneidermamsell mit zehn Silbergroschen täglich und der Kost, – wenn sie Bestellungen haben. Aber jene armen Geschöpfe wollen auch leben mit ihren vier Groschen, – sie wollen Frühstück, Mittag- und Abendessen, sie wollen bekleidet sein und ein Kämmerchen haben, – wo das Alles hernehmen von dem Verdienst? Jedes Dienstmädchen ist besser daran, als diese armen Geschöpfe mit dem warmen Herzen und dem leichten Blute in den Adern. So fallen sie! Es ist ein sehr beachtenswerthes Zeichen für die berliner Mädchenwelt, daß sich selten Eines entschließt, sich in einem jener abscheulichen Häuser als Sclavin zu begraben. Die Meisten auch der Gefallenen arbeiten lange Zeit noch ehrlich während des Tages, und nur der Abend ist die Zeit des Leichtsinns und – des[233] Verderbens. Hier ist der Krebsschaden, auf den ich vorhin deutete, hier sollte mit allen Kräften, allen Mitteln geholfen werden. Je mehr man dem weiblichen Geschlecht ermöglicht, ein ehrliches und züchtiges Mädchen zu bleiben, desto besser wird es mit der Gesellschaft überhaupt stehen.«

»Können Sie es tadeln, daß man zum Beispiel die sogenannten Biermamsells abgeschafft hat?«

»Ja und Nein. Man hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es gab viele Orte hier, die sogenannten Polkakneipen, die schaamloser waren, als das gemeinste Bordell. Die Polizei würde weit wohlthätiger wirken, wenn sie sich weniger mit dem einzelnen Individuum zu schaffen machte, als mit der Beaufsichtigung und Controlle der öffentlichen Vergnügungsanstalten, und die Concessionen dazu nur den moralisch Gewähr leistenden Personen gäbe. Das Überbieten der Wirthe mit unsinnigen Plakaten und Anzeigen fängt bereits an, in gefährlichem Maaße zuzunehmen. Hierbei wäre eine Censur ganz am Ort. Man hätte jene nichtswürdigen Kneipen schließen sollen, die zum Scandal so lange bestanden, man hätte die Wirthe für Zucht und Ordnung mit der Concessionsentziehung verantwortlich machen sollen, wie man doch Buchdrucker und Buchhändler, trotz der Preßfreiheit, damit zu nöthigen weiß. Aber man hat durch jene Maaßregel auch Hunderten von Mädchen die Gelegenheit genommen, auf eine ehrliche Weise ihr Brot zu erwerben. Wenn man nichts Besseres an die Stelle setzen kann, muß man das Mindest-Gefährliche oder Schlechte lassen, das ist einmal eine, wenn auch traurige, doch nothwendige Maxime des gesellschaftlichen Zustandes.«

Sie waren unter diesen Gesprächen – immer in einiger Entfernung hinter dem Marketenderkarren jenes Weibes hergehend und sie beobachtend – über den Berg gekommen, auf dessen Höhe nach Westen das prächtige eiserne Denkmal der neuerschütterten heiligen Alliance steht, zu dem 6. August 1848 die Bauern von Tempelhof her, Choräle singend, mit ihren schwarz-weißen Fahnen zogen, während aus der Metropole bereits sich der lange Zug berliner Gewerke, fliegender Buchhändler, demokratischer Tribunalsräthe und Abgeordneter, der versammelten Lindenclubbs und Zubehör mit allen jenen Harlequinszeichen der berliner Revolution wälzte, um am Fuß des Denkmals preußischer Ehre vom Reformator Held die Huldigung an den Reichsverweser empfehlen zu lassen. Längst schon[234] hatten sie den Mann, dessen Zusammentreffen mit dem Weibe der Journalist eben vermeiden wollte, mit seinem Gefährten in einem Thorwagen an sich vorüberkommen sehen, und Jener glaubte die Gefahr vollends zu beseitigen, indem er am Fuß des Berges, wo der Weg sich rechts und links abzweigt, der Frau nochmals ein Geldgeschenk unter der Bedingung machte, daß sie zu einem der andern Thore ihren Weg nehmen sollte. Die Vorsicht erwies sich bei'm Weitergehen nicht als unnütz, denn die Freunde bemerkten später in einem der zur Seite der Straße liegenden Lokale das spionirende Auge des Consulenten.

Dennoch sollte die Bosheit durch die unglückliche Begünstigung des Zufalls ihr Ziel erreichen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es war schlechtes Wetter geworden bei der Rückkehr von der Rennbahn, und der Abend finster und abwechselnd regnerisch. Es war gegen 10 Uhr, als unter dem Schutz ihrer Schirme in der Nähe des potsdamer Thores zwei Männer umherstrichen, auf die Ankunft des Bahnzugs wartend.

»Sie wollen also bestimmt nicht bei der Zusammenkunft zugegen sein?« fragte der Größere, Elegantere der beiden Männer, in dem man im Licht der städtischen Gaslaterne leicht jenen Gefährten des Winkelconsulenten von der Rennbahn wiedererkennen konnte.

»Warum auch, lieber Freund?« entgegnete der Andere. »Sie wissen, ich verstehe wenig Französisch und die Gegenwart eines. Dritten könnte überhaupt nur geniren. Wir haben es ja ausgemacht, daß ich ganz aus dem Spiel bleibe und Sie nur mit meinem guten Rath und meiner Gesetzkenntniß unterstütze. Ich will weder wissen, was der Inhalt dessen ist, was Sie von der dritten Person erhalten, noch, was Sie damit thun. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Privatgeheimnisse, mit Ausnahme der Beichte und des Arztes, von keinem Gesetz geschützt werden.«

»Sie sind sehr vorsichtig!« sagte der Erste bitter.

»Vorsicht ist die Mutter der Sicherheit; meine Lage ist ziemlich precair und ich habe Familie, Sie aber stehen so gut wie frei und es wäre Thorheit, wenn Sie den Vortheil und die Gelegenheit nicht benutzen wollten. Über einfältige Scrupel sind Männer wie wir doch wohl hinaus. Da tönt das Signal, der Zug kommt eben an, – ich wünsche ein gutes Geschäft und Sie[235] wissen, wo Sie mich bis um 11 Uhr treffen. Nur keine Unvorsichtigkeit vor den Leuten.«

Er ließ den Gefährten, ohne seine Antwort zu erwarten, allein und ging die Straße an der Mauer entlang. Dann aber wandte er sich rasch links nach dem Thiergarten. Er war kaum einige Schritte gegangen, als er vor sich her ein Frauenzimmer gehen sah, das manchmal, wie halbtrunken, einzelne Worte vor sich hinmurmelte. Ein Etwas in der Gestalt schien ihm nicht unbekannt, der Schein der nächsten Straßenlaterne, der auf das rothe gemeine Gesicht fiel, belehrte ihn, daß er das Weib vor sich hatte, das am Nachmittag auf der Rennbahn die Dame attaquirt – im Augenblick übersah er den Zweck des Ganges, und sein schlechtes Herz jubelte über den glücklichen Zufall. Er mäßigte seine Schritte, ging auf die andere Seite des Weges und behielt sie scharf, aber vorsichtig im Auge. So gelang es ihm, an dem Kreuzweg der Bellevue-Allee zeitig genug eine Frauengestalt zu sehen, die dort, tief verhüllt, zu warten schien, und noch ehe das Weib diese erblickte, unbemerkt in den dunklen Gang zur Rechten zu gelangen, wohin er mit teuflischer Schlauheit berechnete, daß sie ihren Weg nehmen würden.

Als nach einer Viertelstunde die beiden Frauen sich trennten, wobei in der Hand der ehemaligen Haltefrau schwer eine Rolle von Thalern blieb, folgte der Lauscher eben so gewandt und schlau der arglosen Dame, die mit einem Dank zu Gott für die glücklich abgewandte Gefahr muthig ihren einsamen Weg durch die dunkelsten Gänge zum Thore wählte.

Die schlimmere, drohendere schlich hinter ihr – die Schlange, welche aus dem Geheimniß ihres freudenlosen Lebens einen Quell der perfidesten Erpressungen machen wollte. Der graue Winkelconsulent rieb sich die Hände. – »Die Politik entläuft mir nicht,« sagte er abgebrochen vor sich hin, »sie sind heute sicher vor mir, hier ist ein besserer und leichterer Gewinn. Aufgepaßt also!« –

Kein schützendes Auge, das diesmal über der armen Frau gewacht hätte, – keine schirmende Hand, die den lauernden Schurken zu Boden geschlagen hätte! – wenige Minuten darauf sah er sie in eines der glänzenden aristokratischen Hotels der Wilhelmsstadt eintreten. – – – – – – – – – – – –

Der Zug von Potsdam war eingetroffen, Droschken und Fußgänger drängten sich durch das Thor. An der ersten der halb[236] verkommenen Bildsäulen zur Linken des Leipziger-Platzes lehnte der Gefährte des Consulenten wartend. Nach wenigen Augenblicken schon kam ein Mann, in den Mantel gehüllt, aus dem Strom der Fremden und wandte sich nach der Stelle, wo Jener stand. Der Ankommende war ein alter Mann, etwa siebenzig, wie sein weißes Haar zeigte, von großer magerer Statur, das Gesicht faltenreich, spitzig und schlau.

Am Briefkasten bei'm Thore hielt er einen Augenblick still, sah sich rasch um und steckte dann schnell zwei Briefe hinein. Die Adresse des Einen lautete an einen britischen Namen in einem der Hauptstationsorte der Bahn nach dem Rhein, und es lag offenbar eine Absicht zum Grunde, daß der Fremde, der von Potsdam kam, den Brief in Berlin zur Post gab. Der zweite Brief war nach Helgoland adressirt. Gleich darauf schaute der Alte sich nach dem Harrenden um, und als er ihn bemerkt, trat er zu ihm.

»Guten Abend, Lieutenant! Sie sehen, ich bin prompt.«

»Bringen Sie Nachrichten?«

»Einige. Lassen Sie uns hier zur Seite gehen nach der Verbindungsbahn, wir sind dort ungestört. Haben Sie die Verhandlung angeknüpft?«

»Es ist geschehen und Alles geordnet; man rechnet auf meine regelmäßigen Mittheilungen. Ich habe mir, wie Sie mich angewiesen, ausdrücklich bedungen, daß man nicht forscht, wie und woher.«

»Und die Bezahlung?«

»Die Frage wird heute noch geordnet werden und gewiß zu Ihrer Zufriedenheit. Was bringen Sie für Berichte?«

»Die Kabinetsordre zur Realisirung der Hälfte der Anleihe ist am 17. unterzeichnet worden. Am selben Tage war Graf Münster von Petersburg in Gumbinnen und hatte eine zweistündige Audienz. Der russische General Grünwald hat ein Handschreiben überbracht.«

»Haben Sie Nichts über den Inhalt erfahren?«

»Noch nicht. Der Kabinetsrath hat unsern Mann mitgenommen und zu schreiben an mich habe ich ihm verboten. Der Andere hat mir heute Morgen jedoch die Abschrift eines früheren Briefes aus Petersburg gebracht, der wichtige Details über die wahren Verluste an der Donau, die Stärke der russischen Truppen bei'm Rückgang über den Pruth und die gegenwärtigen Aufstellungen[237] und disponiblen Mittel in den südlichen Gouvernements in sehr genauen Zahlen enthält. Der Brief ist etwas werth!«

»Geben Sie her – mein Wort! ich werde daraus zu machen suchen, was möglich ist, und Sie sollen redlich Ihre Hälfte erhalten.«

Mit einem habsüchtigen Zögern reichte ihm der Alte einige Papiere.

»Wollen Sie mich nicht vielleicht selbst mit der Person zusammenbringen?«

»Das geht vorläufig unter keinen Umständen, denn ich selbst spreche sie zum ersten Male,« entgegnete der Andere entschieden. »Die Einleitung hat mich viel Mühe gekostet, da man selbst von jener Seite mit großem Mißtrauen verfährt; Sie müssen sich also vorläufig auf meine Ehre verlassen. Ich bekümmere mich nicht um Ihre ursprünglichen Auftraggeber und Ihre kleinen Nebengeschäfte, aber was ich in die Hand genommen, will ich auch selbst durchführen. Sie hatten das Vertrauen zu mir, mich zum Mitwisser zu machen, haben Sie es also auch ferner. Unser Vortheil geht Hand in Hand.«

»Meinetwegen denn – wir werden ja sehen, ob man sich honorig zeigt, und haben die Fortsetzung oder das Abbrechen der Verbindung ja in Händen. Geben Sie sich nur keine Blöße und nennen Sie keine Namen. Noch Eins, wenn man's noch nicht weiß. Der Minister-Präsident wird übermorgen nach Bromberg entgegen reisen. Der Telegraph hat ihn citirt.«

»Meine Ansicht ist, wir geben möglichst wenig Nachrichten über hiesige Vorgänge.«

»Mir recht! Nun adieu, Kamerad, denn ich muß jetzt zur Stadt und mein altes Quartier aufsuchen. Machen Sie gute Geschäfte – wir treffen uns also bestimmt morgen früh um Neun, ehe ich zurückfahre?«

»Bestimmt! Gute Nacht, Lieutenant!«

Die Beiden trennten sich – der Alte ging, nachdem er seinen Gefährten hatte aus dem Thor gehen sehen, die Straße entlang und wandte sich links; der Andere richtete seinen Weg nach dem Thiergarten.

Viele Gedanken schienen ihn zu bestürmen – Zweifel – Bedenken – vielleicht Gewissensbisse. Er blieb wiederholt stehen und murmelte einzelne Worte vor sich hin – – – mehrmals[238] auch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. – Zeigten sich ihm ahnungsvoll die verdienten Schrecken der Zukunft? – sandten giftgeschwängerte Dünste der Sümpfe des glühenden Guyana, die furchtbaren öden Sandküsten des Äquators ihre warnenden Schatten in seine Seele?

»Es ist Nichts,« sagte er leise; »was geht mich Rußland an? mag es seine Geheimnisse selbst wahren! – Es ist nicht mein Vaterlands – ich bin kein Verräther an diesem – es giebt kein Gesetz – ein bloßer Handel, wie jeder andere!« – Er schien entschlossen und wandte sich nach den dunklen Laubgängen.

Auf einer der Steinbänke saß ein Mann, in einen Paletot mit hohem Kragen gehüllt.

»Bon soir, Monsieur!«

»Quelle heure de la nuit

»Les comödies ont finies et le spectacle commence.«

»Ah, le mot! – Je vous attends déja une demi heure.«

Der Rubikon war überschritten.

1

Eine Befürchtung, die leider sich immer mehr nur allzu gegründet zeigt.

Anmerkung des Übersetzers.

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 3, Berlin 1856, S. 215-239.
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