In der Steppe.

[239] Hui! Hui!

»Väterchen, halte Dich gut, mein Liebling! Denke, daß wir in drei Stunden die Station erreichen müssen. Pfui, Brauner, wer wird stolpern, wo der Boden so fest und das Gras so weich ist! Strenge Deine Muskeln und Sehnen an, Närrchen, die gnädige Herrschaft will es, die gnädige Herrschaft zürnt mit dem armen Jämschtschick1, wenn wir vor Nacht die Stanzia nicht erreichen.«

Es war auf der Steppe – gegen Abend, – ein schwüler Abend, der auf die glühende Tageshitze des Juli-Anfangs gefolgt war. Der heiße Sommer lag schon auf der nogaischen Steppe, die sich vom Dniepr bis zum Asowschen Meere hinzieht und den Zugang der Krimm von der Landseite bildet. Zwei Straßen, wenn man die Bahn durch die trockene Wüste so nennen kann, laufen nach dem Eingangspunkt der Landenge von Perekop, welche die[239] taurische Halbinsel mit dem Festland verbindet: westlich von Odessa und Cherson her in der Nähe des Meeres über Aleszki und Kalanczig, – vom Norden, dem Wege von Czarkow und Jekaterinoslaw sich anschließend, die Straße von Berislaw über Czaplynka.

Kennst Du die Steppe? – Nein – Du kennst sie nicht, Leser, diesen Anfang einer großen Zukunft, diese Hoffnung Rußlands im Süden. Die mächtigen weiten Strecken, die sich von den Donaumündungen um den Pontus bis zu den Felsenwänden des Kaukasus hindehnen, auf der Karte wie in der Wirklichkeit nur unterbrochen durch die großen Ströme Don, Dniepr, Bug, Dniestr und wenige Städtenamen; auf den Karten nur bezeichnet durch die Namen: Kosackenlinie, nogaische Steppe, Steppe von Otschakow, Taurien. Unermeßliche Grasfelder unter der schattenlosen Gluth der Sonne, die im Sommer breite Erdspalten in den braunen Boden reißt, über die im Winter der eisige Orkan braust. Weite endlose Ebenen, aus denen sich nur die Mogilen, die geheimnißvollen Grabhügel vergangener Völkerschaften, erheben, – die nur das schilfbedeckte tief eingeschnittene Flußthal der großen Ströme oder der sumpfigen Limans unterbricht, – oder die jähe Regenschlucht, vielleicht das seit Jahrhunderten ausgedörrte Bett eines Nebenstromes.

Das Land der Scythen, – das so lange unbekannte Gebiet, von dem einst die Ströme wilder Barbarenhorden sich über das gesittetere Europa ergossen, nach Süden bis zu den Mauern des goldenen Byzanz, nach Westen bis in die Fluren des sonnigen Italiens und Frankreichs, nach Norden hinauf bis zum blutigen Lechfelde, bis zu den Thürmen Merseburgs, bis zum Felde von Wahlstatt, wo der Sohn der heiligen Hedwig mit seinen Rittern fiel; von dem aus Pugatscheff den Thron der Czaren bedrohte.

Seit Peter der Große das erste russische Kriegsschiff aus dem Don in's Asowsche Meer gleiten ließ, seit Catharina ihren Gemahl am Pruth losgekauft mit ihrem Schmuck aus den Händen der Türken, seit ihre große Nachfolgerin und Namensschwester durch den Frieden von Kainardschi2 die Krimm und das schwarze Meer eroberte, ist Unendliches schon geschehen für diese Länderstrecken. Große Handelsplätze entstanden, wo sonst nur der Tartar seine wilden Rosse getummelt, die Öde der Steppe wurde zum Garten[240] an ihrem Rande, Oasen blühenden und fruchtbaren Landes tauchten auf aus diesem endlosen Gebiet, hervorgerufen durch den Fleiß fremder Colonisten, die religiöse oder politische Unduldsamkeit aus ihrer Heimath vertrieben und die hier Schutz und Reichthum fanden; blühende Militair-Colonieen entstanden, weite Strecken trugen das goldene Korn und die öde Graswüste wurde zur Fruchtkammer des halben Europa's, das an den Molo's von Odessa sein Brot holt.

Dennoch ist es noch immer die Steppe, die sich hier ausdehnt, und alle jene Städte, Gärten und fruchtreichen Colonieen sind eben nur Oasen in der grünen Wüste. Tagelang findet der Reisende, der sie auf der Britschka durchfliegt, nur die einsame Militair-Station, wo er die Pferde wechselt, die aus der Steppe oft meilenweit erst geholt werden, oder die Rasenhütte des Tabunschik3 und selten die freundlich weiße Colonie des deutschen Menoniten.

Die Steppe ist schön in ihrem Frühlingsschmuck, so weit das Auge trägt ein bunter duftiger Teppich von Blumen und Gräsern, von frischen Quellen bewässert, die der Winterschnee genährt hat. Aber es sind nur wenige Monate. Wenn der Sommer kommt, verdorren Blumen und Gräser – die Quellen vertrocknen – der Boden wird zur harten Rinde, von tausend Falten und Rissen durchzogen, die Heerden der mächtigen Rinder, der wilden Rosse und geduldigen Schafe drängen sich zusammen und suchen das letzte trübe Schlammwasser der Cisterne; eine dumpfe, staubige Hitze ruht auf dem braunen Erbreich und die wunderbaren Bilder der Fata Morgana täuschen den verschmachtenden Reisenden.

Denn der Mensch trotzt auch hier der Natur und ihren Schrecken; durch die weite dürre Wüste marschirt die Colonne, die der Wink des Kaisers von weiter Ferne her zum Süden sendet, fliegt der Wagen, der den eilenden Courier, den unermüdlichen Reisenden trägt.

Die Rosse, die der eingeborene Jämschtschik mit Schmeichelworten antrieb, waren vor einen ziemlich eleganten pariser Reisewagen gespannt und zogen ihn rasch über die öde Fläche. Die Reisenden, welche anfangs die Straße von Aleszki am Meere entlang gewählt, hatten dieselbe schon nach dem ersten Drittheil auf den Rath des Postmeisters verlassen, der sie versicherte, daß sie[241] auf keiner Station weiter Pferde bekommen würden, da dieselben für die Regierung in Beschlag genommen, und sie versuchten daher, quer durch die Steppe reisend, die große Straße von Berislaw nach Perekop zu erreichen.

In dem gegen die Hitze fest verschlossenen Wagen saß ein russischer Offizier, den gebrochenen linken Arm in der Binde, und auch am Kopfe Spuren tragend von durch Quetschungen oder einen heftigen Fall erlittenen Verletzungen. Sie waren gewiß nicht im Stande, das hagere Gesicht mit der hoch-kahlen Stirn, dem aufgeworfenen Munde und dem grünlich grauen Auge zu verschönern.

Die Dame war groß und schlank, das Haar cendré, der Teint und das Auge matt und dennoch voll Lüsternheit, das fest geformte Kinn Entschlossenheit ausdrückend.

Sie war voller Ungeduld und Ermattung. Bald brauchte sie heftig den Fächer, bald das Flacon, oder öffnete und schloß das Glas der Wagenthür, ohne auf ihren Nachbar viel Rücksicht zu nehmen.

»Lassen Sie das Fenster ruhen, Celeste,« sagte dieser endlich in französischer Sprache; »Sie verbessern das Übel der Hitze dadurch nicht und lassen unnütz den Staub herein.«

»Abscheulich!« rief die Dame; »nennen Sie das ein Land, in dem man athmen kann, Graf? Was versprachen Sie mir Alles in Bukarest? – den Himmel Italiens oder der Provence, Orangendüfte und die prachtvollsten Scenerieen, und hier sind wir, eingeschlossen in einem Wagen, in einem Meer von Staub und erstickender Hitze, kein menschliches Wesen zu sehen, als höchstens ein Mal des Tages einige Halbwilde und eine Baracke, die Sie ein Posthaus zu nennen belieben.«

»Warten Sie!« sagte der Russe gleichgültig.

»Warten! Geduld!« rief die Französin heftig; »das mögen Sie Ihren Leibeigenen empfehlen, nicht einer Dame. Warum ließen Sie mich denn nicht lieber in Bukarest, wo doch noch ein Schimmer von Civilisation und Gesellschaft herrscht, statt mich solchen Fatiguen auszusetzen?«

»Sie sind unverständig, Celeste. Herr Bibesco, Ihr sogenannter Gemahl ...«

»Mein Herr,« unterbrach ihn heftig die Dame, »keine Beleidigung!«

»Nun, Ihr wirklicher Gemahl,« verbesserte sich spöttisch der[242] Offizier, »sitzt im Gefängniß und wird für seine Correspondenz mit den türkischen Ministern entweder erschossen oder wenigstens über den Pruth mitgenommen werden. Überdies wissen Sie sehr wohl, daß sein Vermögen hin, der Rest mit Ihrer freundlichen Hilfe verschwendet ist und daß Sie von seiner Familie Nichts zu erwarten haben. Als ich nach meiner Verwundung beim Sturm auf Silistria – der Teufel gesegne es dem französischen Schurken! – in Ihr Haus nach Bukarest gebracht wurde und Sie die Güte hatten, sich meiner körperlichen und – Herzenspflege anzunehmen, wofür ich Ihnen dankbar die Hand küsse, waren die Verhältnisse zwar noch nicht zum Eclat gekommen, indeß geschah es doch bald darauf, und ich glaube, ich war damals Ihre Hauptstütze.«

»Man hat es mir bitter zum Vorwurf gemacht.«

»Bah! – ich weiß es, daß der größere Theil der Bojaren gerade nicht sehr russisch gesinnt ist, aber ich wiederhole Ihnen, von der Familie Ihres Gatten hätten Sie ohnehin wenig zu erwarten gehabt, und Sie hätten mit Ihren Eroberungen, an deren Erfolg ich keineswegs zweifeln will, von vorn beginnen müssen. Unter diesen Umständen konnte der Vorschlag, meine Begleiterin und Freundin zu sein, als ich zur Erholung von meinen Verletzungen einige Monate Ruhe oder wenigstens leichten Dienst in dem schönen Klima der taurischen Küste genießen sollte, Sie nur verschiedenen Verlegenheiten entreißen.«

»Ihr Antrag war nicht der einzige, Graf, ich hatte die Wahl,« sagte die Dame mit jenem schaamlosen Hochmuth der pariser demi monde, der aus solchen Verhältnissen ein gesellschaftliches Recht macht.

»Ich weiß das, schöne Celeste,« erwiederte der Russe halb galant, halb apathisch, »und daß Sie mir den Vorzug gaben, ist mir sehr schmeichelhaft. Aber Sie müssen sich doch auch in das Unvermeidliche fügen. Der Weg, den wir gezwungen sind zu machen, hat allerdings sein Unangenehmes und seine Beschwerden, namentlich für Damen. Aber sie sind unvermeidlich, um an unser Ziel zu gelangen, da der Seeweg für die Dampfboote gesperrt ist.«

»Warum haben Sie uns dann nicht wenigstens den Weg an der Küste fortsetzen lassen?« beharrte die Dame eigensinnig. »Ich hätte dort doch weniger von der Hitze und dem Staub zu leiden gehabt, auch sollen die Stationen zahlreicher sein, als in dieser Wüste.«[243]

»Sie haben selbst in Kostogrysowo gehört, Celeste, daß auf der ganzen Tour keine Pferde mehr zu haben waren und daß auch die Reisenden, – gleichfalls eine Dame, – die eine Stunde vor uns abgefahren sind, vorgezogen hätten, die Hauptstraße zu erreichen. Noch einige Stunden, und wir sind auf der Station und werden die Nacht dort zubringen.«

»Es dunkelt bereits,« sagte furchtsam die Dame; »sehen Sie dort drüben die düstre Wolke, die so rasch am Horizont emporgestiegen ist? Diese öde Gegend ist doch sicher?«

»Bah! – Es lebt des Gesindels genug hier, denn alle entlaufenen Leibeigenen flüchten in die Steppen und alle Verbrecher lassen sich hier nieder, weil Niemand frägt, wer und woher? Aber selten finden sich hier Leute genug zusammen, um eine Gefahr besorgen zu lassen. Doch – die Wolke da drüben ist seltsam – die Sonne muß noch hoch über dem Horizont stehen und dennoch ist kein Schein mehr zu sehen – Skotina4! warum hält der Wagen? was ist's mit den Jämschtschiks, Ossip?«

Er hatte das Fenster geöffnet und fragte den auf dem Bock neben dem einen Postillon sitzenden Leibdiener.

»Dort hält ein Wagen, Erlaucht, die Telege, die uns vorangegangen ist, aber mehrere Reiter sind um sie her.«

»Paschol! Vorwärts, Tölpel – die Leute haben vielleicht ein Unglück gehabt – je eher wir hinkommen, desto eher werden wir es erfahren.«

Der Wagen, aus dem man die etwa anderthalb Werst noch entfernte Gruppe am Rande der immer tiefer und näher sich senkenden Wolke bemerkt hatte, rasselte auf's Neue über das dürre Erdreich – aber die Pferde schienen wild und unruhig und wurden es mit jedem Augenblicke mehr. Auch die Postillone schien eine bestimmte Besorgniß zu erfassen, sie riefen sich in tatarischem Idiom mehrfach zu und fuhren sichtbar nur mit Widerwillen weiter.

Um sie her schien sich jetzt die Steppe zu beleben. Die zierlichen Gestalten der Erdhasen huschten an ihnen vorüber oder suchten ihre Löcher. Zwei große Trappen mit erhobenen Flügeln und vorgestreckten Köpfen rannten scheu an ihnen vorüber, hoch aus der Luft tönte das scharfe Geschrei eines Adlers, der über ihnen weite[244] Kreise zog und sich über die immer näher und näher kommende Wolke empor zu schwingen schien.

Wiederum, etwa noch einen starken halben Werst von jener Gruppe entfernt, hielt der Wagen. Schon seit einigen Augenblicken hatte ein leises eigenthümliches Summen und Schwirren in der Luft begonnen. Die Räder schienen über weiches knirschendes Gras zu gehen, das halb verdorrte Gestrüpp der weiten Steppe schien sich, obschon kein Lufthauch zu spüren war, zu regen und lebendig zu werden.

»Was giebt's?«

»Erlaucht,« sagte der nächste Jämschtschik, »möge der heilige Iwan Dich segnen – aber es sind die Heuschrecken!«

»Tscherti tjebie by wsiali! was geh'n die Heuschrecken uns an? – vorwärts!«

Nur Einer, der diese furchtbare Landesplage noch nie in der Nähe gesehen, konnte so sprechen, und noch ehe die Equipage jene Gruppe erreicht hatte, wurde der Oberst inne, daß er sich hier in ein Übel gestürzt, das keine Macht und nur Geduld zu beseitigen vermochte.

Nicht Tausende, sondern Millionen und aber Millionen dieser widrigen seltsamen Insekten füllten den Boden und schwirrten zum Theil durch die Luft; dennoch bildeten diese Massen offenbar nur die Flanke des fliegenden Stromes, denn wie die Reisenden jetzt deutlich bemerkten, bestand die große Wolke, die nun massiv an ihrer Seite hing, die Strahlen der sinkenden Sonne gänzlich verbergend und zu Anfang von ihnen für eine Wetterwolke gehalten, nur aus Myriaden ziehender Heuschrecken.

Sie waren jetzt dicht an der früher bemerkten Gruppe und die Jämschtschiks hielten zum dritten Male an, diesmal offenbar mit dem Willen, nicht weiter zu fahren. Die Pferde schnoben und schlugen um sich her und waren kaum zu bändigen. Der Oberst, um nicht genöthigt zu sein, die Scheiben länger geöffnet zu halten, öffnete auf der dem Anzuge der Insekten entgegengesetzten Seite die Thür für einen Augenblick und sprang heraus. Sein Fuß zertrat mit jedem Schritt Hunderte des Gewürms und er stand sofort bis an die Knöchel in dem widerlichen Strom.

Vor ihm hielt eine halb offene, aber durch einen ausgespannten Leinenschirm vor den Sonnenstrahlen geschützte und möglichst bequem eingerichtete Telege, in der zwei Damen saßen, die Eine[245] jung, zart und schön, offenbar den vornehmen Ständen angehörend, die Andere anscheinend die Zofe, Beide eifrig beschäftigt, sich von dem Gewürm möglichst frei zu halten, welches, theils durch die Luft fliegend, theils an den Rädern emporkriechend, den Wagen, die Kleider, ja Hände und Gesicht der Reisenden bedeckte. Zur Seite des Wagens, dessen Bespannung verschwunden war, stand ein kräftiger Mann in der Halblivree eines Jägers, ohne auf sich zu achten, bemüht, die junge Dame vor der lästigen Plage zu schützen, die sie übrigens mit großer Fassung ertrug.

Um die Telege hielten auf ihren kleinen mit Feldgepäck belasteten Pferden ruhig fünf Kosacken, deren Kleidung und Ausrüstung zeigte, daß sie nicht zu den regulairen Truppen, sondern zu den freien Contingenten gehörten, welche die nomadisirenden oder Steppenvölkerschaften stellen. Vier waren noch jung, der Fünfte jedoch ein Greis von riesiger Figur, das braune asiatische Gesicht von Narben und Furchen durchzogen und mit einem Auge – das zweite war durch eine quer über das ganze Gesicht laufende und dasselbe spaltende Wunde verletzt und geschlossen – versehen, das wie ein Feuerstrahl unter den buschigen weißen Augenbrauen funkelte. Langes weißes Haar und ein eben solcher Bart faßten sein durch die große Narbe wirklich Furcht erregendes Antlitz ein. Bei einer Bewegung des Greises, die seinen grauen Militair-Mantel öffnete, sah der Graf, daß er unter diesem eine alte mit drei oder vier Orden und Medaillen dekorirte Uniform trug. Alle Kosacken rauchten, wie die Jämschtschiks, aus kurzen Pfeifen einen eben nicht sehr duftigen Taback, der jedoch den Vortheil hatte, das fliegende Gewürm wenigstens von ihrem Gesicht abzuhalten; um das Andere kümmerten sie sich wenig.

Das Alles hatte der Graf mit einem Blicke aufgefaßt; denn die zwar keineswegs wirkliche Gefahr mit sich führende, ja halb lächerliche, aber um so widrigere Lage erlaubte kein langes Besinnen. Indem er an die Telege trat, sagte er höflich:

»Ich bin der Oberst Graf Wassilkowitsch und ein Reisender durch die Steppe gleich Ihnen. Sie scheinen sich jedoch in einer noch schlimmeren Lage als wir zu befinden, und ich erlaube mir die Frage, in wiefern ich Ihnen nützlich sein kann?«

Ehe noch die Dame antworten konnte, nahm der Jäger das Wort:

»Unsern Dank, gnädiger Herr! – die Gräfin Wanda Zerbona[246] ist meiner Fürsorge anvertraut und auf dem Wege nach der Krimm, um von Kertsch aus ihre Verwandtin, die Fürstin Tscheftzawade im Kaukasus, zu erreichen. Die Halunken von Postillons haben, als die Heuschrecken nahten, die Stränge abgeschnitten und sind auf- und davongeritten.«

»Wie kommen diese Kosacken hierher?«

»Die braven Leute sind uns begegnet und auf unsere Bitten und das Versprechen einer Belohnung bei uns geblieben. Wir befinden uns bereits fast eine Stunde in dieser unangenehmen Lage.«

Der Oberst wandte sich zu dem alten Kosacken.

»Wer bist Du?«

»Iwan, der Steppenteufel, Batuschka!«

»Skotina! – Woher Du kommst? ob Du Soldat bist?«

»Zweiundfünfzig Jahre war ich's, Väterchen, theils für den Czar, theils auf eigene Hand. Der Czar ist mir gnädig gewesen, ich bin der Ataman meines Stammes.«

Er wies auf die Dekorationen seiner Brust.

»Bist Du hier zu Hause? – sprich rasch!«

Der alte Kosack lachte, wenn das Grinsen dieses verwitterten Gesichts ein Lächeln zu nennen war.

»Die heilige Mutter von Kasan beschütze Dich. Ich bin kein Tatar, sondern ein ehrlicher Kosack vom Don. Das sind meine Enkel, und zwei habe ich fortgeschickt, die spitzbübischen Jämschtschiks für diese armen Leute zurückzuholen. Wir hörten, daß der Czar im Süden Soldaten brauche und da sind wir.«

Der Offizier sah, daß er von dieser Seite keine Auskunft erhalten könne, er wurde aber in den weiteren Nachforschungen durch seine Begleiterin unterbrochen, die mit weiblichem Takt und Theilnahme ihm zurief, die fremde Dame in ihren Wagen bringen zu lassen, der mehr Schutz gegen die Belästigung gewährte, als die offene Telege. Das geschah augenblicklich durch den Jäger Bogislaw und den Diener des Grafen.

»Wie weit sind wir hier noch von der großen Straße entfernt, oder ist irgend ein Ort in der Nähe, wo wir Schutz vor diesem abscheulichen Gewürm finden können?«

»Die Straße ist noch fünfzehn Werste entfernt, Erlaucht,« sagte der älteste Postillon, »und die Stanzia5 noch weiter. Aber[247] auf der Hälfte des Weges zur Rechten ab liegt eine Colonie der Frommen.«

»Wahrscheinlich Menoniten,« erläuterte Bogislaw.

»Zum Henker! mögen sie sein, wer sie wollen, wir müssen sie zu erreichen suchen. Wir müssen den Strom dieser Armee von Heuschrecken durchbrechen, denn umzukehren würde nunmehr Nichts nützen. Bringt rasch die werthvollsten Sachen aus der Telege nach meinem Wagen und dann müssen zwei von Euch den Mann hier und das Mädchen zu sich auf die Pferde nehmen, denn im Wagen ist kein Platz.«

»Unser Gepäck ist vorausgesandt, wir sind fertig.«

»Desto besser – die Sache wird unerträglich. Zehn Rubel Jedem von Euch Trinkgeld, wenn Ihr uns glücklich durch diese Wolke von Gewürm bringt.«

Er sprang in den Wagen zurück.

Der Jäger hatte die sich sträubende Zofe beruhigt und, den Plan des Grafen verbessernd, zu Ossip auf den Kutschbock gehoben, während der Jämschtschik, der diesen Platz bisher eingenommen, sich auf das linke Pferd des hinteren Dreigespanns schwang und Bogislaw selbst das rechte Seitenpferd bestieg.

»Vorwärts, Kamerad,« rief er dem alten Kosacken zu, – »es bleibt bei der Belohnung. Brich uns die Bahn.«

Der Alte pfiff seinen Enkeln. Fest aneinander jagten die fünf Reiter in die dunkle Wolke von Gewürm hinein, die Jämschtschiks gaben ihren Pferden den Kantschuh und zwangen die sich bäumenden und schnaubenden Thiere, im Galopp den Reitern zu folgen.

Einige Minuten lang vernahm man Nichts als das Schnauben der Thiere und das weiche zermalmende Knirschen der Räder, denn selbst der ermunternde Zuruf der Männer war verstummt, weil jedes Öffnen des Mundes diesen sofort mit den eklen Geschöpfen gefüllt hätte.

Ringsum war die Luft von ihnen verdichtet, der Boden mehrere Zoll hoch bedeckt – jedes Gestrüpp, jeder Halm, auf den sie niederfielen, war im Nu verzehrt und auf ihrem Wege durch's Land die öde Steppe in wenig Augenblicken noch öder geworden.

Wenn die Gluth des Sommers kommt und die Sonnenstrahlen heiß und giftige Dämpfe entwickelnd auf die sumpfigen Gegenden fallen, dann erheben sich aus den endlosen Morästen der Dobrudscha die Myriaden jener häßlichen Insekten und nehmen, gleich[248] Gewitterwolken vom Winde getrieben, ihren Weg nach dem Süden oder über das schwarze Meer hinüber nach Bessarabien und der Krimm und ziehen oft weit hinein in die Steppen des südlichen Rußlands. Millionen und aber Millionen dieser Geschöpfe verschlingt das Meer, – doch was ist das in der Menge – wo sie niederfallen, da sind sie dichter wie die Tropfen des Regens, verwüstender wie der gewaltige Orkan, und nur selten vermag der Mensch mit allem seinem Witz seine Ernte gegen sie zu schützen.

Die Glieder der Pferde, die Räder, der ganze Bau des Wagens, die Körper der Reiter waren mit den Insekten bedeckt, die selbst die Stoffe der Kleider anfraßen. Das Mädchen und der Diener des Obersten hatten ihre Köpfe, so gut es ging, in Tücher verhüllt und ließen alsdann den kriechenden Strom über sich ergehen. Selbst die in der durch Glasscheiben geschlossenen Kutsche Sitzenden litten außer der drückenden widrigen Atmosphäre von dem Gewürm, denn Hunderte waren bei dem Öffnen eingedrungen und krochen durch alle Ritzen zu, so daß sie fortwährend in einem Kampf bleiben mußten. Die Französin war fast ohnmächtig, nur Gräfin Wanda unterwarf sich ruhig und thätig dem überkommenen Mißgeschicke.

Der Zug hatte sich geradezu in den Strom der Heuschrecken geworfen, um ihn an seiner schmalen Seite zu durchbrechen. Die Eingeborenen wußten, daß er auch hier wohl eine Viertelmeile breit, aber gewiß das Doppelte und Dreifache lang sein konnte. Man war bereits ziemlich weit gekommen, als ein Augenblick wirklicher Gefahr zu drohen schien. Der Zug der Heuschrecken veränderte aus einer noch unbekannten Ursache plötzlich seine Richtung und erhob sich; das Tageslicht, ohnehin schon geschwächt durch den sinkenden Abend, schien auf Minuten lang gänzlich verfinstert, denn die Luft umher war buchstäblich gefüllt mit schwirrenden fliegenden Insekten, die Pferde, die anfangs schnaubend und wild sich in dem Schwarm geberdet, standen nunmehr zitternd und ruhig, und selbst die Männer der Steppe hatten jetzt, so gut es ging, ihren Kopf verhüllt und überließen sich gleichgültig dem Kommenden.

Selbst das Athmen wurde immer schwieriger – die französische Dame im Innern des Wagens war leichenblaß vor Furcht und Erschöpfung.

»O, dieses verwünschte Land – Wasser, Wasser! – ich ersticke!« –[249]

Zum Glück dauerte dieser Zustand nur wenige Minuten. Wir haben bereits bemerkt, daß ein den Reisenden noch unbekannter äußerer Einfluß auf den Zug der Insekten einzuwirken schien. Sie erhoben und drängten sich immer mehr und erhielten eine Eile, die ihnen nicht erlaubte, sich an Gegenstände zu hängen. Nach kurzer Zeit wurde es lichter, das Gewirre in der Luft umher hörte auf und Menschen und Thiere vermochten freier zu athmen.

Das erste Geschäft, was Alle vornahmen, gleichgültig gegen alle sonstigen Beobachtungen, war natürlich, sich von den Überresten des widrigen Abenteuers zu reinigen, und die Nüstern und Ohren der Pferde von einzelnen zurückgebliebenen Insekten zu befreien. Die Jämschtschiks mit dem Jäger waren eifrig damit beschäftigt, denn sie wußten, daß jetzt die Pferde, nachdem ihre Angst überstanden, durch das kleinere Übel scheu und unbändig gemacht werden konnten.

Die Gesellschaft im Wagen war jetzt auch im Stande gewesen, die Fenster niederzulassen, um frische Luft zu schöpfen. Die Postillone saßen auf und waren bereit, auf's Neue davon zu fahren, doch zögerten sie noch einige Augenblicke, da sie unschlüssig schienen, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten.

Die Aussicht war nämlich, obschon der furchtbare Schwarm sich immer mehr und immer rascher verlor, noch immer gesperrt. Eine graubraune Wolkenwand schien den ganzen Horizont zu bedecken und die Sonnenhitze des Mittags auf's Neue mit sich zu bringen. Die Reisenden befanden sich eingeschlossen wie in einem Thale, ohne selbst die Richtung der Himmelsgegenden beurtheilen zu können.

»Diese Thiere scheinen einen widrigen brandigen Geruch zurückzulassen,« sagte die junge Gräfin; »es ist noch immer so schwül und drückend. Bedienen Sie sich meines Flacons, Madame!«

Der Oberst, ohne sich um die Frauen viel zu kümmern, lehnte aus dem Fenster.

»Was soll das Zaudern? Vorwärts, Tölpel! – Was soll's?«

Die letzte Frage war an den alten Kosacken und den Jäger Bogislaw gerichtet, die nach einer kurzen Besprechung auf den Wagen zukamen.

»Väterchen,« sagte der Kosack mit jener, den gemeinen Russen so eigenthümlichen Manier, einer directen Antwort auszuweichen,[250] – »die Heiligen haben Dich und die Frauen zu keiner guten Stunde die Reise antreten lassen.«

»Um es kurz zu machen, Herr Graf,« fiel der entschlossene Jäger ein, – »denn die Augenblicke sind kostbar – diese mit dem Lande vertrauten Leute meinen, es drohe uns eine größere Gefahr, als die vergangene: die Steppe stehe in Brand!«

Die beiden Damen hatten zum Glück die russisch gesprochene Meldung nicht verstanden, doch sahen sie an dem Zurückfahren des Obersten, an der Blässe, die unwillkürlich sein Gesicht überzog, daß eine große Gefahr im Anzuge sein mußte, und die verwöhnte pariser Lorette, die entführte Bojarendame, faßte laut aufschreiend seinen Arm.

»Mein Himmel! Graf, was giebt es? was spricht der Mann? ich will es wissen!«

Der Oberst machte sich ungestüm frei.

»Zum Henker, Madame! das ist kein Augenblick für Ihre Narrheiten. Unser Leben steht auf dem Spiel. – Woraus schließest Du das?«

Der Jäger wies auf die Wolkenwand ringsum, die immer dichter emporstieg und in der einzelne hellweiße Wolken emporzukräuseln schienen. Ruhig hielt der alte Kosack an der Seite des Wagens, während seine Enkel beschäftigt waren, den Jämschtschiks im Bändigen und Festhalten der fünf Pferde zu helfen.

»Athmen der Herr Graf nur die Luft, die Sinne werden Sie bereits überzeugen.«

In der That wurde der brandige Geruch immer schärfer, die Schwüle immer drückender.

»Wie ist das Feuer entstanden – woher kommt es?«

»Gott weiß es! – Die Colonisten oder Hirten haben es wahrscheinlich zum Schutz vor den Heuschrecken angezündet. Ich muß gestehen, daß ich selbst rathlos bin, da ich nicht einmal die Richtung des Himmels anzugeben vermag. Euer Erlaucht würden am besten thun, diesem alten Mann zu vertrauen.«

Der Oberst wandte sich zu diesem:

»Du siehst, daß ich Stabsoffizier bin und daß es Deine Pflicht ist, mir zu gehorchen. Wo ist die Gefahr für uns?«

Der Alte deutete ruhig ringsum im Kreise.

»Überall? – Sollen wir umkehren?«

Der Kosack schüttelte mit dem Kopfe.[251]

»Es nützt Nichts, Väterchen. Unter den Heuschrecken würdest Du desto schneller verbrennen.«

»Weißt Du einen Ausweg – kannst Du uns führen, uns retten? denn ich hoffe, Du wirst uns nicht verlassen.«

»Nein, Väterchen, Iwan wird bei Dir ausharren. Du bist ein vornehmer Herr, aber Du verstehst Nichts von der Steppe. Willst Du mir die Anordnung überlassen?«

»Es sei! Hundert Rubel für Dich und Jeden der Deinen, wenn Du uns rettest.«

Der Alte hielt sich, nachdem er auf diese Weise das Recht, zu befehlen, erlangt hatte, mit einer Erwiederung nicht auf, sondern wandte sich sofort an seine Enkel:

»Wanka, jag' dem Feuer entgegen und sieh', welche Richtung es nimmt. Alexei Petrowitsch, fort, nach Mittag zu und schau', ob dort ein Ausweg. Olis, mein Liebling, wende Dich gegen Abend. Möge der heilige Iwan über Euch sein, Ihr hört unser Pulver. Fort!«

Die drei jungen Kosacken sprengten nach verschiedenen Richtungen in die Wolkenwand hinein.

Während der Alte mit dem seltsamen6 Namen dem Jäger Bogislaw, den er rasch als den Thätigsten und Geeignetsten der ganzen Gesellschaft erkannt, einige Instructionen gab, deren Inhalt sich bald dadurch zeigte, daß Bogislaw von Zeit zu Zeit eine Pistole in die Luft schoß und wieder lud, – suchte der Graf die Damen zu beruhigen, denen die Natur der Gefahr längst nicht mehr verborgen war. Celeste war außer sich, bald weinte sie zaghaft, bald stieß sie mit französischem Wortschwall die bittersten Vorwürfe gegen ihren Beschützer aus, bald wieder bat und flehte sie, daß man die Pferde antreiben und dem Feuer entfliehen möge. Auch der Oberst war mehrere Male im Begriff, den Befehl zu geben, die Rosse, die nur mit größter Mühe festgehalten werden konnten, loszulassen, doch gab ihm ein Blick auf die ruhige Haltung des Kosacken und die Überlegung die Überzeugung, daß man der Erfahrung und dem Instinkt des greifen Eingebornen der Steppen am besten vertrauen und jede Anordnung überlassen werde.

Die Hitze war fortwährend gestiegen, die umgebenden Rauchwolken begannen bereits eine röthliche Farbe anzunehmen. Durch[252] den Wolkennebel hatten sie häufig dunkle Gestalten in vollem Lauf vorüberhuschen sehen – die Wölfe, die wilden Hunde und anderes Gethier der Steppe – aus der Luft herab hörten sie das ängstlich kreischende Geschrei großer Schwärme wilder Enten und anderer Wasservögel, die von der Gluth aufgescheucht, hoch über dem Brand weg zu ihren sumpfigen Nestern eilten. Die Minuten, die sie in der quälenden Ungewißheit zubrachten, schienen Stunden.

Der Kosack Wanka war der Erste, der im vollen Carriere seines kleinen zottigen Pferdes, dem Mähne und Hufhaar verbrannt waren, zurückkam.

»Fort, Djeduschka, – das Feuer ist hinter mir – kaum drei Werste entfernt und nimmt die Richtung hierher.«

»Haltet die Pferde bereit, Lieblings! Schließ' die Fenster Deiner Karosse, Väterchen. – Auf!«

Aus dem Nebel zur Rechten jagte Alexei Petrowitsch.

»Hierher! hierher! es ist eine Lücke in der Wand von Rauch und der Boden nur von den Heuschrecken verwüstet.«

»Schießt Eure Pistolen zusammen los, daß Olis uns hört. Der heilige Andreas schütze den Jungen! Feuer! – Und nun vorwärts, dort hinein!«

Die Pferde wurden zur Seite gerissen und im Galopp jagte die Kutsche, von den Reitern umgeben, in die Rauchwand – von Zeit zu Zeit feuerte der wackere Jäger noch einen Schuß ab.

Der Wagen war etwa zweihundert Schritt vorgedrungen, als die Dunst- und Wolkenwand sich lichtete und sie in eine verhältnißmäßig freie Atmosphäre kamen. Es zeigte sich, daß ein leiser Luftzug die Dampfwolken vor sich her trieb und die klare, helle Gluth schlug zu ihrer Linken in die Höhe und knisterte über die weite Ebene.

Die Rosse jagten wie toll über die Fläche und rissen den Wagen in wilden Sprüngen über die Risse und Unebenheiten des Bodens. Züngelnd liefen die Flammen über diesen, wenn auch der Luftstrom sie in bestimmter Richtung vorwärts trieb, und an vielen Stellen jagten geradezu die Pferde durch die bereits emporschlagende Lohe.

Celeste lag ohnmächtig im Wagen, die Gräfin athmete schwer, das Gesicht an das Wagenfenster gepreßt, dessen Scheiben in der Gluth bereits zersprungen waren, während der Graf mit finsterer Entschlossenheit die schreckliche Scene beobachtete.[253]

Plötzlich sperrte ein breiter Erdspalt die Fahrt und die Postillone hielten still. Der vordere Jämschtschik sprang sogleich aus dem Sattel und begann die Stränge seiner zwei Pferde zu lösen.

»Was thust Du, Canaille?«

»Wo der Tod uns vor Augen, hast Du uns Nichts zu befehlen, Väterchen. Diese Pferde hindern nur den Wagen, die Heiligen werden uns durchhelfen, wenn wir allein sind!«

»Sukiensyn!« – Eine Pistolenkugel pfiff dicht am Ohr des ungehorsamen Postillons vorüber.

»Gnade, Excellenz, ich bin Dein gehorsamer Knecht!«

»Den Ersten, der uns zu verlassen wagt,« schrie der Oberst durch das geöffnete Fenster, »schieße ich nieder! Iwan – wo bist Du?«

»Hier, Erlaucht,« entgegnete der alte Kosack, »ich untersuchte die Erdspalte. Wiederholt das Schießen! Pascholl!«

Wiederum donnerte der Wagen davon, rechts und links von ihnen schlugen am Gestrüpp die Flammen bereits in die Höhe – die Fesseln, die Mähnen, die Schweise der Rosse waren abgesengt, kaum noch vermochten die Menschen zu athmen.

»Heilige Mutter Gottes, vergieb mir Sünderin!« jammerte Celeste in der Angst des Todes. »Das ist die Strafe dafür, daß ich die arme Nini um ihr Eigenthum bestohlen, welches mir der Russe gab, daß ich nun mit diesem Manne so elend verderben muß.«

Gräfin Wanda hatte die Hände gefaltet, sie betete still – vor ihrer Seele stand in dieser letzten Stunde das Bild des jungen Tschetschenzen-Offiziers, des Imams Sohn, der einst mit ihr die ähnliche Stunde der Todesnoth getheilt.

Heilige Mutter von Kasan! – das war ein Schuß aus der Ferne, ein Signal, das nicht von den Männern um die dahin fliegende Equipage kam!

»Kuli! Kuli! Olis – hierher!« donnerte die Stimme des alten Atamans.

Ein zweiter Schuß –

Dann brach aus der Rauchwand vor ihnen ein kleiner Reitertrupp, fünf Männer zu Pferde: zwei junge russische Offiziere und ein älterer Mann in braunem langschößigem Rock, die weiße weite Halsbinde trotz der Hitze sorgfältig um den Hals geknüpft, einen dreieckigen Hut von altmodischer Façon auf dem, mit langem schlichtem Haar umgebenen Kopf. Mit ihnen zwei Kosacken.[254]

»Zu Hilfe! zu Hilfe! Hierher!« schrie der Oberst – im nächsten Augenblick waren die beiden Offiziere am Wagen – –

Ein gellender Schrei erscholl aus diesem.

»Da ist er! da ist er! Vergebung, Fürst, einer Sterbenden! ich ließ sie im Elend!«

»Schorte wos mi! Fürst Iwan Oczakoff, Sie in dieser Höllengluth?«

»Oberst Wassilkowitsch, so wahr ich lebe! Wir wagten uns in die Gefahr, um eine Dame zu retten.«

»Sie ist hier – doch sprechen Sie rasch, giebt es einen Ausweg aus dieser Höllengluth, die uns lebendig röstet?«

»Für den Wagen schwerlich. Hesekiah, wissen Sie Rath und Hilfe?«

Der Menonit wandte sich zu ihm.

»Es muß ein Tabun hier in der Nähe sein, ich kenne den Tabuntschik, obschon er ein finsterer, menschenscheuer Greis ist. Aber es ist unmöglich, mich in diesem Rauch zu orientiren und es giebt hier überall gefährliche Erdspalten.«

»Halt!« schrie der Kosack – »still, Väterchen, so lieb Euch Euer Leben ist, ich höre einen Ton – ein Signal!«

Die Jämschtschiks hatten auf einer vom Feuer noch nicht erfaßten Stelle die Pferde angehalten. Alle lauschten gespannt, einige Augenblicke lang war Nichts zu hören, wie das Knistern und Zischen der Flammen, die fast ringsum empor schlugen – dann klang es erst leise und immer lauter, wie der Ton einer metallenen Glocke, – bald war eine Täuschung unmöglich.

»Das ist die Glocke des Tabuns für die Heerden,« sagte ruhig der Menonit, – »Gott vergebe es mir, daß ich dem Manne kaum diese Menschenfreundlichkeit zugetraut habe. Der Herr ist mit uns – wir dürfen nur dem Schall der Glocke folgen, doch rathe ich Dir, Freund Offizier, die beiden Gespanne zu trennen. Diese Frauen werden sicherer fahren mit der Troika.«

Der Rath war bei der rissigen Beschaffenheit des Bodens zu gut, um nicht befolgt zu werden. Im Nu waren die Stränge der zwei Vorderpferde vom Jäger Bogislaw und den Kosacken abgeschnitten, und der Erstere befahl dem Jämschtschik, voran zu reiten nach dem Schall der Glocke, um zugleich den Zustand des Weges zu prüfen. Die Todesgefahr war so groß, daß der junge Postillon, kaum die Möglichkeit der Rettung vor sich sehend,[255] und von der drohenden Pistole des Obersten befreit, wie blind und toll davonjagte. Hinter ihm her flog, von den Reitern umgeben, der Wagen durch Rauch und Flammen.

»Links! links, Freund! so lieb Dir Dein Leben ist!« schrie der junge Menonit, während schon näher und näher der Schall der Glocke erklang und sie bereits den Zuruf einer menschlichen Stimme zu hören vermochten.

Es war zu spät –

Ein wilder, furchtbarer Schrei des Entsetzens – und vor ihren Augen verschwanden im Nebel und Rauch, kaum zehn oder fünfzehn Schritt vor ihnen, die Gestalten des Jämschtschiks und seiner zwei Pferde, wie von der Erde verschlungen.

»Links! links! Gott sei Seele und Leib gnädig!«

Der Menonit hatte sich mit seinem Pferde quer vor das Gespann geworfen, Bogislaw riß mit Aufbietung all seiner Kraft das rechte Sattelpferd, das er bestiegen, zurück und drängte das Gespann nach Links – so flogen sie davon dem Rufen und Läuten entgegen, ohne daß Einer von dem schrecklichen Schicksal des jungen Postillons Kunde nehmen konnte; wenige Augenblicke darauf war das Läuten vor ihnen –

»Paßt auf, Brüder,« rief der Menonit, »der Graben kommt – hopp!«

Er setzte mit seinem Pferde hinüber, Iwan folgte – dann der Jämschtschik mit dem Dreigespann – ein Ruck, Angstgekreisch, – der Wagen stürzte um, aber war glücklich über den rettenden Graben, den die Hirten zur Sicherung ihres Tabuns gegen das Feuer aufgeworfen.

Die Voransprengenden hatten jenseits desselben noch den jungen Kosacken Olis gesehen, wie er eifrig eine kleine Glocke schwang, die zum Herbeirufen der Heerden zu dienen schien, und neben ihm eine hohe Greisengestalt in wildem Costüm, theilnahmlos die Arme übereinander geschlagen und den Anstrengungen des jungen Mannes zuschauend.

Im nächsten Augenblick waren Alle – mit Ausnahme des seltsamen Greises – um den umgefallenen Wagen beschäftigt, um den Insitzenden herauszuhelfen. Der Oberst war der Erste, der durch die geöffnete Thür sich herausschwang, sein kranker Arm schmerzte ihn durch den Stoß heftig und schien auf's Neue beschädigt. Er rief nach seinem Leibdiener und befahl, sogleich aus[256] dem geretteten Gepäck ein Arzneinecessaire zu suchen, während die Damen herausgehoben, in her Nähe eines gegen die Hitze verdeckten Brunnens niedergesetzt und von den beiden jüngeren Offizieren mit Wasser benetzt wurden. Gräfin Wanda, die erst bei dem Todesruf des Jämschtschiks die während, der ganzen furchtbaren Scene bewahrte Fassung verloren und ohnmächtig geworden, erholte sich zuerst und leistete nun mit dem Kammermädchen der Französin Hilfe.

Sie schlug die Augen auf, – ihr erster Blick fiel auf den jungen Fürsten, den sie auf dem Ball des General-Consuls von Meusebach sich hatte vorstellen lassen, und der sie mit sichtlichem Interesse betrachtete

Eine dunkle Röthe – bei der Erinnerung an Worte, die sie in der Todesangst ausgestoßen – überzog das Gesicht der ehemaligen Lorette.

Während diese kurze Erkennungsscene unter der Gruppe der vornehmen Reisenden spielte, die sich so eigenthümlich zusammengefunden, war ein noch seltsamerer Auftritt unfern von ihnen vorgegangen.

Der Tabuntschik hatte sich von der zahlreichen, so plötzlich auf sein Gebiet eingedrungenen Gesellschaft zurückgezogen. Die Scene umher gewährte einen eigenthümlichen Anblick. Obschon das Feuer, so schnell wie es gekommen, sich nach dem raschen Verzehren des trockenen Grases entfernte und den Tabun – die Niederlassung der Roßhirten – ganz unberührt, gelassen hatte, da derselbe – auf der einen Seite durch die tiefe, jähe Regenschlucht, auf der andern durch einen von den Hirten aufgeworfenen und mit befeuchteter Erde abgedämmten Graben gesichert worden, so sah man doch an einzelnen, dichter mit Gestrüpp bewachsenen Stellen in der Nähe noch immer die Flammen emporschlagen, und Rauchwolken ballten sich über die freigebliebene und abgebrannte Stätte hin. Wo sie sich öffneten, sah man große Heerden Viehes – Pferde und Schaafe dicht zusammengedrängt auf der gesicherten Oase, von den Hirten oder den Knechten des Tabuntschiks bewacht, und ein eigenthümliches Schauspiel gewährte es, als diese jetzt zwischen den Schaafen zwei Wölfe hervorzerrten, die sich in der Angst vor dem Feuer unter die Heerden schmiegsam verkrochen hatten, und die sonst so gefährlichen Bestien ohne Widerstand todtschlugen.

Der Tabuntschik stand in der Nähe seiner Semlanke – der kaum mannshoch aus dem Boden hervorragenden, größtentheils[257] in diesen gegrabenen aber geräumigen Hütte, – deren Dach nach beiden Seiten hin in den Rasen selbst auslief. Er war eine hagere aber kräftige Gestalt, fast nur Sehnen und Muskeln, das von einem weißen krausen Bart umgebene Antlitz lederfarben geworden von der Gluth der Sonne und den eisigen Wettern des Winters. Ein dunkles unruhiges Auge lag unter den buschigen Brauen, die linke Wange zeigte eine tiefe querüber laufende Narbe. Die ungebeugte kräftige Haltung, durch den fortwährenden Aufenthalt im Freien, die Art seiner Beschäftigung und die einfache Nahrung über die gewöhnliche Zeit des Menschen hinausgebracht, ließ das Alter des Mannes nicht erkennen, dennoch mußte es hoch und selbst über die Jahre des greisen Kosacken reichen. Er war ganz in gegerbtes Fohlenleder gekleidet; eine eng anschließende Jacke, Beinkleider, an denen die Haarseite nach außerhalb gekehrt war, und derbe hochhinaufreichende Stiefeln von Roßleder mit starken Sporen bildeten seine Tracht. Eine lederne Kaputze mit eingeschnittenen Öffnungen für Augen, Ohren und Mund hing ihm über den Nacken; in dem breiten Gürtel, auf den er die Hand stützte, staken ein kurzes Beil und verschiedene Zangen, Werkzeuge und Büchsen, die er in seinem Beruf als Besitzer großer Roßheerden brauchte; die Hand hielt die derbe kantschuhartig geflochtene Peitsche.

Der alte Kosack, der um die Geretteten genug Personen beschäftigt sah, hatte sich von ihnen gewandt und näherte sich dem einsam stehenden Tabuntschik.

»Die Heiligen mögen Dich segnen, Väterchen. Wir sind gekommen, bei Dir Hilfe und ein Nachtlager zu suchen, Du wirst uns nicht von Dir weisen.«

»Ich lade Niemand zu mir,« sagte finster der Roßhirt, »doch weigere ich auch Niemand mein Brod und Salz. Du bist mein Gast. – Weshalb starrst Du mich so an, alter Mann?«

Das Tageslicht war zwar dem Erlöschen nahe, aber seine letzten Strahlen brachen eben noch scharf durch die sich theilenden Rauchnebel und fielen auf das Antlitz des greifen Roßhirten.

Der Ataman sprang auf ihn zu und faßte seinen Arm:

»Dies Gesicht kenne ich und wenn es Methusalem's Alter hätte – schau' diese Narbe auf meinem Gesicht an, Kaisermörder, und erinnere Dich an die Nacht des 23. März!«

Seine Rechte faßte nach der Pistole in seinem Gürtel.[258]

Das Antlitz des alten Tabuntschik war fast schwarz geworden, seine tiefliegenden Augen schienen Blitze zu schießen.

»Tschort w twaju Duschu!7 Du bist verrückt.«

»So wahr die Heiligen an meinem Sterbelager stehen und die finstern Geister verscheuchen mögen – ich kenne Dich, Fürst Michael, und Gott der Herr hat dem armen Kosacken der Steppe das Leben erhalten, um noch an der Pforte des Grabes seinen Todfeind zu finden.«

Der Tabuntschik lächelte blos verächtlich.

»Lege den Finger auf Deine eigene Wange und Du wirst das Zeichen finden, mit dem der Degen des Czaren Dich gebrandmarkt. Du mußt sterben von meiner Hand!«

Er zog den Hahn des Pistols – doch die Hand des Roßhirten drückte es jetzt zur Seite:

»Ich weiß nicht, wer Du bist und welchen Anspruch Du an mich hast,« sagte derselbe finster. »Aber bedenke, daß Du mein Gast bist und ich Dein Wirth, und Fluch auf den Russen, der die heilige Sitte der Väter verletzt. Wenn die erste Stunde eines neuen Tages da ist, wirst Du, ein Greis wie ich, mich über der Gränze dieses Tabuns finden, bereit, Dir Rede zu stehen.«

Er wandte sich unerschüttert von ihm und verschwand in die Semlanke.

Der alte Kosack blieb in tiefem Sinnen, auf seinen Säbel gestützt, zurück.

1

Postillon.

2

21. Juli 1774.

3

Roßhirt, Heerdenbesitzer.

4

Tölpel, Narr.

5

Station.

6

Historischen.

7

Der Teufel in Deine Seele!

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 3, Berlin 1856, S. 239-259.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wette, Adelheid

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon