III. Lagerbilder. Die Engländer.

[231] Mit dem Orkan am 14. November hatten die furchtbaren Leiden der englischen Armee vor Sebastopol begonnen. Der wolkenbruchartige Regen hatte dazu die ganze Gegend von Balaclawa bis zur Front in einen Sumpf verwandelt und die Verwüstungen, die er angerichtet, waren über alle Beschreibung. Von sämtlichen ohnehin äußerst schlecht construirten Zelten blieben nur drei im ganzen Lager stehen, – der Sturm war so heftig, daß er ganze Gefährte umwarf, Tische und Balken fortschleuderte, daß sich die Menschen am Boden festhalten mußten, um nicht fortgerissen zu werden, und daß die Soldaten verzweifelt danach riefen, zum Sturm gegen die russischen Batterieen geführt zu werden, weil sie wenigsten durch die Kartätschen umkommen wollten und nicht durch den Orkan. Die fliegenden Lazarethe, welche die mehr als jämmerliche Sanitätsverwaltung in Zelten eingerichtet hatte, wurden in den ersten Stunden schon zerstört, der Sturm brach die Stützen, riß die Zeltdecken fort und die Kranken wälzten sich in dem fußhohen Schlamm, überströmt von dem Regen. Stabsoffiziere und Gemeine krochen mit den notdürftigsten Kleidungsstücken, die sie aus der umherwirbelnden Zerstörung gerettet, in den Schutz von Hügeln,[231] Erdwürfen und Feldmauern; selbst die kommandirenden Generale unterlagen dem allgemeinen Elend, Lord Lucan z.B., der Befehlshaber der Kavallerie, mußte stundenlang bis an die Kniee im Schlamme zwischen den Trümmern seiner Hütte sitzen. Gegen Mittag war Schneegestöber eingetreten und die Berge ringsum waren bald in eine weiße Decke gehüllt. Viele Soldaten fand man am Morgen vor Kälte und Nässe umgekommen. Mitten in der Nacht – während aller Schrecken der Natur – überbrüllte eine furchtbare Kanonade von den Batterieen Sebastopols die Wuth des Sturmes, und die Bomben zischten und prasselten in weiten Bogen durch die zürnenden Lüfte.

Aber die schwersten Folgen des Orkans kamen erst nach. Während in der Kamiesch-Bucht, dem französischen Ausschiffungpunkt, unter der Kriegs- und Transportmarine die größte Ordnung herrschte, war in Balaclawa eine Verwirrung und Willkür, wie sie keine Feder beschreiben kann. Eine große Anzahl von Transportschiffen, mit Lebensmitteln, Fourage und Lagerbedürfnissen belastet, hatte auf Befehl draußen vor dem Hafen auf einem felsigen Meeresgrund von 35–40 Faden Tiefe vor Anker geben müssen, von 1200 Fuß hohen Felsen umgeben, obgleich es bekannt war, daß die Rhede in dieser Jahreszeit heftigen Stürmen ausgesetzt ist. Bei dem Orkan gingen diese Schiffe mit vielen Mannschaften elendiglich unter, sie zerschellten an den fürchterlichen Klippen, deren Anblick allein schon das Herz des kühnsten Seemanns mit Entsetzen füllen kann. Dadurch entstand Mangel an Lebensmitteln und Fourage. Man hatte überdies versäumt, den Weg von Balaclawa nach dem Lager während der trockenen Witterung auszubessern, und er befand sich jetzt durch das Regen- und Schneewetter in einem Zustande, daß er einer tiefen Kloake glich und der Transport fast unmöglich wurde.

In der Nacht des 28. November war überdies die Cholera ausgebrochen und ihre Verheerungen steigerten sich von Tage zu Tage. Schon zu Anfang December starben im englischen Lager durchschnittlich täglich 80 bis 90 Menschen. Außerdem wütheten der Scorbut und böse Fieber. Von den 20 Schiffslieutenants der Marine-Brigade konnten am 1. December nur noch fünf Dienste thun. – – –

Es war am Nachmittag des 13. Januar. – Die vor den englischen Linien gegen den Malachof angelegten Schützengruben waren mit Scharfschützen von verschiedenen Regimentern besetzt. Jede der Gruben, mehr als 100 Schritte vor den äußersten Linien, faßte 10 Mann incl. eines Offiziers und war für beide Parteien eine der gefährlichsten Waffen. Sie bildeten förmlich vorgeschobene Redouten, verlorene Posten, allnächtlich den Angriffen des Feindes ausgesetzt, aus denen aber während des Tages durch die Lücken der den Rand umgebenden Erdsäcke ein scharfes Büchsenfeuer auf Alles unterhalten wurde, was sich außerhalb des Schutzes der[232] Wälle oder der Laufgräben sehen ließ. Wer den Kopf über die Brüstung neugierig erhob, konnte sicher sein, im nächsten Augenblick ein halbes Dutzend Kugeln um seine Ohren pfeifen zu hören, wenn er sie überhaupt noch hören konnte.

Die Mannschaften in den Laufgräben wurden nur alle 24 Stunden abgelöst und die Schwäche der englischen Armee war bereits so groß, daß die Soldaten wöchentlich drei bis vier Mal diesen anstrengenden Dienst hatten. Eben so erfolgte die Ablösung in den Gruben nur alle 24 Stunden und jedes Mal bei Nacht, da während des Tageslichts die Batterieen des Feindes das Terrain nach allen Richtungen bestrichen.

Wir führen den Leser in das Innere einer solchen Grube, um ihm eine Probe zu geben von den furchtbaren Schrecken, welche die englische Armee nicht decimirten, sondern bereits fast vernichtet hatten.

Ein Offizier vom 95. Regiment, der uns bereits bekannt ist, jetzt in Folge der Inkermann – Schlacht Capitain Stuart, befand sich in der mittleren Grube. Außer ihm waren ein Fähnrich und sieben Mann darin, – der Zehnte fehlte, man hatte seine Leiche vor einer Stunde über den kleinen Erdwall geworfen, der die gefährliche Stellung gegen den Feind hin decken sollte.

In dem engen Raum herrschten Elend und Noth in vollem Maaße. Es gehörte ein scharfes Auge damals dazu, die britischen Offiziere von ihren Untergebenen zu unterscheiden. Eine rothe Uniform war fast nur noch bei den fortwährend eintreffenden und dennoch die Lücken nur spärlich füllenden Ersatzmannschaften zu erblicken und bald genug war ihr Glanz im Schlamm und Koth verschwunden. Der junge Mann, der neben dem Capitain auf einem Stein kauerte, die Füße bis über die Knöchel in dem Schlamm und Schneewasser, das den Boden der Grube bedeckte, trug freilich noch eine solche unter dem Soldatenmantel, aber eine alte Pelzmütze von tatarischer Form, die ihm sein entfernter Verwandter Stuart geliehen, hüllte bereits den Kopf ein. Darunter sah ein feines aristokratisches Gesicht hervor; – der arme Bursche, der neue Fähnrich der Compagnie, der O'Malley's Stelle eingenommen, war der jüngere Sohn eines englischen Peers und im Glanz des Reichthums erzogen, bis ihn der Familiengebrauch mit 50 Pfund Zuschuß hinausstieß in die Welt und Alles für ihn gethan zu haben glaubte, indem er ihm eine Offiziersstelle in einem Infanterie-Regiment kaufte. Fähnrich Ellisdale war erst vor sechs Tagen mit den letzten Ersatzmannschaften eingetroffen und sein Traum von Ruhm und Ehre war in der kurzen Frist bereits kläglich zusammengeschmolzen.

Sein älterer Vetter, in dessen Compagnie er glücklicher Weise gekommen, war als bewährter Soldat besser geschützt gegen die Kälte und Nässe. Hohe Matrosenstiefel, damals ein sehr gesuchter Artikel und in Balaclawa mit dem fünffachen Preise bezahlt,[233] reichten bis über die Mitte der Schenkel. Ein tatarischer zerrissener Pelz, starrend von Schmuz und Fett, von dem übergeschnallten Säbelgurt zusammengehalten, bildete die Hauptbekleidung, während die Mütze mit einem dicken rothen Tuch umwunden worden. Ähnlich waren die meisten Soldaten bekleidet, – Flicken von allen möglichen Farben und Stoffen zierten als Ausbesserung Jacke und Beinkleider, – drei von den armen Teufeln aber hatten ein jämmerliches zerrissenes Schuhzeug, und die Lappen und Binden, mit denen sie ihre Knöchel und Füße umwunden, waren nur geringer Schutz gegen die Feuchtigkeit und Kälte.

Aber noch nicht genug dieses Elends, – auch Krankheit und Schmerz herrschten in der schrecklichen Höhle. Der eine der Soldaten litt fürchterlich an der rothen Ruhr, einem andern hatte eine russische Büchsenkugel den linken Arm zerschmettert, als er unvorsichtiger Weise beim Zielen ihn über die Deckung hinausgestreckt. An wundärztliche Hilfe war nicht zu denken, bevor die Ablösung in der Nacht erfolgt war. Der Capitain hatte den armen Menschen, so gut es gehen wollte, verbunden, aber das schmerzliche Stöhnen des Mannes unterbrach oft das Gespräch der Andern, das mit der Gleichgültigkeit geführt wurde, zu welcher die unbeschreiblichen Beschwerden bereits gegen die Leiden des Nächsten fast jedes Herz verhärtet. An der einen Ecke der Brustwehr, den Kopf hinter derselben verborgen und das Minié-Gewehr durch eine Öffnung im Anschlag stand der Soldat, an welchem die Reihe des Postens war, während an der andern kaum 6 Fuß entfernten Seite Mick der Irländer, der wackere und heitere Diener des frühern Führers der Compagnie, die Spähwache hielt nach dem Artilleriefeuer der Russen.

Capitain Stuart führte die Aufsicht über die drei Schützengruben, die vor diesem Punkt der englischen Linien angelegt waren und hatte ein kurzes Schneegestöber um Mittag benutzt, um, auf dem Bauch fortkriechend, von seinem Standpunkt in der mittelsten die zur rechten Seite zu besuchen. Das rasche Aufhören des Schnees und das scharfe Feuer der Feinde fesselten ihn jetzt in dieser.

»So haben Sie also Cavendish gesehen, Ellisdale,« sagte er, die kurze Pfeife aus dem Munde nehmend und im Gespräch fortfahrend, »wie geht es dem Burschen?«

»Um vieles besser, als da Sie ihn selbst besuchten, Vetter. Die Wunde in der Brust ist geschlossen, das russische Bajonet hat keinen der edlen Theile verletzt und er hofft in höchstens vier Wochen wieder beim Regiment zu sein.«

»Beim Regiment – er wird sich verteufelt wundern, was davon noch übrig ist. Mickey und ich und drei oder vier Andere sind so ziemlich Alles, was Inkermann, die Cholera und die Kälte von der Compagnie im Dienst gelassen haben, die in jener höllischen Redoute unter dem tapfern Armstrong focht.«[234]

»O Akushla, mein Liebling,« warf Mickey ein, »es ist brav von Ihnen, Capitain, wenn Sie auch nur ein Schotte sind, daß Sie so gut sprechen von meinem seligen Herrn. Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht, daß ich ihn um vier Schillinge betrog bei dem Verkauf der Rumflasche in jener gesegneten Nacht.«

»Ich sah, wie Du ihn aus dem Kampfe trugst, Bursche, und das wiegt manche Deiner Sünden auf,« sagte gutmüthig der Offizier. »Es ist mir lieb, daß Cavendish davonkommt, da ich jetzt nicht mehr auf seinen Tod zu warten brauche, um meinen Rang zu erhalten; außerdem kann der Bursche uns jetzt seine famose Tigergeschichte zu Ende erzählen. Aber wie gesagt, er wird sich wundern, obschon es dem 95. nicht allein so gegangen. Das 63. Regiment hatte gestern noch 7 Mann diensttüchtig und Goldies 46. noch 30. Die schottischen Garde – Füsiliere, die 1562 Mann stark nach der Krim kamen, zählen jetzt einschließlich der Offiziersbedienten und Corporale noch 210 Mann, – und in den meisten Brigaden steht es eben so1

»Es sind 12 Regimenter seit vierzehn Tagen eingetroffen, drei von Corfu, eins aus Athen, drei von Malta, das 17., 39. und 89. von Gibraltar und zwei aus England, Sir,« sagte ein Corporal, »ich hörte es gestern in Balaclawa, als ich mit dem Fähnrich dort war.«

»Ja, aber sie werden kaum ausreichen, den Ausfall der Divisionen zu ergänzen. Der Lord hat, nach dem vorgestrigen Tagesbefehl, ihre Zahl ohnehin schon auf vier außer der leichten reduciren müssen. Doch erzählen Sie mir, Lionel, wie es Ihnen in Balaclawa ergangen ist. Der Major beklagt sich, daß Sie kaum ein Drittheil des Proviants mitgebracht.«

»Eine Kugel aus der dritten Schießscharte.« schrie Mickey dazwischen. »Muscha – sie zielten wahrhaftig hierher!«

»Rechts oder links vorbei, Bill,« sagte der Corporal zu seinem Nachbar, »es gilt eine Pfeife Taback!«

»Grade aus über den Kopf!« rief ein Anderer. In demselben Augenblick duckten Mick und der wachhaltende Schütze in die Grube nieder und zugleich überschüttete die in den niedern Erdwall einschlagende und über ihre Köpfe hin ricochettirende Vollkugel die ganze Gesellschaft mit einer Menge Erde und Schlamm.

»Damned! – Du hast wahrhaftig Glück,« sagte ruhig der Verlierende, »es ist wirklich meine letzte Pfeife.«

»Sie stehen in der Blendung so dicht wie die Sperlinge,« schrie der Irländer, schon wieder auf seinem Posten; »schieß, Jenkins, mein Junge! Eine Kugel für den Burschen, der so toll wie ein Märzhase auf der Brüstung steht!«

Der Schuß krachte bereits. Mick, als er den russischen Offizier fallen sah, hob sich mit halbem Leibe über den Grubenrand[235] und schwang jubelnd die Mütze. Aber sogleich riß eine Kugel aus dem nächsten russischen Versteck sie ihm aus der Hand, als Lection für die eigene Unvorsichtigkeit. Zugleich brachte von der andern Seite her ein ziemlich derber Rippenstoß des Capitains, verbunden mit einer wenig verbindlichen Verwünschung, ihn zur Ruhe. Beschämt und ziemlich trübselig beschaute der Irländer seine Hand. »Heiliger Patrik!« sagte er ärgerlich, »eine so schöne Kappe! ich habe sie Lieutenant Egerton vom Kopf genommen, als er am letzten gesegneten Freitag im Laufgraben von der Bombe zerrissen wurde und hätte sie mein Leben lang tragen können. Das hat man davon, wenn man sich darüber freut, daß so ein russischer Spitzbube an einer ehrlichen Kugel stirbt, statt an seinen verdammten Fiebern zu krepiren!« Die Andern lachten ihn aus, während der Kranke in seinem Winkel noch jämmerlicher stöhnte, und Mick kraute sich in den Haaren, deren dicke Wirrniß ihm ziemlich die verlorene Kopfbedeckung ersetzte.

Stuart wiederholte seine Frage nach Balaclawa, hauptsächlich um den jungen Mann, dessen Körper und Seelenkräfte sichtbar unterlagen, von seinem Brüten abzuziehen.

»Der Teufel hole das Nest, das eine wahre Hölle ist, und den Weg dahin,« sagte der Angeredete. »Dieser Weg ist Nichts, als ein Sumpf, in den mich Ihr elender Gaul nicht weniger als drei Mal warf, daß ich von oben bis unten mit einer faustdicken Kruste bedeckt war. Gott! wenn mich Cousine Ella oder auch nur die Gräfin, meine Mutter, in dem Aufzuge gesehen hätte – sie wären des Todes geworden. Pferdeleichen am Rande dieses Tümpels alle zwanzig Schritt weit. Viele Thiere so erschöpft, daß sie unterwegs zu Boden fallen und die Rationen, welche sie schleppen, vollends ungenießbar werden.«

»Goddam!« warf der Capitain ein, »es fallen täglich an fünfzig Stück; es sollen keine dreihundert dienstbare Pferde mehr im ganzen Lager sein!«

»Menschen wateten und stolperten durch diesen Schlamm uns entgegen, oder setzten sich mit furchtbaren Flüchen auf einen hervorragenden Stein, Bilder von Schmutz und unaussprechlichem Jammer. Siechthum und Entbehrung fast in allen Gesichtern – manche der unglücklichen Soldaten sah ich, bei denen die Krankheit eben zum Ausbruch gekommen, in ihren Leiden am Rande des Weges sich winden – ohne Hilfe, denn Jeder denkt hier nur an sich selbst. Dazwischen eine Escorte mit dem halb durchweichten Schiffszwieback beladen, das hier fast die einzige Nahrung scheint; – Männer, die man eher für Straßenräuber nach ihrem Aussehen halten sollte, als für britische Offiziere, auf einem rattenschwänzigen Pony, mit Reihen von Zwiebeln oder einem Sack Kartoffeln und ranzigen Würsten behängt, vorn auf dem Sattel ein Paar magere Hühner oder ein Stück Salzfleisch – über das[236] Alles ein Regen, der bis auf das Mark der Knochen erkältet und nur aufhört, um sich in stechenden Hagel zu verwandeln.«

»Ich weiß es, der Weg ist furchtbar!« meinte der Capitain; »es war schon im December unmöglich, nachdem man seine Ausbesserung versäumt, die Hütten für das Lager herauf zu transportiren. Alles Gefähr wurde ohnehin damals für die Kanonen und die Munition in Beschlag genommen, statt Magazine im Lager anzulegen, und man bekümmert sich den Teufel darum, was aus den Soldaten würde. Der Lord sitzt in seiner warmen Hütte wochenlang beim Schachspiel und denkt nicht daran, durch die Laufgräben zu kriechen, wie Canrobert thun soll. Sie wollen eine Eisenbahn bauen, wie ich höre, aber sie wird fertig werden, wenn die Armee erfroren und verhungert ist. Doch erzählen Sie von Balaclawa und wie es kam, daß Sie so wenig zurückbrachten.«

Der Fähnrich schauderte. – »Mir ist so unwohl – die Kälte dringt mir ordentlich an's Herz. Wenn ich nur einen einzigen Schluck Rum hätte!«

Der Capitain schüttelte vergeblich seine Flasche. – »Ich gab den letzten Tropfen an Mac-Mahon, den kranken Sergeanten, der dort in der Grube links mit sechs Andern liegt. Warum brachten Sie auch nicht wenigstens ein Fäßchen von dem schlechten Commissariatszeug?«

»Wir hatten drei Faß bei uns und ich trug selbst eins mit an der Stange,« klagte der junge Offizier, »da ein betrunkener Matrose Ihr Pferd gestohlen und damit auf und davon galoppirt war. Den Corporal hatte ich nach dem Matrosenlager geschickt, weil mir gesagt worden, daß alle verschwundenen Pferde dort anzutreffen sind. Wir legten es einen Augenblick nieder, als die Axe an der Karre brach, auf der die Brotsäcke und die anderen Fässer lagen, um Hilfe zu holen, und ich sprach die Zuaven darum an, die an der Marschlinie Wache halten. Der Teufel hole sie! Wie das Rudel Aasgeier, die rings umher auf den todten Pferden und Ochsen saßen, fielen sie über die Karre her, im Nu waren die Brotsäcke zerschnitten, die Zwiebeln gestohlen, die Fässer aufgeschlagen und der Rum vertheilt. Nur das Fäßchen, das ich selbst für die Compagnie mitgeschleppt und auf das ich mich zum Schutz setzte, konnte ich retten. Nicht einmal das Holz an der Karre ließen sie uns; die Halunken meinten spöttisch, sie brauchten es, um den Grogk dabei zu kochen, mit dem sie auf unsere Gesundheit trinken wollten.«

»Ja, ja – es sind prächtige Kerle, unsere Freunde, die Zuaven – immer lustig, gesund und wohlgenährt, ob von Katzenfleisch oder von englischem Speck, ist ihnen gleich. Aber verteufelte Spitzbuben sind die Burschen. General Bosquet lieh uns neulich ein halbes Regiment von ihnen und 500 Pferde und Maulthiere, um Munition und Mundvorrath herauszuschaffen, und wahrhaftig! die Sacrés arbeiteten wie die Bären trotz aller Tollheiten A propos[237] – haben Sie schon gehört, Vetter, wie wir um 200 Maulthiere gekommen sind, die wir in Varna gelassen und mit dem ›Jason‹ erwarteten?«

»Nein, es ist mir auch gleich, da sie doch nicht da sind und wir ihre Stelle vertreten müssen.«

»Hören Sie zu, mein guter Gesell, es wird Sie wenigstens zerstreuen. Man muß sagen, unsere Verbündeten, die Türken, haben eine eigenthümliche Art, ihre Rechnungen zu schließen. Der ›Jason‹ brachte also am 30. nur 100 Pferde und Maulthiere, von denen mehr als die Hälfte schon wieder den Hunden und Geiern zur Nahrung dienen, und einen dicken Türken, unter dessen Obhut sie in Varna zurückgelassen worden. Als er auf das Commissariat kam, trugen zwei Männer einen großen Sack ihm nach ›Von den Dreihundert, die Du mir anvertraut,‹ sagte der würdige Sohn Mahomeds, ›sind Zweihundert gefallen. Da hast Du den Beweis; zähle nach!‹ – Dazu schütteten die Männer den Sack aus, und 400 Pferde- und Eselsohren lagen vor dem erstaunten Ober – Commissair. Ich hätte das lange Gesicht sehen mögen! Aber ich wette, der ›Mashallah‹ hatte uns über unsere eigenen Ohren gehauen und in Varna die von allem krepirten Vieh für einige Piaster zusammengekauft.«

»Stop, Capitain! Der whistling Dick kommt!«

Der »pfeifende Dick« war der Beiname, den die englischen Soldaten kolossalen Kugeln von 16 Zoll im Durchmesser gegeben hatten, die 18 Pfund Pulver enthielten und aus einem bestimmten Mörser von einem Floß im Binnenhafen geschleudert wurden. Sie hatten bei ihrem Niederstürzen eine Kraft von wohl 500 Centnern und verbreiteten Tod und Verstümmelung rings um sich her.

Man hörte deutlich das Pfeifen der Bombe, wie sie näher kam, ihr Aufschmettern in dem Boden und dann ihr Zerplatzen. Alle in der Schützengrube hatten sich unwillkürlich so tief als möglich niedergebeugt.

»Der Henker hole das Ungethüm, wo es hinschlägt, wächst kein Gras mehr. Fahren Sie fort, Vetter, in Ihrem Berichte. Sie werden sich doch wenigstens das Rumfaß nicht unter'm Leibe haben wegstehlen lassen? Dennoch sitzen wir hier im Trocknen.«

»An Versuchen fehlte es nicht, – indeß ich zeigte den Burschen meinen Revolver, und später kam ein französischer Offizier dazu, bei dessen Anblick sie verschwanden, als hätte die Erde sie aufgenommen. Als ich aber in's Lager kam und meinen Unfall rapportirte, meinte Oberst Yea, es sei billig, daß unser Bataillon den Verlust trüge, und confiscirte das Faß zur Theilung an die beiden anderen.«

»Das ist fatal und gegen den alten Burschen läßt sich keine Einrede wagen. Seit man ihn für die Alma und Inkermann schmählicherweise bei der Beförderung übergangen, obschon er der[238] Klügste und Tapferste in der ganzen Armee war, ist ohnehin kein Auskommen mit ihm. Wie fanden Sie es in Balaclawa selbst?«

»Sehen Sie Dante's Aufschrift zur Hölle darüber, und Sie behandeln das Nest noch unverantwortlich gut. Keine Worte können seinen Schmuz, seine Greuel, seine Hospitäler, die Begräbnißstätten, die todten und sterbenden Türken, die vollgedrängten Gassen, die stinkenden Schuppen, die ganze säuische Umgebung und den Verfall beschreiben. Alle von Pest und Seuche entworfenen Schilderungen, von der Bibel an bis zu Boccac, Defoë und Moltke, erreichen noch lange nicht die einzelnen Bilder von Seuche und Tod, die man auf einem einzigen Gange durch Balaclawa dutzendweise sieht. Die sterbenden Türken haben jedes Gäßchen und jede Straße zu einer Cloake gemacht, und die schrecklichsten Formen des menschlichen Jammers, die in der ersten Stunde das Herz erschüttern, lassen bald gleichgültig, da man ihnen auf jedem Schritt begegnet. Ich hob die Bastdecke, die vor dem Thorweg einer elenden Hütte hing, in welcher ich Jammer und Stöhnen und Gebete zum Propheten hörte, und sah auf einer Stelle und in einem Augenblick eine Anhäufung von Leiden und Greueln, die mein ganzes Leben lang meine Träume vergiften wird. Die Leichen lagen noch auf derselben Stelle, wo die Unglücklichen gestorben waren, mitten unter den Lebenden, und die Letzteren boten einen über alle Vorstellungen der Phantasie gehenden Anblick. Die gewöhnlichsten Einrichtungen eines Hospitals fehlen, der Gestank ist entsetzlich – die faule Luft findet nur durch die Ritzen in Wänden und Dächern Abzug, durch die der Regen und Wind seinen freien Einzug erhält, und so weit ich beobachten konnte, sterben diese Menschen hier, ohne daß man den geringsten Versuch macht, sie zu retten2

»Sie waren in unserm eigenen Lazareth – wie fanden Sie es dort?«

»Nicht besser, als in den fliegenden Baracken, die man zu gleichem Zweck im Lager hält. Ich sprach mit Cavendish darüber, die Ärzte sind Dummköpfe oder reichen nicht aus.«

»Wir kennen das. An der Alma fanden sich Chirurgen, die in ihrem Leben noch keine Arterie unterbunden hatten und einen armen Teufel als unheilbar verbluten ließen, der einfach durch den Arm geschossen war.«

»Die Luft ist auch hier verpestet,« erzählte der Fähnrich weiter; »nicht einmal hinreichend Stroh war vorhanden und die Commissaire weigerten sich, neue Verband- und Medicinvorräthe herauszugeben, obschon ein Transportschiff im Hafen sie an Bord hatte, blos weil das Sanitäts – Departement in London noch keine Ordre dazu gegeben hat.«

»Verdammt sei das schändliche System in unserer Armee!«[239] meinte der Schotte. »Diese Legion von Protokollen und Schreibereien lastet wie ein Fluch auf uns. Da haben wir das Zeugamts-Departement, das Sanitäts – Departement, das Commissariats-Departement und das eigentliche Militair – Departement, und alle diese Departements haben ihre eigenen Chefs und keines kümmert sich um das andere, sondern geht seinen Schlendrian fort.«

»In der That, es geht toll und verrückt her auf den Werften, wenn man diese Kothberge so nennen mag. Capitain Keen von den Ingenieuren hat 4000 Tons Bretter und Balken zum Hüttenbauen nach Balaclawa gebracht, aber er kann Niemand finden, der sie übernimmt oder aus den Schiffen ausladet. Unterdeß erfrieren unsere Soldaten unter freiem Himmel oder den leichten Zelten. Ein Theil der Vorräthe an Winterkleidern ist mit dem ›Prince‹ auf der Rhede untergegangen, ein Schiff mit Winterkleidern für die Offiziere, wie ich hörte, bei Constantinopel verbrannt. Dennoch wäre immer noch genug vorhanden, wenn man es nur vertheilen wollte. Man hat wochenlang offene Lichterschiffe mit warmen Überröcken und Handschuhen für die Mannschaften im Hafen allem Regen und Schnee preisgegeben, und als man die Sachen an's Land brachte, wollte Niemand sie in Empfang nehmen, ohne durch Befehl ermächtigt zu sein.«

Der Erzähler, dem die Bewohner des traurigen Aufenthalts mit Ingrimm lauschten, machte unwillkürlich eine Pause und preßte die Hände gegen den Leib. Sein Gesicht verzerrte sich und er wand sich einige Augenblicke in heftigem Schmerz, der jedoch zum Glück bald wieder vorüber zu gehen schien, denn er faßte sich gewaltsam und fuhr fort:

»Ich selbst sah auf dem Werft im Regen und Schnee neben den aufgetürmten Kugeln und Bomben Berge von warmen Filzstiefeln, Röcken und anderen Kleidungsstücken, von Brot und Salzfleisch, Theekisten und hundert anderen Dingen. Eine Schildwache stand dabei und man sagte mir, daß sie dort seit zehn Tagen lagerten, während wir hier – keine Stunde davon – Noth an Allem haben.«

»Und erzählten Sie dies dem Obersten Yea?«

»Ich sagte ihm Alles und er schwor, wenn er binnen drei Tagen nicht Proviant und Kleidungsstücke habe, wolle er mit den Schotten nach Balaclawa marschiren und mit dem Bajonnet sich das Seine holen.«

»Bei der Distel von Schottland – er ist der Mann, Wort zu halten.«

»Die Sterblichkeit unter den Türken in Balaclawa und auch unter unseren Leuten ist furchtbar, man trägt die geschwollenen Leichen halb nackend während aller Stunden des Tages durch die Straßen und scharrt sie wenige Zoll tief in große Gruben am Abhang des Hügels – ich sah ihrer in den wenigen Stunden mehr als siebenzig an mir vorüber bringen. Sturm und Regen[240] spülen die leichte Erddecke bald herab und die verwesenden Gebeine der Todten ragen aus den Hügelseiten und verbreiten neues Miasma, und nicht blos während der Nacht halten die Geier und wilden Hunde hier – – –« er unterbrach seine Rede mit einem schmerzlichen Aufschrei und preßte die Hände fest auf den Leib.

»Was ist Ihnen, Lionel? – halten Sie sich wacker, mein armer Bursche, wir haben ja nur noch wenige Stunden in diesem Höllennest auszuhalten.«

Der junge Mann wand sich in bitteren Leiden. – »Ich werde die furchtbare Krankheit bekommen,« stöhnte er, »man wird mich in jene schrecklichen Lazarethe bringen und das ist mein Tod. O, wenn ich nur etwas Warmes erhalten könnte! einen einzigen Becher heißen Kaffee's! – es könnte mich retten.«

Sein Verwandter sah rathlos umher. – »Wir haben wohl Kaffee bei uns, aber keinen Span von Holz, wir müßten denn unsere Büchsenschäfte verbrennen. Armer Junge, das war kein Land für Sie! und solche Burschen schicken sie uns duzendweis.«

Der Irländer hatte mit Theilnahme die Noth seiner Offiziere gesehen. – »Muscha,« sagte er, »das Dings da schaut aus wie eine Axt von einem der Kerle mit den langen Bärten, und das da drüben ist, wenn ich richtige Augen mit auf die Welt gebracht habe, ein umgehauener Baum oder ein Balken von den Schanzgräbern. Holz woll'n wir schon kriegen, Sir, wenn nur der Capitain einen Augenblick meinen Posten einem Andern zutheilen will.« Damit begann er, sein Gewehr zurücklassend, bereits über den Rand der Grube zu klettern.

Capitain Stuart wollte ihn zurückhalten. – »Kerl, Du bist rasend! Du bist durchlöchert wie ein Sieb, ehe Du zwanzig Schritt zurückgelegt hast.«

Aber Mickey war bereits aus der Grube und wackelte langsam und ohne seine Pfeife ausgehen zu lassen, auf den Baum zu, nachdem er mit einer – unbeschreiblichen Geberde nach den russischen Schanzen hin seine Verachtung aller Gefahr ausgedrückt hatte.

»Lassen Sie ihn gewähren, Sir,« sagte der Corporal, »es ist ohnehin zu spät und ich habe oft gesehen, daß Tollheit und Übermuth am besten gegen die Kugeln fest machen. Wir wollen lieber die Burschen auf den Wällen und in den Gruben im Auge behalten.«

In der That erwies es sich so, wie der alte Soldat prophezeiht. Des tollen Irländers Übermuth war sein bester Schutz, denn während er gemächlich begann, einen Vorrath von Spänen abzuhauen, schienen die Russen zuerst ganz erstaunt über dies kalte Blut. Bald genug iedoch knatterte ein bleierner Platzregen um den seltsamen Holzhacker her, der aber noch ganz ruhig eine Zeit lang fortarbeitete. Die Russen, dadurch noch wüthender gemacht, feuerten nun um so leidenschaftlicher, und selbst drei Mal mit einer Kanone, deren Vollkugel kaum zwölf Schritt zur Seite über die[241] Ebene schlug, ohne daß sich Mick deshalb im Geringsten beeilte. Offenbar rettete ihn nur die Leidenschaftlichkeit der Feinde, die sie nicht zum ruhigen Zielen kommen ließ, außerdem aber unterhielten die besten Schützen der seinen und der nächsten Grube, sobald man den kühnen Streich des Mannes bemerkt, ein scharfes Feuer auf Alles, was sich vom Feinde blicken ließ, und Capitain Stuart schoß selbst einen der Kanoniere in der Schießscharte nieder, aus der man die Kanone auf den Irländer gerichtet. Dennoch schützte ihn eben nur der Zufall, während seit diesem bald in der ganzen Armee bekannten Vorgang viele seiner Kameraden den Irländer als kugelfest verschworen.

Der Verwegene sah sich endlich die abgehackten Späne an, schien zu überlegen, ob es genug seien, kauerte dann nieder und sammelte das Holz in seinen großen Feldmantel, latschte zurück durch die ununterbrochenen Salven und sprang unversehrt mit seinem Schatze wieder herab, nachdem er den Russen noch mit der Faust gedroht. Man sah's ihm an, er hatte in seiner echt nationellen Sorglosigkeit keine Vorstellung davon, welcher Gefahr er sich eben ausgesetzt, denn kaum daß er im Schutz der Grube sich befand, traf eine vierte Kanonenkugel des Feindes, der jetzt die Richtung gefunden, den Stamm und zerschmetterte ihn.

In einem kleinen Feldkessel wurde das Feuer angemacht, da der Boden zu naß war, um zur Unterlage zu dienen, und eine große zinnerne, längst geleerte Feldflasche diente dazu, mit den Schneewasser starken Kaffee zu bereiten, wovon lieber nach wiederholten Auflagen seinen Antheil bekam, denn Mickey war fürsorglich gewesen und hatte auch an »etwas Warmes« für sich gedacht. Die Leiden des jungen Offiziers linderten sich, obschon häufig Fieberschauer durch seine ohnehin vor Kälte bebenden Glieder fuhren; dagegen starb bald darauf unter schrecklichen Convulsionen der Soldat, den die Ruhr überfallen. Man hob die Leiche zu seinem Kameraden über den Grubenrand.

Die Schrecknisse und Gefahren der kleinen Besatzung in der Schützengrube sollten mit diesem zweiten Todesfall jedoch noch nicht ihr Ende erreicht haben, obschon bereits der Abend hereinzubrechen begann. Die Russen feuerten jetzt häufig mit Kartätschen über die Fläche, theils um Wagnisse, wie das vorhergegangene, unmöglich zu machen, theils um den Rückzug an den Schützengruben zu verhindern. Dazwischen zischten von Zeit zu Zeit Bomben über ihren Köpfen und schlugen mehrmals unfern von ihnen in den Boden, sich dort im Zerspringen ein trichterförmiges Loch wühlend.

Capitain Stuart sah nach seiner Uhr. – »Ich muß Sie verlassen, Vetter,« sagte er, »und auf alle Gefahr versuchen, die Grube links zu erreichen, um von dort die Signale für die ganze Linie steigen zu lassen, denn verschiedene Anzeichen beweisen mir, daß die Feinde sich bereit machen, bei eingetretener Dunkelheit einen[242] Ausfall zu machen, und wir müssen auf unserer Hut sein. Halten Sie –« er vollendete nicht, denn das Krachen einer einschlagenden großen Bombe unterbrach ihn und ein gellender Angst- und Hilferuf übertönte selbst den Donner der Geschütze.

»Heiliger Patrik – es ist der pfeifende Dick!«

»Wo – wo? – die Kugel muß in die Trancheen gefallen sein.«

»Nein, nein – da links – sehen Sie – die Grube – unsere Kameraden!«

Die Männer hatten sich bereits über den Rand der ihren erhoben, unbekümmert um die Gefahr; – in der Richtung, in der die mittlere Schützengrube lag, wirbelte eine Erd- und Dampfwolke in die Höhe – im Dämmerlicht glaubten sie eine menschliche Gestalt zu schauen, die auf den Rand der Grube emporsprang, zwei Mal mit den Armen wild durch die Luft schlug, im nächsten Augenblick aber in einem aufzischenden Feuerstrahl verschwand – sie meinten die zerrissenen Glieder umherfliegen zu sehen, – ein Krachen, ein Zischen, einzelne Eisenstücke der springenden Bombe flogen durch die Luft – dann war Alles bis auf die Rauchwolke über dem unglücklichen Platz verschwunden und nur ein vereinzeltes Feuer der Geschütze aus den russischen und englischen Batterieen unterbrach in regelmäßigen Intervallen die furchtbare Stille.

Die Männer in der Grube waren zurückgetaumelt in deren Inneres bei dem Anblick, dessen Schrecken die Blitzesschnelle und Undeutlichkeit noch vergrößert hatten. Der Capitain hatte die Augen mit der Hand bedeckt. – »Der Allmächtige sei ihren Seelen gnädig! – sieben wackere Bursche, wie sie die Küsten Englands nur jemals in Kampf und Tod gesandt, sind in einem und demselben Augenblick zur Ewigkeit abberufen.«

»Wie, Capitain,« sagte der Fähnrich, »sie sollten Alle getödtet sein? Vielleicht sind Einzelne nur verwundet – –«

»Die Bombe muß mitten unter sie geschlagen sein, selbst der Mann, der sich trotz des Luftdrucks zu retten versuchte, mußte zu Atomen zerrissen werden. Das Schreckliche kommt glücklicherweise nur selten vor, aber der traurige Fall vor uns ist nicht der einzige und wird nicht der einzige bleiben. Lassen Sie uns ein Vaterunser beten als gute Christen für Sergeant M'Mahon und seine Tapfern, und dann leben Sie wohl, denn die Russen haben eine Pause gemacht mit ihren höllischen Kartätschen und ich muß sie benutzen. – In zwei Stunden werden Sie abgelöst, wenn wir dann noch am Leben sind.«

Es war finster geworden während der letzten Scene und Capitain Stuart schien im Schutz der Dunkelheit glücklich auf seinem Stationsposten angekommen zu sein, denn etwa eine halbe Stunde nach seiner Entfernung, die er größtentheils auf dem Boden fortkriechend bewirkt hatte, sah man von dort eine blaue Leuchtkugel[243] emporsteigen als Zeichen für die Laufgrabenwachen, auf ihrer Hut zu sein.

Die Russen schienen jedoch an Nichts weniger zu denken, als an einen Überfall. Das Feuer war nach und nach schwächer geworden und hatte endlich ganz aufgehört. Der Wind hatte sich nach Süden gewendet und es trat Thauwetter ein. Von den Tschernaja – Höhen und der Nordseite der Festung leuchteten große Wachfeuer, – die öffentlichen Gebäude in der belagerten Stadt schienen illuminirt, selbst in den Batterieen sah man Lichtreihen hin- und herziehen. Und jetzt klang durch die eingetretene Stille majestätisch von der Stadt her, wie in jener Nacht vor Inkermann, das volle Geläut aller Glocken, das die Bewohner und die Besatzung zur Wladimir – Kathedrale und den andern Kirchen der Stadt rief.

Die Engländer wußten sich anfangs die Erscheinung nicht zu erklären, bis der Fähnrich sich erinnerte, daß der gregorianische Kalender um zwölf Tage zurückdatire und die Russen daher an heutigen Abend erst ihr Neujahr feierten.

Der Schein der Freudenfeuer machte einen traurigen Eindruck auf die armen, halb verhungerten und erfrorenen Teufel in den britischen Laufgräben und vorgeschobenen Posten, und sie harrten mürrisch und nur selten ein Wort wechselnd, von Krankheit und Gefahren zum Tode erschöpft, der Ablösung, die nun bald im Schutze der Nacht kommen mußte.

In der That hörte man, als die Zeit herannahte, Tritte – doch das krieggewohnte Ohr des Corporals wollte darin nicht den Schritt der Patrouillen, sondern das compacte Marschiren einer großen Masse erkennen. Der Fähnrich hatte erst bei dem eingetretenen Thauwetter empfunden, daß einer seiner Füße erfroren war und nur mit Mühe bewegt werden konnte. – Mick, der Irländer, spähte für ihn am Rande der Grube.

»So wahr ich im Fegefeuer schwitzen werde, wenn mich nicht irgend eine Seele herausbetet,« sagte der sorglose Bursche. »Ihr habt Unrecht, Corporal. Ich höre deutlich das Kommando von den Laufgräben her kommen und meine Ohren sind groß genug, um so eben ein gesegnetes Goddam zu verstehen.«

»Dann kommt Freund und Feind zugleich,« flüsterte der alte Soldat, »denn von der Bastion her naht eine dunkle Reihe und ich höre ihren Tritt! – Feuer, Kameraden, daß wir die Unsern warnen!« – Er schoß sein Gewehr in die Nacht hinein ab. Ein donnerndes »Urrah« antwortete dem Schuß und verkündete, daß er Recht gehabt. Dann stürmte unter wildem Kampfruf eine breite, festgeschlossene Reihe über die Fläche daher und gegen die Gruben und die erste Linie – – –

1

Offizielle Zahlen.

2

Wir benutzen zu diesen Schilderungen die wörtlichen Berichte der Times, um uns gegen den Vorwurf der Übertreibung zu sichern!

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 4, Berlin 1856, S. 231-244.
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